Alexander Kluge auf der Berlinale

Interesse am Blick eines Flüchtlings auf Deutschland

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Auf der Berlinale zeigt der Filmemacher Alexander Kluge noch einmal seinen legendären Film "Abschied von gestern" von 1965/66. © picture alliance / dpa - Roland Popp
Alexander Kluge im Gespräch mit Liana von Billerbeck · 17.02.2016
Die filmische Perspektive eines Geflüchteten würde den Regisseur Alexander Kluge sehr interessieren. Ein solcher Blick auf das heutige Deutschland würde vor allem widerspiegeln, wie wenig einheitlich die Bundesrepublik ist.
Der Filmemacher Alexander Kluge könnte sich vorstellen, dass die Sicht eines gebildeten Syrers aus Aleppo, eines Rechtsanwalt mit Familie, auf unser Land interessant sein könnte. "Manchmal warmherzig, manchmal kaltherzig", werde das Urteil vermutlich ausfallen, sagte der Regisseur im Deutschlandradio Kultur. "Das sind alles sehr gemischte Verhältnisse, das würde ihm auffallen." Das wäre ein sehr interessantes "Auge und ein sehr interessanter Moment der Selbstprüfung für uns", sagte Kluge. "Uns mal mit den Blicken von jemand zu sehen, der zu uns flüchtet." Der Regisseur erinnerte daran, dass der deutsche Autorenfilm sich in den 60er-Jahre exzessiv für die Wirklichkeit interessiert habe.

Die Vielfalt des Landes

Angemessen seien heute Bilder, welche die Verschiedenheit Deutschlands zeigten, sagte Kluge. "Wenn sie in Mecklenburg sind, sieht das ganz anders aus als wenn sie in einem Industriegebiet oder um Stuttgart herum filmen." Wenn man in Nordrhein Westfalen drehe, ergäben sich ganz andere Bilder als in Bayern. "Diese Vielfalt unseres Landes, die würde mich als Filmemacher immer interessieren." Sie dürfte gerade für das fremde Auge eines Flüchtlings sehr auffällig sein. "Unsere Bundesrepublik ist überhaupt nichts einheitliches, finde ich was positives."
Der Regisseur des Films "Abschied von gestern" Alexander Kluge (M), der Drehbuchautor Günther Mack (l) und die Schauspielerin Alexandra Kluge (r) in einem Cabrio während des Filmfestivals in Venedig 1966.
Der Film "Abschied von gestern": Regisseur Alexander Kluge (M), Drehbuchautor Günther Mack (l) und Schauspielerin Alexandra Kluge (r) in einem Cabrio© picture-alliance / dpa / Ansa
Auf der Berlinale zeigt der Filmemacher Alexander Kluge in einer Retrospektive noch einmal seinen Film aus dem Jahre 1956/66 "Abschied von Gestern". Die Protagonistin Anita G. ist Kind jüdischer Eltern und Zonenflüchtling und gerät immer wieder in Konflikt mit ihrer Lebenswelt. Der Kluge-Film wagte damals einen Bruch mit Kinokonventionen und gilt heute als wichtiges Werk des Jungen deutschen Films.

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Die Retrospektive der 66. Berlinale beschäftigt sich nicht ganz zufällig und 50 Jahre danach mit dem deutsch-deutschen Kino des Jahres 1966. Unter dem Titel "Filmische Perspektive in Ost und West, Deutschland 1966" wird da ein Querschnitt von DEFA-Filmen und Filmen aus dem Westen gezeigt, darunter auch Alexander Kluges "Abschied von gestern". Kluge ist ja Filmemacher, Produzent, Drehbuchautor, Schriftsteller und Jurist, und er war auch Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests, das in den 60er-Jahren Opas Kino überwinden wollte mit mutigen neuen Stoffen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Alexander Kluge ist im Berlinale-Berlin, um "Abschied von gestern" noch mal dem Publikum zu präsentieren, und bei uns ist er am Telefon. Ich grüße Sie!
Alexander Kluge: Ich grüße Sie!
von Billerbeck: Ihr Film beginnt mit einer Texttafel: "Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage". Herr Kluge, das ist ein Spruch, der damals, aber auch heute aktuell ist, oder?
Kluge: Der ist heute genauso aktuell, ja. Und wenn Sie heute Syrien haben, die Flüchtlingsströme, die dort kommen, wenn Sie den 13. November haben und Paris – das digitale Paris verdunkelt sich. Das sind alles Eindrücke, die sind so stark, wie wir sie uns 1966 nicht hätten vorstellen können. Das heißt, der Abgrund ist größer geworden.
von Billerbeck: Es geht ja in Ihrem Film "Abschied von gestern" um Anita G., die als Kind jüdischer Eltern in der DDR aufgewachsen ist, die dann in den Westen flieht, die einen anderen Beruf ergreift, die Diebstahl begeht. Und durch diese Perspektive, durch diesen Wechsel des Landes wirkt der freie Westen plötzlich wie Feindesland, und Anita ergeht es schlecht. Wie kam es zu diesem Perspektivwechsel?
Kluge: Na ja, das sind jetzt drei Deutschlands, die das junge Mädchen erlebt, und da geht sie wie eine Sonde durch, wie ein Seismograf. Das ist einmal das Dritte Reich, das Land der Eltern, die als Juden ja dort verfolgt werden. Dann werden sie in der DDR als Kapitalisten weiter verfolgt. Und so kommt sie jetzt ausgerüstet in die Bundesrepublik, sucht Wärme, aber die ist dort nicht zu haben. Und so geht ihr Schicksal eben vom Gefängnis in ein anderes Gefängnis.

Es gibt noch Demokratiekontrolleure

von Billerbeck: In dem Film "Abschied von gestern", da habe ich mich auch dran erinnert, da taucht ja für einen kurzen Moment der echte Fritz Bauer auf, also der damalige hessische Generalstaatsanwalt, der ja maßgeblich dafür war, dass es zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen gekommen ist. Und das will schon was heißen für die Bilder, aber eben wahrscheinlich auch für Sie als Filmemacher. Bauer, das war ja so eine Art Demokratieprüfer. Gibt es sie noch, solche Demokratiekontrolleure?
Kluge: Es gibt den Film über Bauer gerade. Die Demokratiekontrolleure gibt es auch noch bei uns, aber nicht mit der Vehemenz, nicht mit der Stärke, auch der charakterlichen Stärke wahrscheinlich. Nun muss ich Ihnen sagen, der Auschwitz-Prozess, der wurde ja geführt seinerzeit. Der ist ohne Bauer nicht denkbar. Und dass der der Hoffnungspol für Anita G. ist, das ist ein Stück, wo der Film mit der Wirklichkeit Berührung hat. So was gibt es heute auch, aber eben nicht in der Intensität dieser Umbruchszeit von '66. Das ist ja die Zeit ein Jahr vor der Protestbewegung, und es ist vier Jahre nach der "Spiegel"-Krise. Das heißt, da formt sich unsere Republik einmal.
von Billerbeck: Und in der DDR war es ein Jahr nach dem 11. Plenum 1965, da haben wir dann die andere Seite dieser Geschichte.
Kluge: Ja, tragisch. Tragisch für Menschen wie Heiner Müller, für die Filmemacher dort. Es hätte dort auch eine Blüte –
von Billerbeck: Deren Filme verboten wurden.
Kluge: Richtig. Es hätte eine Blüte geben können, die Begabungen waren ja zweifellos da.
von Billerbeck: Sie erzählen ja in Ihrem Film nicht linear, Sie erzählen – und das gilt ja für viele Ihrer Werke – in Ellipsen, man könnte sagen, assoziativ. Das ist ja auch ein Resultat des Oberhausener Manifests. Mit dem Blick auf das heutige deutsche Kino, würden Sie sich da wünschen, dass sich junge Filmemacher auch wieder so zusammenschließen, ein Manifest verfassen und danach drehen? Brächte das dem deutschen Kino was, auch ästhetisch und inhaltlich, also frischen Wind?
Kluge: Das brächte bestimmt frischen Wind, und die Erzählweise ist ja im Grunde die der Filmgeschichte. So hat ja der Film angefangen in den Zehner- und Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Das ist das, was wir von Godard abgeguckt haben oder von Eisenstein. Und die Erzählweise macht leicht Brücken zu den wirklichen Verhältnissen, die bleibt nicht im akademischen Filmbereich stecken. Das ist eigentlich das Einzige, was ich Gutes sagen kann über den Autorenfilm der 60er-Jahre, dass er sich für die Wirklichkeit exzessiv interessiert.

Wenn ein Syrer auf Deutschland blickt

von Billerbeck: Lassen Sie uns doch mal über Bilder allgemeiner sprechen, Herr Kluge. In "Abschied von gestern", da geht es ja um eine Frau, wir haben es geschildert, die versucht Fuß zu fassen, anzukommen in diesem Westdeutschland Mitte der Sechziger. Sie haben es vorhin schon erwähnt: Wenn Sie heute einen Film über jemanden machen würden, der hier nach Deutschland kommt, der hier versucht Fuß zu fassen, was würden Sie von Deutschland zeigen? Was wäre das für ein Land?
Kluge: Wenn ich zum Beispiel zeigen würde, wie ein gebildeter Syrer aus Aleppo, ein Rechtsanwalt und so weiter, mit Familie hierher sich begibt, wie der sich herumschlägt. Er würde das Land eigenartig finden. Übrigens manchmal warmherzig, manchmal kaltherzig. Das sind alles sehr gemischte Verhältnisse. Das würde ihm auffallen. Es wäre ein sehr interessantes Auge und eine sehr interessante Art der Selbstprüfung für uns, uns mal mit den Blicken von jemand zu sehen, der zu uns flüchtet.
von Billerbeck: Sie sind ja auch ein Vordenker, was so die Kraft der Bilder betrifft, aber auch die Politik, die man mit diesen Bildern macht. Wenn Sie auf Deutschland 2016 blicken, auf die Nachrichten, auf den Umgang auch mit Flüchtlingen, Sie haben es eben auch erwähnt, dieses Kalte und Warme zugleich. Welche Bilder wären da angemessen?
Kluge: Zunächst mal die Verschiedenheit unseres Landes. Wenn Sie in Mecklenburg filmen, sieht das ganz anders aus, als wenn sie im Industriegebiet um Stuttgart herum filmen. Das sind ganz andere Bilder als in Bayern. Und diese Vielfalt unseres Landes, die würde mich zum Beispiel als Filmemacher immer interessieren. Und die würde übrigens auch mit dem fremden Auge eines Besuchers sehr auffällig sein. Unsere Bundesrepublik ist überhaupt nichts Einheitliches – finde ich was Positives.
von Billerbeck: Der Filmemacher Alexander Kluge, der während der Berlinale-Retrospektive über filmische Perspektiven in Ost- und Westdeutschland 1966 seinen Streifen von damals "Abschied von gestern" noch mal präsentiert. Herr Kluge, Danke für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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