Alarmphone

Seenotrettung via Telefon

Bei Seegang rettet die Besatzung der deutschen Fregatte Schleswig-Holstein am 21.06.2015 rund 148 Kilometer nordwestlich vom libyschen Tripolis 417 Männer, 63 Frauen und 42 Kinder aus einem Holzboot und bringt diese zum Hafen von Salerno in Italien.
Juni 2015: Die deutsche Fregatte Schleswig-Holstein rettet Flüchtlinge aus einem Holzboot nordwestlich vom libyschen Tripolis. Jedes Schiff, das auf dem Meer unterwegs ist, ist in einem Notfall zur Rettung verpflichtet. © dpa / picture alliance / Bundeswehr / Winkler
Von Stefanie Müller-Frank · 14.09.2015
Fast 120 Freiwillige arbeiten europaweit für das Projekt Alarmphone: Sie nehmen Notrufe von Flüchtlingen in Seenot an und alarmieren die zuständige Küstenwache. Das Risiko, sich strafbar zu machen, nehmen die Aktivisten bewusst in Kauf.
Wann immer Katharina Moraweks Telefon klingelt, sind irgendwo Flüchtlinge in Seenot. Auch jetzt. Am anderen Ende der Leitung: ein Aktivist vom französischen Alarmphone-Team. Bei ihm war am frühen Morgen ein Hilferuf aus Nordafrika eingegangen. Noch immer ist nicht klar, ob das Boot gerettet wurde.
"Er wollte wissen, wie es mit dem Fall ausgegangen ist, wo er den ersten Anruf bekommen hat. Wir hatten ja nur die Informationen aus dritter Hand. Und sie haben eine Gruppe von sieben Leuten, die vom Hotel Tarifa in Marokko losgefahren sind, gerettet. Soll ich mal die Spanier anrufen?"
Keine zehn Minuten ist es her, dass Katharina Morawek und Simon Sontowski das Schichtteam aus Bremen abgelöst haben: Die Fenster zum Garten stehen weit offen, auf dem großen Esstisch stapelt sich Verpflegung für die nächsten acht Stunden: Kaffeebecher, Sandwichtüten, Obst. An der Tür eine kurze Info für die Mitbewohner, denn die gutbürgerliche Villa, in der die Wohngemeinschaft von Katharina Morawek lebt, wurde kurzerhand zur Telefonzentrale umfunktioniert.
"Häufig werden auf den Booten Kinder zur Welt gebracht"
Jede Sekunde kann ein Notruf vom Mittelmeer beim Alarmphone eingehen und hier, in einem ruhigen Zürcher Wohnviertel, landen. Dann muss es schnell gehen: Rückrufnummer klären, die Position des Schiffs bestimmen und herausfinden:
"Was ist die Situation auf dem Schiff? Wie viele Leute sind auf dem Schiff? Gibt es irgendwelche speziellen Dinge, zum Beispiel schwangere Frauen. Oder es kommt auch immer wieder vor, dass sich Tote auf diesen Schiffen befinden."
Fast 120 Freiwillige sind bislang im Netzwerk aktiv, die Schichtteams arbeiten europaweit und dezentral von zuhause aus, finanziert werden die Telefonkosten durch Spenden. Das Risiko, sich strafbar zu machen, nehmen die Aktivisten dabei bewusst in Kauf.
"Man muss sich schon vorstellen, dass jederzeit passieren kann, wenn man Schicht macht, dass man direkt mit Leuten in Kontakt tritt, die sich direkt in Lebensgefahr befinden. Dass man erzählt bekommt, dass auf dem Boot schon mehrere Leute gestorben sind. Es kommt überraschend häufig vor, dass auf den Booten Kinder zur Welt gebracht werden."
Katharina Morawek tippt, liest und versucht herauszufinden, ob die spanische Küstenwache heute früh ein Boot aus Marokko aufgegriffen hat. Sie ruft eine Internetseite auf, die den Schiffsverkehr im Mittelmeer anzeigt.
"Also da kann jede Person nachsehen, was sich da tut. Das ist eigentlich so wie der Verkehrsfunk. Und wenn man dann die Koordinaten des Schiffes in Seenot hat, dann kann man auch nachschauen, welche Schiffe dort in der Nähe sind."
Zur Rettung verpflichtet
Entdecken sie ein Schiff, alarmieren sie die zuständige Küstenwache. Denn jedes Schiff, das auf dem Meer unterwegs ist, ist in einem Notfall zur Rettung verpflichtet:
"Das ist eigentlich wie im Straßenverkehr: Wenn du einen Unfall beobachtest, musst du helfen. Sonst machst du dich strafbar wegen unterlassener Hilfeleistung. Und das ist eigentlich auf See das gleiche Prinzip."
Ebenso ist völkerrechtlich vereinbart, dass jedes Land mit eigener Küste in seinen Hoheitsgewässern die Seenotrettung übernimmt. Trotzdem kentern regelmäßig Flüchtlingsboote, ohne dass ihnen jemand zur Hilfe kommt. Offenbar werden die Notrufe ignoriert – oder die Hilfe verschleppt.
Auch bei dem Boot aus Marokko wird nicht ganz klar, ob die spanische Küstenwache es jetzt gerettet hat oder nicht. Die Aktivisten vom Alarmphone werden also den Abend lang immer wieder anrufen, nachfragen und der Küstenwache signalisieren, dass sie den Fall beobachten und notfalls öffentlich machen. Mehr können sie nicht tun:
"Wir operieren genau in der Grauzone eigentlich zwischen Migrationsrecht und Seerecht – dieses Spannungsfeld ist genau das, wo das Projekt auch ansetzt: Man könnte natürlich einen Fall von Unterstützung illegaler Einreise konstruieren, aber die Gegenseite wäre immer: Wir machen uns unterlassener Hilfeleistung schuldig, wenn wir die Informationen, die wir bekommen, nicht weitergeben."
Und vielleicht, sagt Simon Sontowski, stehen eines Tages ja mal die vor Gericht, die nicht geholfen haben.
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