Afghanistan

"So viele Übergriffe wie nie zuvor"

Afghanischer Mann untersucht eine Stelle, an der eine Autobombe explodiert ist (28.11.2013)
Die meisten getöteten Helfer sind Afghanen, auch mehr als 3000 ausländische Helfer sind vor Ort. © dpa / picture alliance / Abdul Mueed
Thomas Ruttig im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 04.12.2013
Die Rückkehr der Taliban mache Afghanistan zu einem gefährlichen Pflaster für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Allein in diesem Jahr starben 36 Helfer.
Korbinian Frenzel: "Nichts ist gut in Afghanistan" – die umstrittene Analyse Margot Käßmanns, der damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, ist vier Jahre alt. Und heute, was muss man heute eigentlich für eine Bilanz ziehen? Ist alles sogar noch ein bisschen schlechter geworden am Hindukusch? Es spricht manches für einen solchen Pessimismus, und sei es allein diese Nachricht: Afghanistan ist das für humanitäre Helfer gefährlichste Land der Welt. Das sagen die Netzwerke von Nichtregierungsorganisationen. Und das sagen sie zu einem Zeitpunkt, zu dem noch immer Zehntausende internationale Soldaten in Afghanistan stationiert sind. Wie wird es dann erst nach dem geplanten Abzug, nach 2014? Thomas Ruttig ist mittendrin, seit Jahren in Afghanistan tätig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network, jetzt hier im Deutschlandradio Kultur im Interview. Guten Morgen, Herr Ruttig!
Thomas Ruttig: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Sie sind einer dieser Helfer, um die es da geht. Beschreiben die Vereinten Nationen, beschreiben auch die Hilfsorganisationen, die diesen Alarmruf ausgesandt haben, die Lage richtig? Hat sich die Lage verschlechtert?
Ruttig: Ja, die Lage hat sich verschlechtert, was die Sicherheit betrifft im Lande. Schon seit vielen Jahren relativ kontinuierlich ist es nach oben gegangen. 2010, 2011 war die Spitze, und 2013 haben wir die wieder erreicht. Und was Übergriffe auf Mitglieder und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen betrifft, liegen die Zahlen so hoch wie nie zuvor. Wir haben 36 getötete Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in diesem Jahr, die meisten davon Afghanen.
Frenzel: Woran liegt das? An der Rückkehr der Taliban?
Ruttig: Das liegt unter anderem auch an der Rückkehr der Taliban. Die Hilfsorganisationen zählen nicht, von wem diese Gewalt ausgeht, aber wir können im Grunde feststellen, dass die meisten dieser Übergriffe von Taliban begangen werden. Auch die letzten zwei harschen Fälle, die zu der Reaktion der UNO in Afghanistan geführt haben – das waren einmal sechs Mitarbeiter einer französischen Hilfsorganisation, die im Norden Afghanistans von Taliban-Kämpfern angehalten worden sind, als sie zu einem Projekt fuhren in einer Gegend, die bekannt dafür ist, dass Taliban dort arbeiten.
Man muss dazu sagen, dass es häufig, sagen wir mal, ungeschriebene Abmachungen zwischen Hilfsorganisationen und den Aufständischen gibt, dass die dort arbeiten können. Aber manchmal verschieben sich da Einheiten, Kämpfer, neue kommen in die Gegend, und die wollen dann manchmal ein Exempel statuieren. Das scheint diesmal der Fall gewesen zu sein. Das war vor einer Woche.
Situation für alle gefährlich
Frenzel: Gibt es so etwas wie neutrale Hilfsarbeit, die von allen Seiten unbehelligt bleibt, zum Beispiel medizinische Hilfe? Oder ist die Situation für alle gleichermaßen gefährlich.
Ruttig: Die Situation ist für alle gleichermaßen gefährlich. Und Sie sprechen da einen wichtigen Faktor an: Natürlich ist Hilfsarbeit eigentlich ja sowieso neutral, weil es um die Ärmsten der Armen geht, die dort unterstützt werden sollen. Aber die Fronten haben sich da in den letzten Jahren auch gerade wegen des Afghanistan-Krieges und in Afghanistan selbst verschoben.
Man muss leider sagen, dass zum Beispiel Spezialkräfte bestimmter auch NATO-Mitgliedsländer zum Teil operiert haben unter dem Deckmantel von Hilfsorganisationen oder bestimmte Zeichen von Hilfsorganisationen missbraucht haben, zum Beispiel in weiß gefärbten Autos, zivilen Autos dort herumgefahren sind, die man normalerweise der UNO zuordnet. Oder mit Nummernschildern von Hilfsorganisationen. Das liegt alles ein paar Jahre zurück, ist aber in den Gedanken auch der Taliban drin. Und die befürchten häufig, dass sich unter dem Deckmantel von solchen Organisationen dann Spione oder militärische Kräfte verbergen.
Das macht es dann auch nicht besser, weil die im Grunde relativ gut im Bilde sind, wer wo ist, aber natürlich werden häufig auch politische Dinge dort ausgetragen. Im Moment wird ja auch in den Taliban diskutiert, soll man Verhandlungen mit Karsai, mit den Amerikanern wieder aufnehmen oder nicht. Oder soll man auf einen militärischen Sieg setzen. Und dann werden häufig die Leute, die im Grunde am leichtesten angreifbar sind, weil sie ja keinen militärischen Schutz haben, angegriffen, wie die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen eben.
Porträt Thomas Ruttig
Thomas Ruttig stimmt zu: "Nichts ist wirklich gut in Afghanistan"© dpa / picture alliance / AAN

Fremde Talibangruppen machen Probleme
Frenzel: Wenn die Lage jetzt schon so schwierig ist, wie Sie sie gerade beschreiben, wie wird es dann erst sein, wenn das Militär, die internationale Militärpräsenz weg ist oder zumindest in großen Teilen weg ist, Ende 2014. Müssen Sie dann nicht eigentlich auch spätestens gehen?
Ruttig: Ja, das wird vor allen Dingen bei den Organisationen befürchtet, die Regierungsorganisationen sind, die ja auch einen großen Teil ausmachen. Dazu zählt dann auch die UNO, oder dazu zählt dann die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Deutschland und so weiter, die von der Regierung finanziert werden, die militärischen Schutz zumindest indirekt auch gebrauchen. Viele nichtstaatliche Organisationen lehnen das ja ab. Aber das macht es dann auch nicht besser, weil die Sicherheitslage im Grunde für alle gleich ist und man sich nicht darauf verlassen kann, dass die Taliban da Unterschiede machen.
Auf der anderen Seite ist es vielleicht sogar möglich, dass in bestimmten Gegenden – man kann nämlich auch nie ein Bild für ganz Afghanistan gleichzeitig zeichnen – die Situation sich vielleicht entspannt, wenn die Soldaten dort weg sind und Hilfsorganisationen vielleicht sogar ein bisschen Spielraum wieder haben werden. Viele dieser Organisation, auch aus Deutschland, sind ja schon viele Jahrzehnte in Afghanistan tätig und haben gute Beziehungen zur Zivilbevölkerung, die dann häufig auch in der Lage ist, mit den Taliban Verbindung aufzunehmen und zu sagen, hört mal, wir arbeiten mit denen schon lange zusammen, die machen das zu unseren Gunsten, und in manchen Gegenden haben die Taliban das auch kapiert, um es mal so zu sagen.
Wir hatten einen Fall 2010, als in einem anderen Teil des Landes zehn Mitglieder einer Organisation getötet worden sind, die schon auch über 30 Jahre im Land waren. Das waren Augenärzte. Es stellte sich hinterher heraus, das war eine aus Pakistan zugewanderte, ich sag jetzt mal, fremde Taliban-Gruppe, und die örtlichen Taliban haben dann auch öffentlich erklärt, das sind Mörder, und haben sich davon distanziert. Das macht die auch nicht wieder lebendig, zeigt aber, dass die Situation sehr differenziert betrachtet werden muss.
"Nichts ist wirklich gut in Afghanistan"
Frenzel: Es ist also in Bewegung. Ich kann mir eins nicht ganz ersparen, doch noch mal den Draufblick auf diese ganze lange Mission, die wir da erlebt haben. Zehn Jahre, Hunderttausende Soldaten, die aus dem Westen, aus vielen Staaten dort waren. Über 40 Milliarden Dollar Aufbauhilfe. Und dann habe ich gestern eine Lageeinschätzung des UNO-Flüchtlingshilfswerks bekommen, die liest sich so, dass das hohe Ausmaß an Gewalt und Unsicherheit derart schlimme Auswirkungen hat, dass also Bildung, Gesundheitsvorsorge, Teilhabe am öffentlichen Leben, insbesondere für Frauen, eigentlich de facto nicht mehr möglich sind, systematisch beschränkt werden. Wie kann es sein – eine solche Bilanz nach einem derart massiven internationalen Einsatz?
Ruttig: Ja, da kann man das Käßmann-Zitat wieder aufnehmen: Nichts ist wirklich gut in Afghanistan, würde ich auch sagen. Vieles ist besser geworden in Afghanistan in den letzten Jahren, auch durch den Einsatz von Mitteln und Personal. Das ist ja nicht nur Militär, es sind auch über 3300 zivile Helfer insgesamt in Afghanistan, ausländische. Aber in einigen Gegenden gibt es einen Rollback, verschlechtert sich die Situation wieder. Und weil eben die Sicherheit nach unten zeigt, die Sicherheitskurve, trauen sich viele afghanische Familien nicht mehr, ihre Kinder in manchen Gegenden in die Schule zu schicken. Man hat nicht mehr wirklich guten Zugang zu den neuen Gesundheitseinrichtungen, die ja durchaus gebaut worden sind. Und da ist dann schon ein direkter Zusammenhang zu dem ja eigentlich, wenn man es militärisch nur betrachtet, zu frühen Abzug der Truppen, und man halt befürchten muss, dass die Afghanen mit ihren Problemen zu früh alleine gelassen werden.
Frenzel: Afghanistan wird immer gefährlicher für Hilfsorganisationen, aber die Hoffnung stirbt zuletzt, zumindest bei Thomas Ruttig, dem Direktor des Afghanistan Analysts Network. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Ruttig: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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