Alberto Manguel: "Eine Geschichte der Neugier"

Neugier ist die Kunst des Fragens

Buchautor Alberto Manguel beim Kosmopolis Festival in Barcelona 2015
Buchautor Alberto Manguel beim Kosmopolis Festival in Barcelona 2015 © dpa / picture alliance / EPA/ALEJANDRO GARCIA
Von Jörg Magenau · 27.06.2016
Wo gehören wir hin? Was ist Wahrheit? - Alberto Manguel wirft in seinem Buch "Eine Geschichte der Neugier" große Fragen auf. Und obwohl er die Antworten den Lesern überlässt, lässt sich daraus so einiges schöpfen.
Fragen sind nicht unbedingt dazu da, beantwortet zu werden. Sie sind eher ein Kompass, der die Richtung des Denkens anzeigt und vielleicht "das Versprechen von etwas Unbestimmtem". Seit Sokrates ist die Fragekunst eine grundlegende philosophische Praxis, bei der der Fragende immer mehr weiß als der, der ihm antwortet.
Alberto Manguel stellt in seinem neuen Buch "Eine Geschichte der Neugier" sehr große Fragen, die Grundfragen der Philosophie. Die siebzehn Kapitel tragen Überschriften, die von "Was wollen wir wissen?" über "Wo gehören wir hin?" bis zu "Was ist Wahrheit?" reichen. Und selbstverständlich wird keine dieser Großfragen beantwortet.
Stattdessen beginnt Manguel jedes Kapitel mit einer persönlichen Geschichte. Wenn er fragt: "Was ist Sprache?", dann erinnert er sich zum Beispiel an einen Schlaganfall, den er erlitt und der dazu führte, dass er sich nicht mehr artikulieren konnte. Er war in der Lage zu denken, aber nicht mehr dazu, das Gedachte auszusprechen. Was also sind Gedanken, bevor sie Sprache geworden sind?

Dante als Prototyp des Neugierigen

Selbstverständlich hängt auch diese Frage vollständig in der Luft, denn dieses Kapitel geht so weiter wie alle anderen auch: Manguel begleitet Dante auf seinem Weg durch die Unterwelt. Denn Dante, der seinen Führer, den Dichter Vergil, mit Fragen löchert, ist womöglich der Prototyp des Neugierigen in einer rätselhaften, bedrohlichen Welt.
So wächst sich diese Geschichte der Neugier zu einem Dante-Kommentar aus, allerdings nicht systematisch, sondern erzählerisch, ausschweifend und angereichert mit Ausflügen, die von Homer, Platon und Aristoteles, über Thomas von Aquin bis hin zu Lewis Caroll (dessen "Alice im Wunderland" zu einem phantastischen Pendant zu Dantes Höllenwanderung wird) und immer wieder zu Franz Kafka führt.
Weil Neugier die Kunst des Fragens ist, kleiden wir, wonach wir fragen, in Geschichten. Das ist Manguel Antwort. "In diesem Sinne könnte man Literatur als eine Form des unaufhörlichen Dialoges" zwischen Autor und Leser verstehen. So ähnlich funktionierte bereits Manguels große "Geschichte des Lesens", an die die "Geschichte der Neugier" anknüpft.

Vorleser des blinden Jorge Luis Borges

Manguel tritt immer als Leser auf, kein Wunder, bei diesem polyglotten, in vielen Sprachen beheimateten Universalgelehrten, der als junger Mann Vorleser des blinden Jorge Luis Borges war, seit kurzem Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ist und mit seinen 30.000 Büchern ein Haus in Frankreich bewohnt.
Und was ist nun mit der Neugier? Dass sie Grundlage alles menschlichen Wissenwollens ist, ist klar. Aber sie hat auch eine zerstörerische Seite: Wäre Pandora weniger neugierig gewesen, hätte sie die Büchse mit den Weltübeln nicht geöffnet. Robert Oppenheimer, der Erfinder der Atombombe, taucht am Ende des Buches als ihr moderner Nachfolger auf.
Eine "Geschichte" der Neugier bietet Manguel dabei jedoch nicht. Vielmehr setzt er die Neugier seiner Leser voraus. Wer ihm neugierig folgt, kann aus diesem Buch viel schöpfen – und sich vielleicht an ein Zitat von C.G. Jung halten, wonach "der Sinn meiner Existenz" darin besteht, "dass das Leben eine Frage an mich hat". Oder umgekehrt: "Ich selber bin eine Frage, die an die Welt gerichtet ist". Wer sie nicht zu beantworten weiß, ist auf die Antwort der Welt angewiesen. Da ist es nur konsequent, dass Manguel das Antworten uns, den Lesern, überlässt.

Alberto Manguel: "Eine Geschichte der Neugier"
Aus dem englischen von Achim Stanislawski
S. Fischer, Frankfurt/Main 2016
528 Seiten, 24,99 Euro

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