Afrika-Historiker Jürgen Zimmerer

Zähe Verhandlungen um Völkermord an den Herero

Jürgen Zimmerer - Afrika-Historiker und Genozid-Forscher an der Universität Hamburg.
Jürgen Zimmerer, Afrika-Historiker und Genozid-Forscher an der Universität Hamburg © privat
Moderation: Susanne Führer · 23.07.2016
Während des Herero-Nama-Kriegs vor über 100 Jahren töteten deutsche Kolonialtruppen rund 100.000 Einheimische. Die Bundesregierung habe sich schwergetan, von Völkermord zu sprechen, sagt der Afrika-Historiker Jürgen Zimmerer. Denn damit stelle sich die Frage der Entschädigungen. Er rechnet mit zähen Verhandlungen.
Deutschlandradio Kultur: Jürgen Zimmerer ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg. Guten Tag, Herr Zimmerer.
Jürgen Zimmerer: Guten Tag, Frau Führer.
Deutschlandradio Kultur: Wir wollen heute über ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte sprechen. Anlass sind die aktuell laufenden Verhandlungen zwischen der deutschen Regierung und der namibischen Regierung, eben über jene Zeit, als Deutschland Kolonialmacht in Namibia war. Und ich weiß nicht, Herr Zimmerer, waren Sie schon mal auf dem neuen Garnisonsfriedhof in Berlin, Berlin-Neukölln?
Jürgen Zimmerer: Nein, aber ich weiß, was Sie meinen.
Deutschlandradio Kultur: Da gibt es eine, meines Wissens die einzige Gedenkplatte für – ich zitiere – "die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia" –, und zwar insbesondere – jetzt zitiere ich wieder – "die Opfer des Kolonialkrieges von 1904 bis 1907". Was war denn das für ein Kolonialkrieg?

Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts

Jürgen Zimmerer: Also, Sie spielen wahrscheinlich auf die Formulierung "Kolonialkrieg" an, die ja seinerzeit umstritten war. Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und eigentlich 1908, denn erst am 27. Januar 1908, an Kaisers Geburtstag, wurden die Konzentrationslager aufgelöst, die es ab Dezember 1904 ja in Südwestafrika gab, war meines Erachtens ein Vernichtungskrieg, ein Völkermord, und zwar der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Deutschlandradio Kultur: Können Sie nochmal kurz skizzieren, was damals genau passiert ist?
Jürgen Zimmerer: Seit 1884 ist Deutschland Kolonialmacht mit vier Kolonien in Afrika und einigen kleineren Besitzungen im Pazifik. In Afrika ist es Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika - das heutige Tansania im Wesentlichen - und Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia.
Und 1904 leisten die Herero Widerstand gegen die zunehmende Entrechtung, also Betrügereien im Landkauf, im Kreditwesen. Es gibt zahlreiche Übergriffe auch der zahlreichen weißen Männer. Es waren fast nur weiße Männer als Siedler oder als Soldaten in der Kolonie. Und 1904 kommt es eben zum Widerstand, zu einem sehr erfolgreichen Widerstand, der eigentlich fast das gesamte koloniale Projekt in Südwestafrika zum Einsturz bringt. Und Berlin entscheidet sich zur Entsendung von Ersatztruppen unter einem General namens Lothar von Trotha, der als besonders brutaler Kolonialkämpfer eigentlich bekannt war, der jetzt einen Freifahrtschein erhält für sein Vorgehen in Südwestafrika, Auftrag lautet den, wie es hieß, "Aufstand" mit allen Mitteln niederzuschlagen.
Deutschlandradio Kultur: Und das hat er dann auch getan?
Jürgen Zimmerer: Das macht er eigentlich auch. Und noch auf dem Schiff, auf der Fahrt nach Namibia wird im Grunde das Kriegsrecht verhängt und es wird praktisch angeordnet, dass jeder Herero, der im Akt des Widerstands aufgegriffen wird, standrechtlich zu erschießen ist.
Und das ist ganz entscheidend, weil, das unterscheidet von da ab auch auf legaler Ebene diesen Krieg von einem klassischen Krieg in Europa, wo ja im Grunde der Gegner einen gewissen Schutz genießt, wenn er sich ergibt. Das heißt, das gibt es hier nicht. Der Akt des Widerstandes ist ein todeswürdiges Verbrechen. Es heißt in dieser…
Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja diesen berühmten Erlass Lothar von Trothas vom 2. Oktober 1904, innerhalb der deutschen Grenzen…
Jürgen Zimmerer: Der ist später.

In die Wüste getrieben, um den Dursttod zu sterben

Deutschlandradio Kultur: "Jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit ohne Vieh erschossen…".
Jürgen Zimmerer: Genau. Aber bereits im Juni heißt es im Grunde: Jeder Herero, der mit Waffen angetroffen wird im Akt des Widerstandes, ist zu erschießen. – Das hießt, damit ist der Krieg schon entgrenzt. Er ist schon auf dem Weg zum Vernichtungskrieg.
Es kommt dann im August zur sogenannten Schlacht am Waterberg, die nicht die Entscheidung bringt. Die Herero, die sich dort versammelt hatten mit Frauen und Kindern, entziehen sich der Umkesselung und ziehen eben nach Osten in Richtung des heutigen Botswana, in Richtung der Omaheke-Wüste. Die deutschen Truppen setzen nach und machen erst Halt, als sei selbst völlig entkräftet am Wüstensaum im Grunde nicht mehr weiterkönnen, weil auch sie nicht mehr genug Wasser vorfinden, und besetzen diese Wasserstellen. Und am 2. Oktober wird eben dieser Schießbefehl oder "Vernichtungsbefehl", wie er auch heißt in der Literatur, eben erlassen in dem es heißt, die Herero müssen das Land verlassen, sonst werden alle erschossen. Und in einem Tagesbefehl: "Frauen und Kinder werden nicht erschossen. Es wird über deren Köpfe hinweg geschossen. Dann werden sie schon wieder zurückrennen in die Wüste" und dann, ist die Bedeutung, "den Dursttod sterben".
Deutschlandradio Kultur: Also, für Sie ist das Urteil ein deutliches. Es handelt sich um einen Völkermord, weil die Absicht war, eben das Volk der Herero auszurotten?
Jürgen Zimmerer: Ja. Und zwar – es heißt zwar in dem Befehl, sie müssten das Land verlassen – aber in der konkreten Situation bedeutet das im Grunde, in die Wüste ziehen, wo sie umkommen.
Deutschlandradio Kultur: Sind sich denn die Historiker einig in dieser Frage?
Jürgen Zimmerer: Die Historiker und die Genozid-Forscher sind überwiegend einig. Es gibt ganz wenige abweichende Stimmen, die meistens um Definitionsfragen sich ranken, aber die Fachwissenschaft ist eindeutig.
Deutschlandradio Kultur: Ich frage das jetzt so, weil vor Kurzem, im Juni, Bartholomäus Grill, ein renommierter Afrika-Journalist, im Spiegel, was ja nun auch kein Blatt aus Hintertupfingen ist, eine große Geschichte geschrieben hat und wo er große Zweifel an der These vom Völkermord anmeldet und das auch mit zahlreichen Quellen, die wir jetzt hier nicht im Einzelnen besprechen können, belegt oder versucht zu belegen.
Jürgen Zimmerer: Also, dieser Spiegel-Artikel, der ja sehr lang ist mit sechs Seiten, also für ein historisches Thema, kam ja zu einem Zeitpunkt, in der im Grunde alle anderen Medien und auch die Politik anerkannt hatte, dass es Völkermord ist. Und dieser Artikel wirft also eine ganze Reihe von Fragen auf, angefangen von der wissenschaftlichen Begleitung, die ein pensionierter Physik-Professor, der in Swakopmund lebt, leistet, bis zur Hauptquelle für Bartholomäus Grill, einen Südwester Farmer und Hobby-Historiker, sein Name Hinrich Schneider-Waterberg, der Zusatz Waterberg signalisiert schon, dass er im Grunde eine Farm am Waterberg besitzt, die er 1908, wie er selbst schreibt, erworben hat, verschweigend, dass im Grunde das zu diesem Herero-Land gehörte, das als Folge des Krieges und des Völkermords enteignet wurde.
Also, als eine der Folgen des Genozids wurden die Herero und die Nama als – wie es hieß – Stämme aufgelöst, ihr Land konfisziert und anschließend an deutsche Siedler, Schutztruppen-Soldaten etc. verteilt, also verkauft. Und in diesem Prozess kommt Schneider-Waterberg an seine Farm oder seine Familie an eine Farm. Und auf dem basiert Bartholomäus Grill jetzt zum Teil seine Thesen, die – wie er sagt – neue Forschungsergebnisse liefern würden, tatsächlich aber einen Forschungsstand der Mitte der 90er Jahre rekapituliert, der in allen Punkten widerlegt ist, was überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt bleiben wir mal dabei: Es war ein Völkermord. Sie sagen, der erste Völkermord, der erste Genozid im 20. Jahrhundert. Welche Folgen hat denn das, wenn jetzt Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland sagt: Ja, wir erkennen das an, das war ein Völkermord? Also, noch Außenminister Fischer, der war ja 2003 in Namibia, hat gesagt: "Ich will hier nichts Entschädigungsrelevantes sagen." Also, da gibt es eine Konvention der UNO dazu, die das festlegt, wann ein Völkermord ist, aber da steht nichts drin, dass dann eine Entschädigung folgen muss, oder?
Jürgen Zimmerer: Ja, das ist der große Streitpunkt, um den es eigentlich geht: Was folgt aus dem Eingeständnis eines Völkermordes? Das ist auch der Grund, warum die Bundesregierung im Grunde bis letztes Jahr sich geweigert hat, den Begriff Genozid im Zusammenhang mit den Herero und Nama zu verwenden. Und erst im Gefolge der Diskussion um die Armenien-Resolution des Bundestages musste eigentlich diese Position aufgegeben werden.

Völkermord verjährt nicht

Deutschlandradio Kultur: Aber nochmal zu der Frage jetzt: Folgt denn etwas? Also, Völkermord ist ein Verbrechen. Verbrechen müssen bestraft werden, sagt man simpel. So. Verbrechen verjähren. Mord verjährt nicht.
Jürgen Zimmerer: Völkermord verjährt nicht.
Deutschlandradio Kultur: Gibt es jetzt eine internationale – also wie diese UN-Konvention – gibt es jetzt auch eine andere internationale Regelung, die sagt, wenn Völkermord, dann?
Jürgen Zimmerer: Nein, es gibt… also, das ist umstritten. Es folgt in der UN-Konvention eigentlich nicht, dass direkt im Grunde Entschädigung, Wiedergutmachung gezahlt werden muss. Also die Bundesregierung stellt sich ja jetzt auch in der neuesten Stellungnahme letzte Woche auf den Standpunkt, es war jetzt Genozid, wir geben das zu, aber es gibt, das hat keine rechtlichen Folgerungen.
Die Frage nach Reparationen oder Wiedergutmachen wird letztendlich auf moralischem Gebiet entschieden und nicht auf juristischem.
Deutschlandradio Kultur: Also, es ist eine moralische Frage?
Jürgen Zimmerer: Es ist letztendlich meines Erachtens eine moralische Frage, man hat hier auch nicht wahnsinnig viele historische Vergleichsfälle. Das heißt, die ganze Welt schaut sehr interessiert auf die Frage Herero und Nama, Völkermord, Anerkennung, Entschuldigung und diese Verhandlungen, weil das natürlich jetzt einen Präzedenzfall schafft, den man so – oder schaffen kann, den man so nicht hat. Man hat im Grunde keine Erfahrung. Man hat ja kaum Anerkennung von historischen Völkermorden.
Deutschlandradio Kultur: Na ja, vor allen Dingen, weil ja in diesem Fall also die Ereignisse ja 110 Jahre zurückliegen und es so gesehen also keine lebenden Betroffenen mehr gibt, also weder Täter, noch Opfer. Also, Lothar von Trotha würde man ja wahrscheinlich heute vor den Strafgerichtshof in Den Haag stellen.

Bundesregierung: Keine Zahlungen an Nachkommen

Jürgen Zimmerer: Das sagte ja schon die damalige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul 2004: Man würde Lothar von Trotha an den Internationalen Strafgerichtshof als Kriegsverbrecher überstellen. Aber die Täter sozusagen sind alle tot und auch im Grunde die Opfer sind tot. Nur ist da natürlich wieder das Problem bei Völkermord, dass die Opfer generell sehr häufig tot sind und im Grunde die ganze Rechtsprechung und Wiedergutmachungspraxis darauf abzielt, man entschädigt im Grunde Überlebende. Also, der klassische Fall ist die jüdischen oder die osteuropäischen Zwangsarbeiter während des Dritten Reiches. Die Überlebenden bekamen dann eine minimale Zahlung. Man kann ja gar nicht sagen Wiedergutmachung oder Entschädigung für das Leid, aber es gab dann eben Zahlungen dafür. Und eben der Standpunkt der Bundesregierung war immer: Es gibt keine Zahlungen an die Nachkommen von Getöteten.
Jetzt wissen aber auch alle Beteiligten, dass das natürlich in puncto Holocaust so auch nicht ganz richtig ist. Dass es natürlich Formen der Wiedergutmachung oder der versuchten Wiedergutmachung zum Beispiel gegenüber dem Staat Israel gab, die wahrscheinlich juristisch nicht notwendig waren, die aber natürlich moralisch geboten waren und überlebenswichtig waren auch für den deutschen Staat nach 1949.
Deutschlandradio Kultur: Also aus politischen Gründen natürlich, damit die Bundesrepublik Deutschland wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen wird, der Paria. Da gab es ja auch ein Pauschalabkommen mit Israel, also Globalabkommen, auch mit anderen Staaten, die von dem Dritten Reich überfallen worden waren.
Jetzt bei diesen Verhandlungen ist es eben anders. Also, es gibt keine Überlebenden mehr. Es verhandeln Regierungsvertreter, Sonderbeauftragte, auf der deutschen Seite Ruprecht Polenz, auf der namibischen Zedekia Ngavirue, ich weiß nicht, ob ich es richtig ausgesprochen habe, auch ein Herero. Die Herero sind eine Minderheit heute in Namibia, habe ich gelernt. Und es gibt Einige, ob es die Mehrheit ist oder nicht, kann ich überhaupt nicht einschätzen, die sagen: Hey, wir wollen mit am Verhandlungstisch sitzen und wir wollen direkt und individuell entschädigt werden.
Jürgen Zimmerer: Rechtsstandpunkt der Bundesregierung ist, es gibt keine direkten Entschädigungen für die Nachkommen von Ermordeten, von Opfern. Sie sagten, es gab…
Deutschlandradio Kultur: Ja, genau. Und…
Jürgen Zimmerer: …Pauschalabkommen. Das heißt, die Bundesregierung sagt, sie verhandelt mit der namibischen Regierung. Also man nicht entschädigt nicht direkt die Nachkommen. Und ein Staat verhandelt nur mit einem anderen Staat. Das war bisher auch immer der Punkt, warum die verschiedenen Versuche der Herero, gegen die Bundesrepublik Deutschland zu klagen, ja nicht erfolgreich waren, weil eine Gruppe keinen Staat verklagen kann.
Deutschlandradio Kultur: Ja…
Jürgen Zimmerer: Und deshalb gibt es Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland.
Deutschlandradio Kultur: Genau. Was würden Sie denn machen? Würden Sie denn die Urenkel persönlich, individuell direkt entschädigen? Also, geplant ist ja, das können wir ja schon mal vorweg nehmen, geplant ist ja eine gemeinsame sogenannte Zukunftsstiftung mit Jugendaustausch unter anderem zwischen den beiden Staaten, mit Beihilfen zur Ausbildung, zum Studium usw. und so diverse Infrastrukturprojekte. Es wird immer das Stichwort Meerwasser-Entsalzungsanlage genannt. Halten Sie es für angemessener, richtiger, individuelle Entschädigungssummen zu zahlen?

Starre Haltung Deutschlands erschwert Aussöhnung

Jürgen Zimmerer: Also, ich finde, es steht mir auch gar nicht zu, zu entscheiden, was richtig oder falsch ist.
Deutschlandradio Kultur: Ja, weil ich so einen kritischen Unterton bei Ihnen durchhöre der Bundesregierung gegenüber. Deswegen…
Jürgen Zimmerer: Nein. Also, ich meine ich habe ja selber ein Papier geschrieben letztes Jahr, wo ich versucht habe, unterhalb der Frage der direkten Reparationen überhaupt Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, wie man die Frage der Wiedergutmachung oder der Reparationen in den Griff bekommen kann, ohne dieses extrem schwierige Kapitel der individuellen Zahlungen immer als erstes zu beantworten.
Denn Aussöhnung, und es geht ja hier um Aussöhnung, Entschuldigung, Aussöhnung, Schuldanerkenntnis, ist ja natürlich ein Prozess. Und dieser Prozess leidet eigentlich im Moment darunter, dass die eine Seite sehr genaue Vorstellungen hat, die deutsche Seite sehr genaue Vorstellungen hat, was geht und was nicht geht, und die Opferseite im Grunde eigentlich nur akzeptieren kann oder soll, was die deutsche Seite vorschlägt.
Und die Frage ist ja jetzt schon mal: Wer ist denn die Seite, mit der man verhandelt? Nach dem Standpunkt der Bundesregierung ist es die namibische Regierung. Nun ist die namibische Regierung als Verhandlungsführer von einem Teil der Herero und Nama anerkannt, von einem Teil der Herero und Nama nicht anerkannt. Aber auch das ist noch nicht das Ende des Problems. Denn als Folge dieses Völkermordes hat man eine Nama- und vor allem eine Herero-Diaspora in Südafrika, in Botswana, in den USA, in Berlin, in vielen Ländern. Und meines Wissens hat sich noch niemand Gedanken gemacht, wie man eigentlich überhaupt feststellen könnte, wer dafür spricht, wie diese Diaspora-Gesellschaften eigentlich einbezogen werden können.
Und das ist auch der Fehler oder eine Fehlannahme, dieses: Man verhandelt nur mit anderen Regierungen, dass Opfer von Völkermord, die dann auch in der Minderheit sind, gar nicht sich in einem nationalen Rahmen konstituieren und es eben Exil- oder Diaspora-Herero gibt, die im Moment schwer einbezogen werden können.
Deutschlandradio Kultur: Man kann ja vielleicht sagen, dass es auf jeden Fall praktikabler erstmal ist, mit einer, auch demokratisch gewählten Regierung zu sprechen für eine deutsche Bundesregierung. Und Sie haben gerade gesagt, die Position der Deutschen steht fest. Das hat ja Ruprecht Polenz tatsächlich auch, der Sonderbeauftragte, wortwörtlich so gesagt. Und die deutsche Position ist nicht verhandelbar, so dass man sich natürlich fragt: Was sind das dann für Verhandlungen? Und er hat schon genannt, was eben bei diesen Verhandlungen herauskommen wird, nämlich eine gemeinsame Erklärung beider Parlamente. Da darf die namibische Seite offenbar jetzt einen Textvorschlag einbringen, in dem das deutsche Vorgehen eindeutig als Völkermord bezeichnet wird. Es soll eine offizielle Entschuldigung von deutscher Seite dafür geben und eben die erwähnte Stiftung und Infrastrukturprojekte finanziert werden. Das ist doch, um es jetzt mal so zu sagen, schon mal was.
Jürgen Zimmerer: Was denn?
Deutschlandradio Kultur: Na. Also, wir haben einen wesentlich besseren Stand als 2012 zum Beispiel vor vier Jahren, wo die Grünen-Fraktion und auch die SPD-Fraktion unter der Führung von einem gewissen Frank Walter Steinmeier den Bundestag aufgefordert hatte, das als einen Völkermord zu benennen, und die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung, also CDU, FDP, hat das abgelehnt.
Und heute ist Frank Walter Steinmeier Außenminister. Und, siehe da, der Deutsche Bundestag wird beschließen, es handelte sich um einen Völkermord. Insofern ist es doch ein Fortschritt.

Bundestag muss Völkermord anerkennen

Jürgen Zimmerer: Ja, der Bundestag wird das wohl beschließen. Er wird es wohl offiziell anerkennen, weil er im Zuge der Diskussion der letzten Wochen und Monate über die Armenien-Resolution eigentlich die Kontrolle über das Verfahren auch verloren hat und im Grunde jetzt ja reagieren muss. Es ist ja nicht so, es ist ja nicht…
Deutschlandradio Kultur: Man muss aber fairerweise sagen, Herr Zimmerer, Entschuldigung, man muss es fairerweise sagen, dass der Sprecher des Außenministers im vergangenen Jahr schon von Völkermord gesprochen hat und dass Ruprecht Polenz auch schon länger verhandelt als seit dem 2. Juno, als die Armenien-Resolution im Deutschen Bundestag beschlossen wurde.
Jürgen Zimmerer: Ja, beschlossen wurde – ich sagte, diskutiert wurde. Ich beziehe mich auf den April letzten Jahres, als die Terminologie Völkermord im Grunde von Norbert Lammert ja in einem Gastbeitrag in der ZEIT zum ersten Mal von höherer parlamentarischer Seite ins Spiel gebracht wurde und dann das Auswärtige Amt ja auch am 9. oder 10. Juli 2015 gesagt hat: Wir nennen es jetzt Völkermord. Bis dahin war die Leitlinie, es ist kein Völkermord. Noch 2012 hatte die Bundesregierung ja auch in einer Kleinen Anfrage erklärt, man könne den Begriff Völkermord nicht rückwirkend anwenden. Die UN-Konvention tritt 1948 in Kraft. Man könne das gar nicht rückwirkend anwenden.
Das fiel natürlich im Grunde mit der Entscheidung, dass man überhaupt drüber diskutiert, ob man den Völkermord an den Armeniern anerkennt, der ja auch weit vor 1948 ist. Es ist ja auch eine absurde Position, wenn man eigentlich weiß, dass ja auch der Holocaust vor 1948 geschehen ist.
Deutschlandradio Kultur: Und das bewahrheitet sich wieder das schöne deutsche Sprichwort: Wer mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern auf sich zurück.
Jürgen Zimmerer: Ja, wenn man…
Deutschlandradio Kultur: Es ist ein bisschen peinlich, dass man die Armenien-Resolution vor der Namibia-Resolution beschließt.
Jürgen Zimmerer: Das war natürlich unglaublich ungeschickt, weil es natürlich auch Kritikern der Resolution im Grunde ermöglicht hat zu sagen, ihr legt da eine Doppelmoral zur Schau. Man hätte es ja auch umdrehen können. Also, natürlich hat man da einiges erreicht, aber man hat es natürlich erreicht so salamimäßig, scheibchenweise. Wo man eigentlich sagt, als man noch die Möglichkeit hatte, vielleicht den großen Wurf zu landen, wollte man noch gar nichts machen oder kaum was machen, weil man das Thema unterschätzt hat. Und seitdem läuft man eigentlich den Ereignissen etwas hinterher.
Letzte Woche hat ja die Bundesregierung dann nochmal bestätigt, ja, wir stellen uns hinter den Sprecher des Auswärtigen Amtes vom letzten Juli. Auch wir bezeichnen es als Völkermord. Aber am Tag vorher hatte der namibische Präsident erklären lassen in Windhuk, dass das Auftreten des Sondergesandten und des deutschen Botschafters die guten deutsch-namibischen Beziehungen zu gefährden drohe. Und das ist natürlich schon auf diplomatischer Ebene, also, es sind sehr deutliche Worte. So etwas sagt man eigentlich nicht.
Und der Stein des Anstoßes war: In der letzten Verhandlungsrunde wurde vereinbart, man verhandelt jetzt und man würde das intern machen. Und anschließend gab es offenbar – so ist die namibische Sichtweise – auf jeden Fall eine Pressekonferenz des deutschen Sondergesandten und des deutschen Botschafters, in der die sagten: Es gibt keine direkten finanziellen Zahlungen, es muss abgeschlossen sein vor der Bundestagswahl, sonst ist das alles vom Tisch, weil wir nicht wissen, was dann passiert. Und die Entschuldigung muss noch im März erfolgen, weil Bundespräsident Gauck dann aus dem Amt scheidet und er möchte das persönlich machen. – Und das hat sehr viele in Namibia sehr verärgert, die im Grunde sinngemäß sagten: Also, wenn ihr schon ganze Völker umbringt, dann schreibt doch nicht auch noch vor, wie wir uns auszusöhnen haben.
Und das ist natürlich jetzt ein Punkt, der dann doch die Frage stellt: Wer sucht eigentlich die Vergebung der Schuld bei wem? Und wer entschuldigt sich bei wem? Und wer sucht um Aussöhnung nach?

Rein symbolische Akte werden nicht reichen

Da, würde ich sagen, es fehlt grundsätzlich am Verständnis dessen, was eigentlich vor 110 Jahren dort passiert ist und welche Auswirkungen es hat. Es ist ja nicht für die Namibier ein historisches Ereignis. Die Landverteilung in Zentral-Namibia, dass viele weiße Farmer das Land besitzen und Herero kaum, geht direkt auf diesen Völkermord und auf die darauffolgende Enteignung zurück. Ich sagte das ja schon am Beispiel Schneider-Waterberg, der seitdem am Waterberg eine Farm hat.
Und das muss man irgendwie in den Griff kriegen. Ob das direkte Zahlungen sind oder ob man sich stärker beteiligt, dass es zu einer Landreform kommt, da drüber, glaube ich, kann man trefflich streiten. Und da gibt es auch unter den Herero und Nama durchaus unterschiedliche Positionen. Aber sich hinzustellen und sagen, das geht gar nicht, es geht nur auf symbolischer Ebene, das wird nicht reichen.
Deutschlandradio Kultur: Aber ist das nicht auch eine Aufgabe der namibischen Regierung, da für einen Ausgleich zu sorgen?
Jürgen Zimmerer: Ja, das wäre natürlich die Aufgabe der namibischen Regierung, aber wir haben hier halt einfach ganz spezielle Situationen. Zum Einen, dass ein Teil der Herero- und Nama-Politiker Oppositionspolitiker sind, dass die namibische Regierung ja jetzt sagt, wir wollen nicht einzelne Gruppen herausgreifen lassen, sondern wir alle wurden Opfer des Völkermordes, was so ja auch historisch nicht ganz stimmt. Es gibt Herero, Nama, teilweise San und Damara, die litten mehr unter diesem Völkermord als zum Beispiel die Owambo. Und jetzt zu sagen, wir ziehen das auf die nationale Ebene und da hat man den Sonderfall, diesen kolonialen Fall, dass indigene Gruppen halt zum Teil auch in den postkolonialen Nationalstaaten unterschiedlich repräsentiert sind. Und ein Fakt, dass die Herero mittlerweile eine relativ kleinere Minderheit im Land sind, ist auch eine der Auswirkungen des Völkermordes und dieser Diaspora-Situation. Und man kann das nicht ganz ausblenden.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn ich Sie richtig verstehe, verlangen Sie von der deutschen Bundesregierung, dass sie das zumindest mal also sieht und berücksichtigt, wie auch immer dann die praktischen Schritte aussehen.
Ist denn überhaupt, Sie haben ja regelmäßig Kontakt zu Namibia, sind denn überhaupt diese Verhandlungen, die da stattfinden, ein großes Thema in der Öffentlichkeit? Wird das diskutiert auch in den Medien?
Jürgen Zimmerer: Also, man hat ja jetzt, wenn man die letzten drei Wochen nimmt, praktisch jeden Tag ein oder zwei Zeitungsartikel, die darüber berichten, verschiedene Politiker auch streiten. Also es spaltet auch die namibische Gesellschaft, die namibische Politik, wie man sich dazu positioniert.

Anwalt von Holocaust-Opfern vertritt Teile der Herero

Jetzt die neueste Entwicklung ist ja, dass ein Teil der Herero und Nama sich einen, wie es heißt, "Staranwalt" in den USA genommen haben, der eben schon auch Holocaust-Opfer vertreten hat erfolgreich, der Opfer des Terroranschlags vom 11. September vertreten hat und der auch die ukrainische Politikerin Timoschenko vertreten hat. Also offenbar ein Hochkaliber, der jetzt im Namen dieser Herero-Gruppen die sofortige Einstellung der Verhandlungen fordert mit der Begründung: Die Herero und Nama wären nicht adäquat vertreten. Und es würde die UN-Deklaration über das Recht indigener Völker verletzen, die eben vorschreibt, dass indigene Völker einen besonderen Schutz genießen und man sich nicht auf diese Nationalstaats-Ebene zurückziehen kann.
Das heißt, da wird man jetzt sehen, das war also Donnerstagfrüh in der namibischen Presse, was da jetzt herauskommt. Es heißt, er hätte an die Bundesregierung geschrieben. Ich kann das jetzt nicht beurteilen so spontan, wie aussichtsreich das ist, aber dieses Kapitel ist eigentlich noch lange nicht abgeschlossen, auch nicht dieses Kapitel der Verhandlungen. Und dazu trägt auch bei, dass nicht nur auf Staatsebene zwischen den Regierungen verhandelt wird, sondern eigentlich auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Die namibische Gesellschaft tut sich schwer zu erfahren und auch die deutsche Zivilgesellschaft tut sich ja sehr schwer zu erfahren, was eigentlich genau verhandelt wird.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ja das Wesen von Verhandlungen, muss ich in diesem Fall mal einwerfen. Also, ich wüsste jetzt von keinen Verhandlungen, die auf dem Marktplatz ausgetragen werden. Dafür sind ja nun mal auch Regierungen gewählt. Also, selbst Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern finden hinter verschlossenen Türen statt.
Jürgen Zimmerer: Wir reden aber hier nicht über Verhandlungen zwischen Tarifverträge, sondern über angeblich Aussöhnung und Rekonziliation zwischen Völkern, die Anerkennung historischer Schuld. Und dann hat doch die Zivilgesellschaft in beiden Ländern ein Wort mitzureden.
Deutschlandradio Kultur: Ich möchte nochmal auf einen Punkt kommen, wo Sie sagen, Zivilgesellschaft. Man fragt ja immer wieder: Warum hat denn das überhaupt jetzt so lange gedauert, bis die deutsche Bundesregierung auch bereit ist, das Wort Völkermord in den Mund zu nehmen? Und dann wird immer verwiesen auf die deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus, die einfach so monströs waren, dass sie – ja, man kann sagen – buchstäblich andere Verbrechen in den Schatten gestellt haben.

Verzögerung liegt auch an unserem Afrikabild

Also, ich glaube, das stimmt sicher auch, aber ich habe den Eindruck, es liegt auch, und das mag auch ein Grund für die komische deutsche Verhandlungsführung sein, es liegt auch an unserem Afrikabild, was sich im Grunde genommen seit 110 Jahren nicht so wahnsinnig geändert hat. Also, ich bin so aufgewachsen als Kind. Ich kann gar nicht genau sagen, wo irgendwie so in Büchern, in Film, im Fernsehen, irgendwie gab es immer diese wunderbaren netten weißen Missionare, die zu diesen armen Schwarzen gegangen sind und denen also Gebet und Gott gebracht haben und auch ein bisschen Kultur. Und heute kommen jetzt nicht mehr unbedingt so viele Pastoren, aber heute gehen eben die Entwicklungshelfer hin und zeigen den Afrikanern, wie es geht.
Jürgen Zimmerer: Also, es hat sicherlich zum einen mit dem Afrikabild zu tun und zum anderen mit dem Kolonialbild, das man hat. Also, das Bild vom Anderen und das eigene Bild, das eigentlich sagt: Kolonialismus wurde lange Zeit nostalgisch verklärt, ist eben auch so ein Zentralstück unserer europäischen Identität. Also, europäische Werte, Zivilisation ist…
Deutschlandradio Kultur: Ohne uns hätten die keine Eisenbahn.
Jürgen Zimmerer: … überlegen. Und die haben wir nach Afrika gebracht, weil wir besser wussten, wie die zu leben hätten. Deshalb ist es ja auch so fatal, wenn man so eine Pressekonferenz gibt und im Grunde das Gefühl gibt in der Verhandlung, dass man wieder besser weiß, wie man sich auszusöhnen hat, statt einfach mal zuzuhören, was die andere Seite, die darunter gelitten hat und in der die Traumata des Völkermords und anderer Verbrechen… Wir haben 1907, '08 ja auch den ersten Rassenstaat der deutschen Geschichte, der im Grunde aufgebaut wird, mit Rassenschande, mit Verbot von sexuellen Beziehungen zwischen Weißen und Afrikanern, alles in Deutsch-Südwestafrika. Das ist extrem nachwirkend für die deutsche Geschichte und extrem traumatisierend natürlich für die Namibier.
Und immer noch schafft man es kaum oder offenbar nicht, sich hinzustellen und einfach mal zuzuhören. Immer noch weiß man besser, wie es geht. Und das muss natürlich nach dem Terminkalender oder Zeitplan der Bundesregierung oder des Bundespräsidenten gehen. Dass das die Leute erneut vor den Kopf stößt und im Grunde sagt, ihr habt ja diesen kolonialen Blick überhaupt nicht abgelegt, das muss man schon auch verstehen.
Deutschlandradio Kultur: Danke, Herr Prof. Zimmerer.
Prof. Jürgen Zimmerer, geboren 1965 in Wörth an der Donau, ist Historiker und Afrika-Wissenschaftler. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Oxford und Freiburg. Seit 2010 ist Zimmerer Professor für Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kolonialismus und Postkolonialismus sowie vergleichende Genozid-Forschung. Buchveröffentlichungen u. a.: "Von Windhuk nach Auschwitz?" und "Völkermord in Deutsch-Südwestafrika.
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