Afghanistan

"Schwerste Anschläge seit 2011"

Das Wohnviertel von Kabul nach der Explosion eines Lkw, der mit Sprengstoff beladen war.
Das Wohnviertel von Kabul nach der Explosion eines Lkw, der mit Sprengstoff beladen war. © picture-alliance / dpa / Hedayatullah Amid
Thomas Ruttig im Gespräch mit Ute Welty · 08.08.2015
Die Anschlagserie mit 40 Toten und Hunderten Verletzten allein in Kabul in den letzten 24 Stunden sei Teil der Sommeroffensive der radikalislamischen Taliban. Ihre Intensität könnte auf einen internen Machtkampf zurückgeführt werden, vermutet der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.
Der Co-Direktor des Think-Tanks Afghanistan Analysts Networks (AAN), Thomas Ruttig, sieht die Anschlagserie in der afghanischen Hauptstadt Kabul als Teil der Sommeroffensive der radikalislamischen Taliban, die sich vor dem Hintergrund interner Machtkämpfe in der Talibanführung abspielt.
"Es waren wirklich große Explosionen, wahrscheinlich die schwersten Anschläge seit 2011", berichtete der Co-Direktor des Think-Tanks Afghanistan Analysts Networks (AAN), im Deutschlandradio Kultur über die Ereignisse gestern in Kabul mit 40 Toten und Hunderten Verletzten innerhalb von 24 Stunden. Die diesjährige Taliban-Sommeroffensive sei stärker als in den vergangenen Jahren und spiele sich bereits seit einiger Zeit vor allem in den Provinzen ab.
Machtkampf innerhalb der Taliban
Der Machtkampf innerhalb der Taliban und der Streit über die im Juli begonnen Friedensgespräche zwischen Taliban und Regierung spiele möglicherweise eine Rolle. Darauf verweise der Zeitpunkt der Anschläge, jetzt kurz nach Bekanntgabe des Todes von Mullah Omar und dem internen Streit über die Legitimation des neuen Führers Mullah Achtar Mansur. Allerdings müsse dies noch genauer analysiert werden, sagte Ruttig angesichts der Anschlagserie in Afghanistan.
Taliban-Hardliner gegen Friedensgespräche - IS lediglich Randerscheinung
"Man könnte möglicherweise von strategisch platzierten Anschlägen sprechen", so Ruttig weiter. Ob es sich dabei um Aktionen der Taliban-Hardliner gegen Friedensgespräche handle, sei aber noch offen. Die Gefahr des Zusammenschlusses von Taliban und der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS), die sich auch in Afghanistan etablieren will, sieht Ruttig aktuell nicht. Der IS in Afghanistan sei bisher lediglich eine Randerscheinung, die von den Taliban selbst oder Drohnenschlägen der US-Armee bereits wieder vernichtet seien.
Eine künftige Spaltung der Taliban hält Ruttig für möglich. Im Kampf um die Vorherrschaft unter den Taliban könne es dem neuen Führer Mullah Achtar Mansur aber auch gelingen, die Bewegung zusammenzuhalten. Dann könnten sich Abspaltungen dem IS zuwenden, erklärte der Mitbegründer des Afghanistan Analysts Networks AAN, einer unabhängigen Rechercheorganisation mit Sitz in Berlin und Kabul.
_________________________________________
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Sie haben es eben in den Nachrichten gehört, wahrscheinlich haben Islamisten ein Hotel in Mali überfallen und Geiseln genommen. Der selbsternannte Islamische Staat kontrolliert inzwischen weite Teile des Irak und von Syrien, und auch in Afghanistan verüben radikale Kräfte immer wieder Anschläge. In den letzten 24 Stunden ist es zu einer regelrechten Anschlagsserie mit vielen Toten und Verletzten gekommen. Auch ein Bericht der Vereinten Nationen sagt, die Sicherheitslage wird immer schwieriger. Das bestätigt auch der Grünen-Politiker Winfried Nachtwei, ehemals sicherheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion, hier im "Studio 9"-Interview.
Winfried Nachtwei: Nach diesem UN-Bericht ist die Situation in Afghanistan weiterhin und zunehmend dramatisch, weil nämlich die Zahl der Zivilopfer von Jahr zu Jahr immer mehr zunimmt und in diesem ersten Halbjahr wieder einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Im Moment ist es so, dass IS sozusagen eine Marke ist, zu der sich dann also eben Abtrünnige und so weiter bekennen, aber über Internetpropaganda können sich solche Sachen sehr schnell entwickeln. Auf der anderen Seite, Taliban gehen sehr massiv und militant gegen entdeckte IS-Kräfte vor, es hat schon erste Kämpfe dazu gegeben, also es ist ein Frühstadium von Festsetzen von IS, aber das kann relativ schnell sich anders entwickeln.
Welty: Soweit der Grünen-Politiker Winfried Nachtwei. Wie sich die Lage im Land selbst darstellt und wie die Taliban sich genau aufstellen, das kann uns jetzt Thomas Ruttig in Kabul erklären. Er ist Kodirektor des Afghanistan Analysts Network. Guten Morgen, Herr Ruttig!
Thomas Ruttig: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie haben Sie diese Anschlagsserie in Kabul in den vergangenen Stunden erlebt?
Wirklich große Explosionen, wahrscheinlich die schwersten Anschläge seit 2011
Ruttig: Ja, es war ein erschütternder Tag gestern, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir leben hier etwas westlich des Zentrums von Kabul, wir waren nicht direkt betroffen, sondern wir haben es gestern nur ganz früh in der Nacht und am Abend mehrmals es ziemlich laut knallen gehört, und dann weiß man hier natürlich, dass viele Menschen dabei zu Schaden kommen. Es waren wirklich große Explosionen, wahrscheinlich die schwersten Anschläge seit 2011, und dann muss man erst mal sehen, wie es vor allem dem afghanischen Freunden und Mitarbeitern geht. Man weiß ja ungefähr, wann in welchen Gegenden was passiert ist. Es ist schon wirklich schwer zu verarbeiten, wenn man da mittendrin sitzt.
Welty: Die Taliban haben ja immer wieder zu sogenannten Sommeroffensiven angesetzt, erleben wir in diesem Sommer, 2015, nicht nur eine Häufung von Anschlägen, sondern auch eine neue Qualität?
Ruttig: Ja, so merkwürdig, wie sich das anhören mag, die Sommeroffensive läuft a) schon eine ganze Weile, die ist auch stärker als in den vergangenen Jahren, aber das spielt sich vor allen Dingen in den Provinzen ab. Und da hören wir trotz großen Auseinandersetzung, der internationalen, in den Nachrichten sehr wenig. Und auch wenn die Anschläge gestern im Grunde drei an einem Tag sehr wohl auch in Kabul noch nicht vorgenommen sind, gibt es immer wieder Anschläge auch von dieser Größe, zum Teil größer, sodass man jetzt – ich würde jetzt nicht von einer neuen Qualität sprechen, auch wenn man natürlich erschüttert ist und auch hier die Reaktionen unter den Afghanen sehr, sehr wütend sind, vor allem den Taliban gegenüber, die sich allerdings auch nur zu einem der drei Anschläge offiziell bekannt haben – andererseits kann man sich auch nicht vorstellen, wer das sonst gemacht haben sollte. Und auch in der afghanischen Regierung, die natürlich es nicht geschafft hat mit ihren Sicherheitskräften, die Anschläge zu verhindern, und auch der gegenüber gibt es einige ziemlich wütende Stimmen, wenn man hier afghanische Medien liest und sozusagen Netzwerke beobachtet.
Welty: Welche Rolle spielt der Führungsstreit in diesem Zusammenhang, innerhalb der Taliban? Der neue Führer Mullah Mansur ist ja intern umstritten.
Streit um die Ernennung des neuen Talibanchefs Mullah Mansur
Ruttig: Ja, das ist im Moment noch zu früh zu sagen, ob das direkt miteinander zusammenhängt. Allerdings, wenn man sich gestern den Anschlag anguckt, der kommt eben kurz nach der Bekanntgabe des Todes von Mullah Omar und der Ernennung des neuen Talibanchefs Mullah Mansur und dem Streit darüber, ob er nun legitim an die Spitze der Bewegung gekommen ist oder nicht. Und die letzten größeren Anschläge davor in Kabul kamen auch genau an dem Tag, als in Pakistan zum ersten Mal Vertreter der afghanischen Regierung mit Vertretern der Taliban zusammensaßen. Also man könnte möglicherweise von strategisch platzierten Anschlägen sprechen, aber ob diese Anschläge nun im Namen des neuen Talibanführers begangen worden sind oder ob es da eine Hardliner-Fraktion gibt, die versucht, jegliche Kontakte mit der afghanischen Regierung unmöglich zu machen, um dann irgendwann Friedensgespräche zu haben, daran müssen wir, glaube ich, erst mal noch besser analysieren. Wir haben ja bis jetzt nur sehr wenig wirkliche Informationen vorliegen, was da passiert ist. Was klar ist, ist, dass militärische Installationen angegriffen worden sind, die Polizeiakademie in Kabul, ein Büro des Geheimdienstes und ein Büro der Drogenbekämpfung, wo es auch eine Basis von amerikanischen Special Forces gibt. Aber das Problem ist, die liegen halt in Wohngebieten, und vor allen Dingen kommen dann halt immer wieder Zivilisten zu Schaden, gestern mehrere Hundert Verletzte, 25 tote Polizeikadetten, mindestens 15 Tote bei den beiden anderen Anschlägen, auch ein Special-Forces-Angehöriger muss wohl unter den Toten sein.
Welty: Für wie groß halten Sie, Herr Ruttig, die Gefahr, die auch Winfried Nachtwei beschrieben hat, nämlich dass es zu Zusammenschlüssen kommt mit den Terroristen des Islamischen Staats?
Der IS oder Daish ist nur eine Randerscheinung in Afghanistan
Ruttig: Ja, ich glaube, das ist ein Phänomen, was, wie Herr Nachtwei auch schon gesagt hat nur eine Randerscheinung ist das ja in Afghanistan. Gestern ist der Begriff IS oder Daish, wie es hier genannt wird, unter den Afghanen in keinem einzigen Kommentar gefallen. Die Gefahr besteht hier Unterbrechung der Telefonleitung gestalten sollte, und auch das ist erst mal noch Zukunftsmusik, das muss man einfach sehen. Vielleicht gelingt es denen auch, dem neuen Führer auch, die Bewegung zusammenzuhalten, was auch immer das nachher bedeutet für die Sicherheits- und Anschlagslage, dass dann sich radikale Gruppen, die jetzt noch Taliban sind, diesem IS anschließen könnten. Aber es gibt auch gar keine direkten Beziehungen zwischen dem IS in Syrien, im Irak und hier in Afghanistan, Pakistan. Da sind ein paar, ich sag jetzt mal, untendurchgeknallte Randgruppen, die sich dem IS zugehörig erklärt haben, und – wie Herr Nachtwei vorhin auch gesagt hat – die meisten dieser Gruppen sind auch von den Taliban und durch Drohnenschläge der USA schon wieder vernichtet worden. Also die haben im Grunde nur eine gewisse Basis, in einer Provinz im Osten, in Nangarhar. Das eigentlich Problem sind die Taliban.
Welty: Aus Kabul der Afghanistan-Analyst Thomas Ruttig über die Sicherheitslage des Landes. Ich danke für Ihre Einschätzungen hier in Deutschlandradio Kultur, und wir bitten die zum Teil ein bisschen komplizierte Qualität der Telefonleitung zu entschuldigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema