Alexander Gerst: "166 Tage im All"

Die Wirklichkeit ist irgendwo da draußen

Von Frank Kaspar · 12.01.2017
Astronaut Alexander Gerst lässt uns in einem opulenten Bildband an seinem Leben auf der ISS teilhaben. Das wäre sehens- und lesenswert - wenn der Superstar Gerst auch mal ein paar Ecken und Kanten zeigen würde.
Er weiß, wie man einen Raumfrachter einparkt: Der Astronaut Alexander Gerst erzählt in dem Bildband "166 Tage im All" vom Leben auf der Raumstation ISS. Seine Fotos zeigen die Erde als verletzlichen Heimatplaneten.
Knapp sechs Monate verbrachte Gerst mit Kollegen aus Russland und den USA im Jahr 2014 auf der Internationalen Raumstation ISS. Schon während seiner Zeit im All teilten Hunderttausende auf Twitter die Impressionen und Bilder von "Astro_Alex".

Wolken ragen wie bizarre Riffe ins All

In seinem Buch zeigt Gerst weitere Fotos: zerklüftete Küstenlinien, Wüsten und Vulkanlandschaften, wie man sie anderswo schon sehen konnte, aber auch einzigartige Aufnahmen von Wolken, die wie bizarre Riffe ins Weltall ragen, oder vom Morgenrot in der Erdatmosphäre vor dem schwarzen Hintergrund des Alls.
Gersts Weltraum-Tagebuch, aufgezeichnet von dem Wissenschaftsjournalisten Lars Abromeit, vermittelt einen höchst lebendigen Eindruck vom Alltag auf der ISS. Dabei wird eines überdeutlich: Damit eine solche Mission gelingen kann, muss jeder Handgriff hunderte Male geübt sein.

Es kommt auf jeden Millimeter an

Wenn ein unbemanntes Transportfahrzeug per Roboterarm an die Station andockt, kommt es auf Millimeter an. Der kleinste Fehler kann dazu führen, dass der Raumfrachter zurück in den Weltraum trudelt oder an die Bordwand der Station kracht – mit teuren oder tödlichen Folgen. Eine stehende Redewendung unter Astronauten lautet deshalb: "Verbock es nicht!"
Auch der deutsche Astronaut Alexander Gerst ist mit einer Sojuz-Kapsel zur ISS geflogen
Alexander Gerst im All: Daumen hoch!© ESA
Alexander Gerst möchte den Geist der Rücksichtnahme und des gegenseitigen Respekts, den er auf der Raumstation erlebt hat, weitergeben und plädiert dafür, dass wir mit unserem "Raumschiff Erde" sorgsamer umgehen. Das ist ehrenwert, befrachtet sein Buch jedoch mit schwerem moralischem Gepäck.

Gerst erscheint als absoluter Musterknabe

Überhaupt erweckt der opulente Bildband den Eindruck, dass hier auf keinen Fall jemand etwas falsch machen wollte. Das Selbstporträt von fremder Hand zeichnet das Bild eines Musterknaben: Zur Einstimmung auf den Raketenstart vom Weltraumbahnhof Baikonur hört Gerst "Über den Wolken" von Reinhard Mey, er gratuliert aus dem All der deutschen Fußballelf zum Weltmeistertitel und filmt für die "Sendung mit der Maus", wie Astronauten sich waschen und rasieren. Für seine ehemalige Schule hat er einen Stift mit ins All genommen, mit dem dort künftig die Abiturzeugnisse unterschrieben werden sollen.
Ausgewählt unter mehr als 8000 Kandidaten, mit dem milliardenschweren Forschungsprogramm der Europäischen Weltraumorganisation im Rücken, tritt Alexander Gerst ohnehin als Superstar vor das Publikum. Sein Buch kratzt nicht an dieser Teflon-Persönlichkeit. Es beamt einen, Seite an Seite mit den Astronauten, ins Labor, an den Küchentisch und in den Fitness-Raum der ISS.
Am Ende bleibt dennoch das Gefühl: Die Wirklichkeit ist irgendwo da draußen.

Alexander Gerst / Lars Abromeit: "166 Tage im All"
Frederking & Thaler, München 2016
192 Seiten, 41,00 Euro

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