Albert Camus und die Revolte

Von Kathrin Hondl · 07.11.2013
Der einzige Ausweg, sagte der Philosoph und Autor Albert Camus, sei die permanente Revolte. Es brauche nicht eine große Revolution, sondern die ständige Veränderung. Der arabische Frühling, die Occupy-Bewegung und selbst die schwäbischen Wutbürger bestätigen Camus' Philosophie.
"Den großen Männern – das dankbare Vaterland" steht in gold glänzenden Buchstaben über dem Portal des Pantheon in Paris. Kriegsherren und Wissenschaftler, Dichter und Denker ruhen hier in Staatswürden. Wäre es nach dem früheren Präsidenten Sarkozy gegangen, hätte auch Albert Camus mittlerweile sein Grab in der Gruft des nationalen Ruhmestempels. Aber ausgerechnet Camus, der Schriftsteller und Philosoph des Absurden und der Revolte wäre in der pompösen Pariser Totenhalle am falschen Platz, meint der Philosoph und Camus-Biograf Michel Onfray.

"Camus mochte Paris nicht; die Pariser, die Institutionen, das mondäne Leben – all das gefiel ihm nicht. Er hätte nicht ins Pantheon gewollt. Ihm hätte es gefallen, dass man sagt: Sein Buch "Der Mensch in der Revolte" ist immer noch aktuell. Und so ist es."

"Der Mensch in der Revolte" erschien 1951. Zwei Weltkriege waren vorbei, Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern und in den Vernichtungslagern ermordet worden, die Welt hatte sich in einem Kalten Krieg der Ideologien eingerichtet. Vor diesem Hintergrund entwirft Camus die Idee einer idealen, einer solidarischen Revolte im Namen der Menschlichkeit. "Ich revoltiere also sind wir", schreibt er. Der Satz scheint heute aktueller denn je.

Vom arabischen Frühling bis zur Occupy-Bewegung, von spanischen Indignados bis zu schwäbischen Wutbürgern – überall auf der Welt wird revoltiert. "Die Protestmacher" heißt ein Dokumentarfilm des Berliner Soziologen und Protestforschers Dieter Rucht. Der Film aus dem Jahr 2012 portraitiert vier Menschen, die Protest und Revolte zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben. Vollzeit-Aktivistinnen wie die Französin Cécile Lecomte:

"Der einzige Ausweg, sagt Camus, das ist die permanente Revolte, und für mich ist das schon ein interessanter Begriff. Also für mich ist nicht Revolution sondern permanente Revolte. Also es wird immer etwas geben, was man verändern will. Das hatte man auch in seinem Werk der Mensch in der Revolte, wo es heißt, diese Energie, die man hat zu kämpfen ist eigentlich der einzige Ausweg, den es gibt aus dieser Situation und da finde ich mich einfach wieder."

So ähnlich geht es möglicherweise auch der jungen Frau auf dem Istanbuler Taksim-Platz, deren Foto im Frühsommer via Internet um die Welt ging. Nachdenklich in ein Buch vertieft steht sie in einer Gruppe weiterer Lesender – ein stiller Protest gegen die Polizeigewalt, mit der die türkische Regierung gegen Demonstranten vorgeht. "Taksim Square Book Club" nennen sich die Protestleser von Istanbul. Die junge Frau, deren Foto im Netz kursiert, liest Camus, den "Mythos von Sisyphos", einen – so der Untertitel – "Essay über das Absurde". Vorbild für den Menschen, der gegen die Absurdität seiner Situation revoltiert, ist bei Camus der Sisyphos aus der griechischen Mythologie: Einer, der unentwegt einen Felsblock den Berg hinaufwälzt, auch wenn der Stein immer wieder zurückrollt.

"Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."
"Also das kennzeichnet ja auch oft den Alltag von sozialen Bewegungen, die ja nicht immer Erfolge feiern können","

sagt der Protestforscher und Filmemacher Dieter Rucht.

""Und dass man das nicht nur als Enttäuschungserfahrung begreift sondern als eine konstitutive Tätigkeit, der man ausgesetzt ist, die man anpacken muss, der man nicht ausweichen kann, das ist eine Stimulanz für soziale Bewegungen."

Eine stimulierende Wirkung haben Camus’ Essays und Romane über die Revolte seit einiger Zeit besonders in Nordafrika. Albert Camus erweise sich dort als "Schleuser der demokratischen Idee", sagt Jeanyves Guérin, Literaturwissenschaftler an der Pariser Sorbonne und einer der international renomiertesten Camus-Forscher:

"Der arabische Frühling hat sehr stark dazu beigetragen, dass Camus heute eine wichtige Rolle spielt in der intellektuellen Landschaft des Maghreb. Es ist kein Zufall, dass dort vor allem die jungen Leute "Die Pest" lesen, den demokratischen Roman par excellence. "Die Pest" als Allegorie der demokratischen Revolte gegen ein Unterdrücker-Regime: Die Pest, das waren der Nationalsozialismus und der Stalinismus, heute sind es Diktatur und Islamismus. Das Werk von Camus ist in einer Weise präsent, wie es vor 30 Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Camus ist zweifellos ein Inspirator der Revolten."

Und möglicherweise wird er ja auch noch kommende Aufstände inspirieren – an seinem 100. Geburtstag jedenfalls, mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, trifft Albert Camus den Zeitgeist wie kaum ein anderer Autor.

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