Actionthriller

Die Verästelungen einer großen Havarie

Ein Frachtschiff in Seenot
Ein Frachtschiff in Seenot © picture-alliance/ dpa / Ukrainian Ministry Emerge
Von Thomas Wörtche · 21.05.2015
Ein Meer, vier Schiffe und viele ganz verschiedene Perspektiven auf das, was da draußen wartet: In ihrem seetüchtigen Actionthriller "Havarie" zeichnet Merle Kröger ein messerscharfes Porträt Europas.
Vier Schiffe auf dem Mittelmeer: Die Routen eines Schlauchboot mit Flüchtlingen aus Nordafrika, eines spanisches Seenotrettungsschiff, eines Frachter mit ukrainischer Besatzung und eines Kreuzfahrtschiff mit dem stolzen Namen "Spirit of Europe" kreuzen sich – manchmal in Sichtweite, manchmal nicht. Auf dem Kreuzfahrer sind Passagiere und Besatzungsmitglieder aus der ganzen Welt – Ghurkas (eine Kriegerkaste aus Nepal) für die Security, ein indischer Sicherheitschef, ein französischer Erster Offizier, ein deutscher Kapitän, eine deutsche Jüdin mit Behinderung, ein Ire mit IRA-Geschichte und so weiter. Die Reederei sitzt in Miami. Der Frachter hat Termingeschäfte, der Seenotkreuzer möchte helfen und die Flüchtlinge auf dem wackligen Schlauchboot brauchen Hilfe. Das Mittelmeer wird so zum Fokus globaler Konflikte.
Die Inszenierung einer potentiellen Havarie
Merle Kröger, Dokumentarfilmerin und Verfasserin außergewöhnlicher Kriminalromane inszeniert diese Situation einer potentiellen Havarie als Kaleidoskop einer Unzahl von Perspektiven auf das Geschehen. Das Schlauchboot ist in Not, der Kreuzfahrer möchte keine Zeit verlieren, er strebt nach Mallorca. Die Passagieren finden die Situation pittoresk, fotografieren wie verrückt mit ihren Handys, möchten aber ihren Urlaubsgenuss nicht durch unschöne Realitäten gefährdet sehen, die "Siobhan", der Frachter, verursacht durch jede Minute auf See Kosten und der Rettungskreuzer kommt zu spät. Zwei Menschen kommen zu Tode, ob der über Bord gegangene Musiker von einer Touristin, mit der er einen Sex-gegen-Geld-Deal hatte, ermordet wurde, fungiert als das kriminalliterarische Element des Romans, der somit makrostrukturelle Kriminalität mit Individualschicksalen kreuzt.
Krögers Roman verwebt virtuos die verschiedenen Spannungslinien – wird es zum Desaster kommen, wie agieren die Figuren auf den verschiedenen Schiffen, wie agieren sie untereinander? – zu einem dichten Geflecht von Missständen und ungeheurer Komplexität. Sie gibt den einzelnen Figuren eine Geschichte, die wiederum ihr Handeln plausibel macht, im Guten wie im Schlechten. Die reiche "Festung Europa" mit ihrem ausdifferenzierten Rassismus – welche Ethnien auf dem Kreuzfahrer sind unsichtbar, welche stehen im Zentrum? -, die notfalls auch gegen den Willen ihrer Bewohner, ein gigantisches Verbrechen gegen Menschlichkeit begeht, ist der Oberschurke des Buches.

Aber auch da geht Kröger subtil vor. Das Beispiel des spanischen Fischersohns, der jetzt bei der Seenotrettung arbeitet, zeigt, dass es eine grundsätzliche Humanität gibt, die sich nicht behindern läßt - egal von welchen politischen Vorgaben - , aber letztendlich chancenlos ist. Und der indische Sicherheitschef agiert aus seinem Verständnis von "Elite" heraus genauso inhuman, wie die profitorientierten Manager der Reedereien, die das ganze Spektakel aus ihren Büros in Miami oder sonst wo auf der Welt eher virtuell verfolgen. Ganz unten sind die armen Teufel im Schlauchboot, auch sie untereinander nicht nur ein Herz und eine Seele.
"Havarie" ist eine großartige, dokumentarartige Fiktion über das reale Grauen dieser Welt, das in wenigen Stunden auf dem mare nostrum (welche schöne Utopie) mit vielen seiner globalen Verästelungen sichtbar wird. Ein Film zum Thema von Merle Kröger und Philip Scheffner ist in Arbeit.

Merle Kröger: Havarie. Roman
Ariadne Verlag, Hamburg 2105. 250 Seiten, 15 Euro