Ahnenforschung

Wenn Familiengeschichten Risse bekommen

Tante Trude mit Katze auf einem Familienfoto
Tante Trude mit Katze auf einem Familienfoto © deutschlandradio.de / Johanna Herzing
Von Johanna Herzing · 10.08.2016
Die Trude war so unheimlich gebildet und schlau – so heißt es in der Familie der Autorin. Doch Trude starb früh. Familiendokumente, die lange versteckt wurden, bringen ein Geheimnis ans Licht.
Wer ist das? Ja! Onkel Castan…
Und weißt du, wer das ist?
In der Küche meiner Oma vor gut zehn Jahren. Ein Fotoalbum nach dem anderen wandert auf den Tisch. Ich blättere, die Oma erzählt. Ihre Vorfahren fand ich schon als Teenager interessant. Da gab es früh studierte und geschiedene Frauen, Bauhäusler, Vegetarier und Nacktbader, völkische Romantiker und Antisemiten, Bildungsbürger und "Bauernführer"
Das ist die Tante Trude!
Die haben wir ja so geliebt. Die hat uns ja so unterstützt.
Und wann ist die Trude gestorben? In welchem Jahr?
1943.
In der Klinik, ne?
Die "Tante Trude", also die Schwester meiner Urgroßmutter, hatte einen festen Platz im Familiengedächtnis: Die Trude hat Dinge geregelt, die die eigenen Eltern nicht hinbekommen haben. Die Trude war so unheimlich gebildet und schlau. Soll Doktor gewesen sein, außerdem Architektin und Lehrerin.
Eine Archivarin von der TH Dresden schreibt mir auf Nachfrage, dass Trude in den 1930er Jahren dort Lehrbeauftragte für Pädagogik war. Eine der ersten, wenn nicht die erste Frau, die dort unterrichtet hat. Meine Oma und ihre Schwestern waren immer schon mächtig stolz auf die Trude. Nur dann sei sie eben krank geworden und die Nazis hätten sie verhungern lassen, in einer Nervenklinik - so die oft wiederholte Geschichte. Auch Omas Schwester Rothraut, heute über 90, erzählt sie so:
"Sie hat eben so einen Tobsuchtsanfall gekriegt und da hat sie der Onkel Heinz auf dem Schoß gehabt und hat sie weggefahren in die Anstalt, wo sie dann da hingekommen ist. Und, da ist sie grauslich zu Tode gekommen, weil's damals nix zu essen gab und da war ihnen zu schade für so 'ne Todkranke noch was zu essen zu geben."
Eine Erzählung die ich lange nicht hinterfragt habe. Die Nazis sahen psychisch Kranke als lebensunwert an, was gab es da noch groß herauszufinden, dachte ich. Doch dann starb meine Oma vor gut drei Jahren und plötzlich tauchte ein Koffer auf: eine Art Familienarchiv, darunter auch einige Briefe von Trude – und ihre Sterbeurkunde. Plötzlich wurde ihr Tod konkret, es gab ein Datum, einen Ort.
Götz Aly: "So, das ist ja interessant. 'Professorin Liska Gertrud, 20. 13.30 Uhr.' Also das sind alles frei erfundene Sachen, diese Daten. Das kann auch 10 Tage vorher gewesen sein, das geht alles seriell. 'Meseritz-Obrawalde.' Und woher haben Sie jetzt diese Urkunde?"
Mit dem Historiker Götz Aly spreche ich lange über die Morde der Nazis an Kranken, Alten, Behinderten und politisch Unangepassten, die sogenannten Euthanasie-Morde. Vor allem aber auch über seine These, dass die Angehörigen der Opfer in dem Geschehen eine ganz besondere Rolle spielten.
"Es gab einen zentralen Erlass: Wenn Angehörige also mit aller Kraft protestieren und ihre Leute raus haben wollen, dann ist diesem Ansuchen stattzugeben und das ist auch im Wesentlichen in allen Fällen geschehen. Es ist völlig klar, dass es eine eindeutige Mitverantwortung der Angehörigen gibt."
Was heißt das für meine Familie? In den Erzählungen schien Trudes Tod ja immer unausweichlich. Kurze Zeit nach dem Gespräch mit Götz Aly finde ich Trudes Krankenakte - in einem polnischen Archiv. Die Gegend rund um die Landesheil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde, in der Trude im Februar 1943 starb, liegt heute in Polen. Die Nazis ermordeten hier verschiedenen Schätzungen zufolge bis zu 10.000 Menschen – vor allem mit Hilfe überdosierter Medikamente. Die Angabe über die jeweilige Todesursache wurde für die Akten gefälscht.

Trudes Bruder war ihr Pfleger

Grundleiden: Geisteskrankheit, Todesursache: Erschöpfung – so ist in Trudes Akte zu lesen. Götz Aly, dem ich die Unterlagen schicke, meint, es sei klar, dass Trude ermordet wurde. Die rund 20 Seiten verraten aber noch etwas anderes: Trudes jüngerer Bruder Heinz war zum Zeitpunkt der Einweisung nach Obrawalde ihr Pfleger, eine Art Betreuer.
Tante Rothraut: "Die haben sich quasi sehr geliebt und verehrt als Geschwister. Er hat sie ja auf den Knien hat er sie ja dort quasi hingebracht. Er hatte gedacht, dort wird ihr geholfen oder so, aber nix…"
Das Bild, das meine Verwandten stets von Heinz gezeichnet haben, bekommt Risse. Hat er seine Schwester bewusst in eine Tötungsanstalt gebracht? Über die Schuldfrage, die Mitwisser- und Mittäter-Frage spreche ich auch mit Götz Aly.
"Ich glaube, wenn ein Mensch anomal, auffällig, lästig wird in der Familie, dann entstehen Aggressionen. Ich halte das für eine anthropologische Grundkonstellation, die nichts mit dem nationalsozialistischem Rassismus zu tun hat, die gibt es einfach. Das kriegen Sie nicht weg, das ist dauerhaft da, aber Sie können es beeinflussen."
Wichtig, so Aly, seien eine verständnisvolle und aufgeklärte gesellschaftliche Grundhaltung gegenüber kranken und behinderten Menschen, außerdem: öffentliche Hilfen und staatliche Maßnahmen.
Das alles fehlte damals. Die Betroffenen wurden verunglimpft und verfolgt. Vieles deutet darauf hin, dass Trude an einer bipolaren Störung litt. Eine Erkrankung, mit der sie heute sehr alt werden könnte.

Auf der Webseite des Deutschlandfunks können Sie das lange Feature von Johanna Herzing unter dem Titel "Tante Trude - Erinnerungen an einen Euthanasiemord" nachhören, 45 Minuten

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