Afghanische Bundeswehr-Mitarbeiter als "erste Zielscheibe von Aufständischen"

29.11.2012
Übersetzer, Fahrer, Köche: Mehr als 3000 Afghanen arbeiten für die Bundeswehr und deutsche Hilfsorganisationen. Sie und ihre Familien könnten nach dem Abzug der internationalen Truppen Opfer der Taliban werden. Deutschland ist daher moralisch verpflichtet, diese Menschen aufzunehmen, meint der Grünen-Politiker Omid Nouripour.
Britta Bürger: Mehr als 3000 einheimische Afghanen, sogenannte Locals, arbeiten vor Ort für die Bundeswehr und für deutsche Hilfsorganisationen. Sie sind besonders gut ausgebildet und zählen zur liberalen Elite ihres Landes: Übersetzer, Fahrer, Köche. Was aber passiert mit ihnen, wenn sich die ISAF-Streitkräfte 2014 weitgehend aus Afghanistan zurückziehen. Als Helfer der Deutschen sind sie potenzielle Opfer der Taliban. Inwieweit steht Deutschland hier also in der Verantwortung? Darüber sprechen wir jetzt mit Omid Nouripour, dem sicherheitspolitischen Sprecher der Fraktion Bündnis 90/die Grünen im Bundestag. Guten Tag, Herr Nouripour.

Omid Nouripour: Schönen guten Tag!

Bürger: Sie haben sich ja mehrfach vor Ort ein Bild von dem Einsatz in Afghanistan gemacht. Welche Bedeutung hat die Arbeit der sogenannten Locals?

Nouripour: Die Arbeit der Locals ist unglaublich wichtig, ohne sie könnten wir international weder im militärischen noch im zivilen Bereich arbeiten. Es wäre schlicht nicht möglich ohne Übersetzer, ohne Leute, die das Land erklären, Brücken bauen, Verbindungen herstellen, fahren, weil sie die Wege bestens kennen – ohne diese Leute könnte dort weder die Entwicklungszusammenarbeit weiterhin vorangehen, noch könnten die Militärs dort irgendwas auf die Beine stellen.

Es gibt eine lange Liste von Arbeiten, die dort gemacht werden von den Locals, beginnend mit der klassischen Übersetzungsarbeit, aber auch gleichzeitig kulturelle Glättung von Missverständnissen zum Beispiel. Ich habe das häufig selbst, sehr häufig in ernsten in lustigen Situationen erlebt, in denen ein Sprachmittler Missverständnisse, die schlimm hätten ausgehen können, en passant glattgebügelt hat und dazu beigetragen hat, dass die Zusammenarbeit tatsächlich funktioniert hat. Es sind Leute, die fahren, es sind Leute, die in die Dörfer gehen und so Kontakte herstellen, Erstgespräche führen, zum Beispiel, bevor zivil-militärische Zusammenarbeit dort überhaupt anrücken kann. Also die Arbeit ist fundamental.

Bürger: Wie sicher beziehungsweise gefährdet ist die Lage dieser Menschen, die derzeit im Dienst der Bundeswehr oder deutscher Hilfsorganisationen stehen, wenn sich Deutschland am Hindukusch zurückzieht? Was haben Ihnen die Leute möglicherweise selbst erzählt über die Gefährdung?

Nouripour: Es ist eine große Angst da, das ist nun mal die Kehrseite dieser Tätigkeit, die sie aufgenommen haben. Sie werden in der Wahrnehmung breiter Teile auch der afghanischen Bevölkerung als Menschen gesehen, die mit den Deutschen, die mit den Ausländern, mit den Westmächten, gegebenenfalls, im schlechtesten Falle auch mit den ausländischen Militärs zusammengearbeitet haben. Und in einer Situation, in der dann der Schutz wegfällt, durch die Bundeswehr beispielsweise, sind sie die erste Zielscheibe von Aufständischen, die heranrücken könnten in die jeweiligen Orte. Deshalb sind sie besonders ängstlich, weil sie, wie ich glaube, zu Recht sehen, dass sie am allermeisten gefährdet sind, aber nicht sie alleine, sondern auch ihre Familien. Ich kenne einen Fall, bei dem Kinder unter zwölf Jahren entführt worden sind von Aufständischen, weil sie gesagt haben, dein Vater arbeitet mit den Deutschen zusammen und ist deshalb ein Kollaborateur. Und das ist natürlich eine unerträgliche Situation, für die Leute, die uns die Arbeit einfacher gemacht haben in den letzten elf Jahren.

Bürger: Sollten diese Menschen bedroht werden, nur weil sie für uns gearbeitet haben, hat Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière gerade erklärt, dann müssen ihnen und ihren Familien eine Zukunft in Deutschland ermöglicht werden. Halten Sie, Herr Nouripour, eine Evakuierung und anschließende Einbürgerung in Deutschland für sinnvoll und geboten?

Nouripour: Ich finde das völlig richtig, dass Deutschland die moralische Verpflichtung auch wahrnimmt, die wir haben, weil wir uns der Dienste dieser Menschen tatsächlich bedient haben und deren Fähigkeiten bedient haben, und deshalb dazu auch beigetragen haben, dass sie und ihre Familien nun gefährdet sind. Der Verteidigungsminister hat völlig recht: In den Fällen, in denen jemand bedroht ist, weil er für uns gearbeitet hat und in den Fällen, in denen er keinen Schutz mehr hat, weil die Bundeswehr weg ist, brauchen diese Leute unbedingt Hilfe. Und in den meisten Fällen ist die effizienteste Hilfe für diese Leute und ihre Familien - und wir reden über eine wirklich überschaubare Zahl von Personen - tatsächlich, dass man sie nach Deutschland bringt.

Bürger: Was heißt überschaubare Zahl?

Nouripour: Es gibt eine kleine vierstellige Zahl von Leuten, die da gearbeitet haben und arbeiten für die Bundeswehr und für Entwicklungszusammenarbeit, Organisation ...

Bürger: An die 3000 Menschen?

Nouripour: ... an die 3000, wobei das nicht alle betreffen wird, dass man sie herholen muss, es wird weniger sein, und sie und ihre Familien - wir reden hier über eine Zahl, die vielleicht an die Fünfstelligkeit heranragt, aber wenn man bedenkt, dass wir 10.000 Menschen - ich glaube, höchstens 10.000 Menschen - aufnehmen sollten, und dann in Relation setzt, wie sie ihr Leben riskiert haben, auch, damit die Entwicklungszusammenarbeit vorangehen kann, damit die Bundeswehr ihre Arbeit machen kann, und auch - das darf man nicht vergessen - mit ihrer Arbeit beigetragen haben dazu, dass die Gefährdung von Deutschen kleiner wurde, und damit auch Leben geschützt haben von Deutschen, ist das nicht aufzuwiegen, und deshalb sollte man diese moralische Verpflichtung annehmen und diese Menschen aufnehmen.

Bürger: Die Tageszeitung "taz" hat überspitzt gefragt, wer evakuiert werden soll: nur der Dolmetscher oder auch seine Frau und zwölf Kinder inklusive Angehöriger. Ja, wer sollte diese Auswahl überhaupt treffen und nach welchen Kriterien?

Nouripour: Das ist ein bisschen zynisch von der "taz", auch deswegen, weil da so getan wird, als hätte der Afghane an sich zwölf Kinder. Das ist natürlich lächerlich, vor allem auch bei den Schichten von Menschen, über die wir reden. Wir reden über Menschen in Afghanistan, die meist zu den gebildetsten gehören, auch dort ist es so wie in Deutschland auch, dass die Zahl der Kinder abnimmt mit der Bildung, die jemand genossen hat, und deshalb ist das nicht hilfreiche Polemik, die auch ein bisschen ethnisiert auf eine wirklich unschöne Art und Weise. Wir reden über diejenigen, die geholfen haben und ihre Familien. Und Familien sind Ehegatten und Kinder.

Bürger: Und wer sollte über die Auswahl dieser Menschen dann entscheiden, die nach Deutschland kommen könnten? Die jetzigen deutschen Vorgesetzten in Afghanistan oder Leute aus den Berliner Ministerien?

Nouripour: Es sind ja zwei völlig verschiedene Sachentscheidungen zu treffen, das eine ist die Rechtsgrundlage und die Frage, ob es und was es für ein Kontingent gibt, um die Menschen aufzunehmen. Das muss in Berlin passieren, das ist zwischen den Ministerien zu klären. Wir hatten sehr ernsthaft überlegt, ob wir in den Deutschen Bundestag einen Antrag dazu einbringen, nehmen jetzt aber derzeit davon Abstand, weil es so aussieht, als würde die Bundesregierung einsehen, dass man den Menschen helfen kann, würden es aber jederzeit tun, wenn das nicht mehr so aussieht.

Auf der anderen Seite ist die individuelle Auswahl, das geht in erster Linie natürlich vor Ort, bei denjenigen, die gearbeitet haben mit den Locals jeweils, aber auch bei denjenigen, die die Sicherheitslage am besten überschauen können, das sind teilweise auch nachrichtendienstliche Organisationen, die genau versuchen, auch für die Sicherheit der Deutschen nachzuschauen, wo die größten Bedrohungen sind, und die können auch eher einschätzen, ob und wie jemand bedroht ist. Aber das ist relativ offensichtlich in vielen Fällen, weil die Drohung gegen die Personen sehr laut und offen in der afghanischen Gesellschaft ausgesprochen wird.

Bürger: Über die Zukunft afghanischer Mitarbeiter der Bundeswehr und deutscher Hilfsorganisationen in Afghanistan sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit dem grünen Bundestagsabgeordneten Omid Nouripour, sicherheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion und Mitglied im Verteidigungsausschuss. Die afghanischen zivilen Hilfskräfte, Sie haben es gesagt, Herr Nouripour, sind besonders gut ausgebildet, sind nicht gerade diese Menschen künftig besonders wichtig für den weiteren Aufbau Afghanistans? Wer kann sie überhaupt ersetzen?

Nouripour: Es ist selbstverständlich so, dass diese Menschen in einer Zukunft Afghanistans doch sehr dringend gebraucht werden, das ist überhaupt keine Frage. Wir reden über die mobilsten, die flexibelsten, die bestausgebildeten Menschen in diesem Land. Das kann niemand bestreiten, sollte man auch nicht. Deshalb sage ich auch nicht, dass man pauschal alle aufnehmen sollte. Aber ein Intellektueller oder intellektuell Hochbegabter, der tot ist, hilft niemandem irgendwas. Und deshalb muss man sehr genau abwägen, wer ist bedroht, wessen Familie ist bedroht, wer ist auch dadurch im Übrigen erpressbar, auch wenn es darum geht, Informationen, die sie gesammelt haben in den letzten Jahren automatisch durch ihre Tätigkeit zum Beispiel bei der Bundeswehr, rausrückt, wer ist bedroht, und die Leute müssen dann rausgeschafft werden aus dem Land, weil die können auch aus Europa beispielsweise mit ihren Fähigkeiten Afghanistan helfen, und sei es nur in Anführungsstrichen dadurch, dass sie Gelder zurücküberweisen. Es gibt keinerlei Grund zu sagen, wir lassen die Leute in einer extremen Bedrohungssituation zurück, weil sie ja gebraucht werden könnten, wenn sie in der Situation überhaupt gar nichts mehr leisten können für ihr Land.

Bürger: Aber was würde das für Afghanistan bedeuten, wenn so viele Menschen, die für Deutschland tätig waren, die wirklich sehr gut und sehr hilfreich für die Zukunft sein könnten, das Land verließen? Das stärkt doch die Taliban auch.

Nouripour: Das ist keine Win-Win-Situation, es ist eine Abwägung zwischen extrem Gefährdeten, die vielleicht nicht mehr am Leben sein werden auf der einen Seite in Afghanistan, oder Menschen, die in Deutschland sind und von hier aus vielleicht versuchen, ihrem Land auch zu helfen, was natürlich nicht ganz so gut funktionieren kann, als wären sie im Land selbst. Deshalb ist es aber auch so wichtig, dass wir gerade für die Zeit nach der militärischen Auseinandersetzung zumindest mit unserer Beteiligung dabei in Afghanistan versuchen, einen absoluten Schwerpunkt in der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan auf den Bildungsbereich zu setzen. Da passiert bisher viel zu wenig, gerade im Hochschulbereich gibt es noch sehr viel zu tun, sehr viele Potenziale, und wir haben als Weltgemeinschaft viel zu wenig drauf geschaut in den letzten Jahren, viel zu sehr auf die militärischen Dimensionen des Konflikts.

Bürger: 13 Jahre lang war die ISAF in Afghanistan, und jetzt am Ende müssen unter Umständen so viele Menschen evakuiert werden. Was sagt das über den Einsatz aus?

Nouripour: Das sagt über den Einsatz in erster Linie aus, dass wir viele, viele Ziele, die wir uns gesteckt haben, überhaupt nicht erreicht haben, und ich glaube, dass das in erster Linie auch daran liegt, dass wir wahnsinnig viele Fehler gemacht haben. Wir haben es nicht zur Priorität gemacht, auf Bildung zu setzen, wir haben es nicht zur Priorität gemacht, die lokale Landwirtschaft zu stärken. Wenn Sie sich anschauen, dass die Weltgemeinschaft jahrelang tonnenweise Weizen verschenkt hat nach Afghanistan, dann war es vielleicht gut gemeint, aber das hat natürlich den Weizenmarkt in dem Land völlig zerstört und hat die Bauern dahin getrieben, dass sie Schlafmohn angebaut haben - da braucht man sich nicht wundern. Und die Menschen, mit denen wir gearbeitet haben, die haben zigfach auf solche Fehler hingewiesen, und wir hätten einfach viel mehr auf die hören sollen.

Bürger: Der grüne Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour über die Zukunft der afghanischen Mitarbeiter der Bundeswehr und deutscher Hilfsorganisationen in Afghanistan nach dem Abzug der ISAF-Truppen. Danke Ihnen, Herr Nouripour, für das Gespräch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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