"Agonie" am Deutschen Theater Berlin

Von Volker Trauth · 01.09.2013
Wir befinden uns am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Russland. Behandelt wird also nur ein winzig kleiner Ausschnitt der über 300-jährigen Geschichte der Romanows. Dadurch fehlt es den Figuren an Biografie, den Ereignissen an Vorgeschichte. Die ganze Inszenierung am Deutschen Theater kann nicht überzeugen.
"Demokratie und Krieg” lautet die Überschrift zu den insgesamt 22 Produktionen des Deutschen Theaters in der kommenden Spielzeit. Beide Begriffe haben durchaus mit dem Projekt "Agonie" zu tun: Wir sind am Vorabend des Ersten Weltkriegs.

Russland führt Krieg an vier Fronten. Generäle und Minister fordern den Zaren Nikolaus zu demokratischen Reformen auf, widerwillig sichert er der Duma Mitspracherecht zu. Hungerrevolten brechen aus, das Land liegt in Agonie. Da taucht der wundersame Prophet Rasputin auf, heilt den Zarewitsch von der Bluterkrankheit und rät zum Friedensschluss. Die Generäle bringen ihn um, der Zar dankt ab.

Die Spielvorlage geht von den Erinnerungen des Attentäters, Fürst Jussupow, aus. Ihr Text ist nur bedingt theatertauglich. Behandelt wird nur ein winzig kleiner Ausschnitt der über 300-jährigen Geschichte der Romanows. Dadurch fehlt es den Figuren an Biografie, den Ereignissen an Vorgeschichte. Wenn sich Zar und Zarin streiten, ob der Sohn Alexander oder Alexej heißen soll, bleibt dem Zuschauer unklar, dass sich hinter diesen Namen zwei Zaren aus der russischen Geschichte mit extrem unterschiedlichem Demokratieverständnis verbergen. Wesentlicher aber: Der Text ist nur selten situativ, ihm fehlt es an der zweiten Schicht, die der Schauspieler aufdecken kann. Er erschöpft sich zumeist in Berichten, Bekenntnissen und Debatten.

Die beiden Regisseure haben ihr Projekt "zaristisches Lehrstück" genannt. Der Titel erweist sich als schwammig, vermag dem szenischen Geschehen kaum Richtung und Konturenschärfe zu geben. Was der Abend mit einem Lehrstück zu tun hat, bleibt im Dunkeln. Nichts von der Mobilisierung des Publikums zum Mit- und Gegenspieler wie sie Brecht in seinen Lehrstücken versucht hat.

Das Gegenspielerprinzip wollen die beiden Regisseure durch einen allzu ertüftelten Kunstgriff herstellen. Über ein Playbacksystem komm als historische Gegenkraft das Proletariat ins Spiel. Wenn der Zar den neugeborenen Zarewitsch begrüßt und den zur späteren Übernahme der Macht auffordert, öffnet er den Mund und aus dem dringt die Stimme Ernst Buschs mit dem Lied aus der "Mutter" "du musst die Führung übernehmen" – begleitet von den lippensynchronen Mundbewegungen des Zaren.

Wenn die Zarin die Ausweglosigkeit ihrer Bemühungen um Rettung des kranken Sohnes beklagt, hören wir aus ihrem Munde die Stimme des gleichen Sängers mit dem "Lied vom Ausweg". Solche Lösungen erweisen sich als ambitionierte Kopfgeburten – eher verrätselnd als sinnstiftend. Schauspielerisch bleibt - auch als Folge der spröden Textvorlage – vieles auf einem Ton, der zwangsläufig die Figuren auf einen Zug ihres Charakters reduziert: Der ewig genervte Leisetreter und Hasenfuß Nikolaus (Jörg Pose), die ewig schwärmerisch dem Rasputin ergebene Wyrubowa (Natali Selig). Den Gesamteindruck der Gleichförmigkeit können auch einige gelungene Szenen mit komischer Zuspitzung wie die Überredung des Zaren zu Postenneubesetzungen im Ehebett oder die ewig nicht gelingen wollende Vergiftung des Rasputin - nicht verhindern.

Am ärgerlichsten aber ist die darstellerische Mitwirkung des Mitregisseurs Jürgen Kuttner, der als Arzt, General oder Politiker über die Bühne wuselt. Seine im Vorfeld verkündete Absicht, durch seinen Dilettantismus "Widersprüche einsickern zu lassen" erweist sich als verhängnisvoller Irrtum, wenn sein Text in Momenten der Erregung wegen handwerklichem Unvermögen gar nicht zu hören ist. Gleichzeitig laut und textverständlich zu sein, hätte man im ersten Studienjahr auf der Schauspielschule gelernt.