Alexander Krützfeldt: "Wir sind Cyborgs"

Die Zukunft von Mensch-Maschine-Wesen

Cyborg Neil Harbisson
Cyborg Neil Harbisson. Der britisch-irische Künstler ließ sich ein kybernetisches Gerät implantieren, mit dem er Farben hören kann. © picture alliance / dpa / Foto: Marek Zakrzewski
Von Vera Linß · 29.12.2015
Ein Thermometer im Körper oder ein Magnet im Finger: Cyborgs sind Lebewesen, die durch Technik-Implantate ihre Fähigkeiten erweitern. Der Journalist Alexander Krützfeld hat in dieser Szene recherchiert und prophezeit: Künftig könnte es nur so wimmeln von Cyborgs.
Sie tragen Magneten im Finger, Infrarotsensoren im Ohrläppchen oder kleine Elektrochips im Handrücken. Erscheinen sie auf der Bildfläche, ist ihnen mediale Aufmerksamkeit gewiss. Denn sie gelten als verrückte Außenseiter, besessen davon, ihre Sinne durch Technik zu erweitern. Noch. In naher Zukunft nämlich könnte es nur so wimmeln von Mensch-Maschine-Wesen, glaubt der Journalist Alexander Krützfeldt. "Wir sind Cyborgs" trifft dann vielleicht auf alle Menschen zu.
Mensch mit einoperiertem Thermometer
Klingt absurd, ist es aber nicht. Auch wenn es erst einmal so scheint. Denn am Anfang wird Krützfeld, der sich auf "Grenzgänger-Reportagen in besonderen Milieus" spezialisiert hat, vom Chefredakteur einfach nur auf Recherche geschickt, weil das Thema so exotisch ist. In Detroit besucht er die Grindhouse Cyborg Gang, eine Hacker-Gruppe um den Softwareentwickler Tim Cannon. Der ließ sich 2013 als erster ein Thermometer einoperieren, das per Bluetooth Körpertemperaturen ans Smartphone funkt. Und im Berliner Szenetreff c-base trifft er die Gründer des deutschen Cyborg e.V., die alle damit experimentieren, ihre Körper mit Technik-Implantaten zu verschmelzen.
Viel ist bislang nicht dabei herausgekommen. Jedenfalls "nichts Geiles, was die Menschheit wirklich voranbringt", gesteht eine Software-Entwicklerin dem Journalisten. Zu zeigen, dass dennoch mehr als ein Spleen hinter diesen Selbstversuchen steckt, ist ein Verdienst dieses Buches. Denn Alexander Krützfeld belässt es nicht dabei, die bunte Fassade der sehr überschaubaren Cyborg-Community abzulichten. Kann man Biologie durch Technik überwinden? Können dabei Menschen entstehen, die mit ihren Superkräften Macht über andere ausüben? Sollte jeder seinen Körper mit Implantaten so verändern dürfen, wie er möchte? Und vor allem: Wer setzt die Normen?
Forschung für medizinische Zwecke
Diese Fragen wollen die Cyborgs mit ihren Experimenten nämlich auf die gesellschaftliche Agenda setzen. Denn durch die Digitalisierung wird Technik immer kleiner und kann eines Tages – wie es jetzt schon beim Herzschrittmacher der Fall ist – ohne Risiko in Menschen eingepflanzt werden. Geforscht wird für medizinische Zwecke längst daran, menschliche Sinne technisch zu beeinflussen, schildern Wissenschaftler im Interview mit Alexander Krützfeld. Zum Beispiel um ausgefallene Körperfunktionen zu ersetzen. Wie etwa beim "Brain-to-text-interface", einem Projekt an der Universität Freiburg, bei dem Elektroden Gedanken in geschriebene Sprache übertragen. Auch Farbblindheit lässt sich heute schon überwinden, indem Farben als akustische Signale ans Gehirn übermittelt werden.
Was aber, wenn die Mehrheit damit anfängt, ihre Sinne zu manipulieren zur Leistungssteigerung, als Folge von ökonomischem oder sozialem Druck? Ein Prozess, der schleichend in Gang kommt, wenn große Konzerne ihr kommerzielles Interesse erst einmal entdeckt haben, so die Befürchtung der Cyborgs. Auch wenn Antworten auf diese Fragen (noch) ausbleiben: Sie ins Blickfeld gerückt zu haben, ist ein erster Schritt für eine dringend notwendige Debatte.

Alexander Krützfeldt: "Wir sind Cyborgs. Wie uns Technik unter die Haut geht"
Blumenbar Aufbau-Verlag, Berlin 2015
192 Seiten, 15 Euro
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