"Aida" als Schicksal

22.04.2011
"Aida" sollte seine Schicksalsoper werden. Giuseppe Sinopoli dirigierte sie am Anfang seiner Karriere 1976 in Venedig (hier wurde er am 2. November 1946 geboren), und während einer Vorstellung des Verdi-Werkes in der Deutschen Oper Berlin ist Sinopoli am 20. April 2001 tot zusammengebrochen.
Verdi gehörte Sinopolis besondere Zuneigung. Mit ihm hat er in London, Hamburg und Berlin Furore gemacht und ist zum Star geworden. Auch in Dresden, in der Semperoper, wollte er – wie dermaleinst Fritz Busch - eine neue Epoche der Verdi-Interpretation einleiten.

Sinopolis Wunschtraum sollte sich nicht mehr erfüllen. Aber er hat in Dresden seine Karriere vollendet und – gemeinsam mit der Sächsischen Staatskapelle, die ihn außerordentlich liebte und deren Chefdirigent er neun Jahre lang war - vor allem im sinfonischen Bereich immer wieder die Sterne vom Himmel geholt.

Dabei war das beiderseitige Verhältnis keinesfalls Liebe auf den ersten Blick. Aber nach und nach entstand ein tiefes künstlerisches und menschliches Vertrauen, eine Art Symbiose, ein seltener Glücksfall. Verständlich, dass nicht nur für die Staatskapelle, sondern auch für die Semperoper der Tod Sinopolis nach Aussage des damaligen Intendanten Christoph Albrecht ein "Schicksalsschlag" gewesen ist.

Als er starb, hatte er gerade seinen Vertrag bis 2007 verlängert, und ab 2003 sollte er auch Chefdirigent der Oper werden. Eine verheißungsvolle Ära stand bevor, denn der Oper gehörte Sinopolis besondere Liebe. "Menschlich-musikalische Höhenflüge" überschreibt denn auch Ulrike Kienzle dieses letzte Lebenskapitel Sinopolis, jenes Italieners, der sich so wenig italienisch fühlte, weil er seine geistige Sozialisation in Wien – er war Swarowski-Schüler - und Berlin erlebte. Die Autorin stellt das in ihrer monumentalen Biografie ebenso detailliert dar wie Sinopolis Wagner- und Richard Straussaffinität, seine frühen kompositorischen Bindungen an die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, seine Kindheit in Venedig und Messina, seine Studienjahre, seine dirigentischen Karrierestationen London, Hamburg, Berlin und Dresden, aber auch seine professionelle Leidenschaft für die Archäologie.

Sinopoli bekannte: Seine Liebe für die Archäologie sei nichts anders als seine Liebe für Medizin und Musik. Alle drei Disziplinen befassten sich mit dem Ausgraben von Menschen. Dirigieren bedeutete für Sinopoli denn auch "Masken herunterreißen". Nicht von ungefähr interessierten ihn abgründige, "brüchige" Stoffe, vor allem im deutschen Repertoire.

Freilich hat sich der Dirigent schon lange vor Dresden die Hauptwerke der Wiener Klassik und der Romantik erarbeitet. Ulrike Kienzle schildert es in allen Einzelheiten, ebenso wie sämtliche Lebens- und Arbeitsphasen in dieser ungewöhnlichen deutsch-italienischen Künstlervita. Man erfährt beispielsweise, was und wie Sinopoli schon in seiner Jugend auf dem venezianischen Rialtomarkt einzukaufen pflegte, wie und was er in Berlin kochte, welche antiken Masken und Vasen er in seinem spektakulären Haus auf Lipari sammelte und wie er vor zehn Jahren am Pult der deutschen Oper Berlin zu Tode kam. In allen makabren Details. Ja, sogar seine postume römische Promovierung zum Doktor der Archäologie wird genauestens beschrieben. Akribischer wird kaum noch eine Sinopoli-Biografie kommen.

Ulrike Kienzle hat einfach alles zusammengetragen, was sich über den außergewöhnlichen Dirigenten in Erfahrung bringen lässt. "Rettung durch Erinnerung" nennt sie ihre Methode. Sie hat alles gelesen, was es über und von Sinopoli gibt, sie hat viele wichtige Zeitzeugen über ihn ausgefragt: Ehefrau, Freunde, Kollegen, Mitarbeiter und Beobachter. Und sie lässt Sinopoli selbst möglichst oft zu Wort kommen, zitiert aus Schriften, Interviews, Rundfunksendungen und Filmen. Ihr Buch ist der Versuch, aus verstreuten Zeugnissen ein Leben möglichst genau zu rekonstruieren, so wie Sinopoli als Archäologe aus Trümmern, Resten und Ruinen Gewesenes wiederherzustellen versucht hat.

Auch wenn es die Autorin zuweilen ein wenig an Distanz gegenüber dem "Objekt" ihrer Verehrung mangeln lässt, Respekt einflößend ist ihre Arbeit allemal. Ein separater Fotoband ist beigefügt, der den Dirigenten auf all seinen Lebensstationen bis hin zum aufgebahrten Sarg mit dem Toten zeigt; darunter finden sich auch nie gesehene private Fotos. Ein unverzichtbares, ein konkurrenzloses, leicht zu lesendes Buch für alle Sinopoli-Verehrer.

Besprochen von Dieter David Scholz

Ulrike Kienzle: Giuseppe Sinopoli - Komponist, Dirigent, Archäologe
(2 Bände)
Königshausen & Neumann 2011
zus. 840 Seiten, 68,00 Euro