"Abstinenzler sind langweilig"

Claudius Seidl im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 02.08.2012
Wer als junger idealistischer Journalist nicht an Hunter S. Thompson glaube, sei ein schlechter Mensch, meint Claudius Seidl, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Dessen Vorbild habe die Deutschen "angelsächsischer und subjektiver" schreiben lassen.
Matthias Hanselmann: Heute startet der Film "The Rum Diary" in unseren Kinos. Zwei große Namen könnten es sein, die uns dazu bewegen, ihn uns anzuschauen: Da ist Johnny Depp, der die Hauptrolle spielt, und da ist Hunter S. Thompson, dessen Roman damit verfilmt wurde. Gleich sprechen wir mit einem ausgewiesenen Kenner des Schriftstellers Hunter S. Thompson, dem Filmkritiker und Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Claudius Seidl.

"The Rum Diary", das Tagebuch, das unter dem Einfluss von viel, viel Rum entstanden ist, das ist der Titel des Filmes, der heute in die Kinos kommt. Produziert hat den Film kein geringerer als Johnny Depp, der auch die Hauptrolle spielt. Dieser ist ein langjähriger Freund des Kultautors Hunter S. Thompson und hat auch schon bei der Verfilmung von dessen Werk "Fear and Loathing in Las Vegas" die Hauptrolle gespielt. Thompson, der von vielen als der verrückteste aller amerikanischen Schriftsteller gesehen wird, hat sich im Jahr 2005 im Alter von 67 das Leben genommen. Mit "Rum Diary" hatte er 1998 einen Roman fertig geschrieben, den er schon 1960 begonnen hatte. Gleich mehr im Gespräch mit dem Thompson-Kenner und Fan Claudius Seidl von der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".

Vorher hören wir Patrick Wellinski über und mit Ausschnitten aus dem Film "The Rum Diary".

Am Telefon begrüße ich jetzt Claudius Seidl, Publizist und Filmkritiker, Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Schön, dass Sie für uns zur Verfügung stehen – guten Tag, Herr Seidl!

Claudius Seidl: Grüß Gott!

Hanselmann: Sie sind also ein Fan des wohl verrücktesten amerikanischen Schriftstellers, der ja beides war, Schriftsteller und Journalist. Sie selbst haben es mal auf den Punkt geschrieben, und zwar folgendermaßen: "Er ist unter den amerikanischen Journalisten der beste Schriftsteller und unter den Schriftstellern der beste Journalist." Das haben Sie 2004, ein Jahr vor Hunter S. Thompsons Tod. Sehen Sie das heute noch genauso?

Seidl: Den Satz, dass ich ein Fan bin, würde ich eigentlich so nicht unterschreiben wollen. Den Satz, den Sie gerade zitiert haben, schon, einfach aus dem Grund: Ich glaube, mit Hunter S. Thompson ist es wie mit dem Kommunismus, also wer als junger, als sehr junger, idealistischer und vielleicht doch ein bisschen verrückter Journalist nicht an Hunter S. Thompson, glaubt, ist ein schlechter Mensch. Und wer aber – ich bin inzwischen 53 – wer da immer noch jede der Posen und Kraftmeiereien von Hunter S. Thompson so beim Nennwert nimmt, ist nicht erwachsen geworden. Es tut mir leid, aber so ein bisschen Distanz gewinnt man schon mit dem Erwachsenwerden.

Hanselmann: Thompson hat ja "Rum Diary" schon 1960 begonnen zu schreiben, da war er Anfang 20 – das passt jetzt gut zum Alter und zum Altwerden und Erwachsenwerden –, beendet hat er den Roman '98, also sieben Jahre vor seinem Freitod. Wissen Sie eigentlich genauer, warum das Werk so viele Jahre in der Schublade gelegen hat?

Seidl: Nee, ich weiß es nicht, aber nach allem, was ich weiß, hat es der Verlag einfach nicht angenommen, was insofern ein großer Irrtum war und was mich richtiggehend traurig macht, weil auch dieser Roman ist nicht ohne Schwächen, würde ich sagen, ist auch nicht ohne so, wie soll ich sagen, so bisschen so jugendliche Kraftmeierei. Aber er ist ein großes Versprechen auf einen Schriftsteller, der Hunter S. Thompson nicht geworden ist. Also im Wesentlichen hat er dann ja Reportagen geschrieben, natürlich sehr literarische Reportagen, aber hier steckt das Versprechen drin, ein Schriftsteller unter Umständen vom Rang von F. Scott Fitzgerald oder so zu werden, der auch traurig geendet ist.

Insofern möchte man auch ihm nicht das Schicksal von F. Scott Fitzgerald wünschen, nur, sagen wir mal, der Debütroman von F. Scott Fitzgerald war auch nicht besser als "The Rum Diary", und ich hätte gern den "Großen Gatsby" von Hunter S. Thompson gelesen. Ich glaube sozusagen … Und vielleicht hat er es deswegen auch unbedingt zu Ende führen wollen, um gewissermaßen dieses nicht geführte Leben als tatsächlich großer und sehr ernster Schriftsteller doch irgendwie zum Abschluss zu bringen. Womit ich sozusagen seine Verdienste als Krawalljournalist, als jemand, der wirklich den richtigen Leuten sehr lang sehr viel Ärger gemacht hat, überhaupt nicht mindern möchte, aber es ist halt dann doch so schade um den Literaten Hunter S. Thompson.

Hanselmann: Das, was Sie Krawalljournalist nennen, das nannte Thompson ja selbst Gonzo-Journalismus. Das stand für gnadenlose Subjektivität jenseits von der immer geforderten journalistischen Distanz. In jungen Jahren war Thompson ein Jahr mit den Hells Angels in den USA unterwegs, um ein Porträt über die Gang zu schreiben, mittendrin saufend, raufend mit der Harley unterwegs und so weiter. Kann so jemand heutzutage noch ein Vorbild sein für Journalisten oder sollte er es vielleicht sogar wieder sein?

Seidl: Sagen wir mal so: Hunter S. Thompson ist auf eine Art und Weise verrückt und genial, dass sich sozusagen aus dem, was er gemacht hat, relativ wenig Regeln ableiten lassen, so in dem Sinn: Macht’s einfach wie der Hunter, dann werdet ihr tolle Journalisten werden. Das andere ist natürlich: Ich glaube, er hat gerade die herrschende Generation im Journalismus, als welche ich sozusagen meine Altersklasse bezeichnen würde, sehr beeinflusst, und das merkt man den Zeitungen auch an. Ich zum Beispiel habe in den 80er-Jahren sehr viel fürs "Tempo" gearbeitet, wo Hunter S. Thompson auch mal eine Wahlkampfserie geschrieben hat, und natürlich hat der uns alle sehr beeindruckt und beeinflusst, und natürlich floss das ein in die Art und Weise, wie man Geschichten recherchiert und wie man Geschichten schreibt.

Also der deutsche Journalismus, da, wo er in großen Zeitungen stattfindet, ist heute wesentlich, wie soll ich sagen, angelsächsischer und subjektiver – nicht in dem Sinn, dass die jeweiligen Autoren sich so wahnsinnig wichtig nehmen, sondern subjektiver in dem Sinn, dass man gewissermaßen offenbart, unter welchen Bedingungen man was recherchiert hat – als er es vor 20, 30, 40 Jahren war. Insofern ist Hunter S. Thompson ein Vorbild, dessen Wirkungen man vielleicht nicht jeden Tag, aber doch kontinuierlich in den deutschen Zeitungen verspüren kann.

Hanselmann: Zitat Hunter S. Thompson: "Ich würde nie jemanden zu Drogen, Alkohol, Gewalt oder Wahnsinn raten, aber für mich hat es immer funktioniert." Kann denn ein Drogenabhängiger als Vorbild für modernen Journalismus herhalten, beziehungsweise ist dieses Klischee vom saufenden Genius nicht sowieso schon komplett durch, weil allzu oft bemüht?

Seidl: Es ist bisschen billig und bisschen einfach, dieses Klischee, und auf der anderen Seite ist es eben auch verständlich. Es ist einfach verständlich. Ich meine, ob einer zu viel Whisky trinkt und zu viel andere Drogen nimmt oder nicht, das qualifiziert ihn nicht als Journalisten, es disqualifiziert ihn nicht. Und dass man aber auf der anderen Seite sozusagen, wer mit einer solchen Intensität recherchiert und schreibt wie eben es im Wesentlichen Hunter S. Thompson gemacht hat, sozusagen den Alltag als solchen nur schwer ertragen kann, den nicht intensiven, die Ruhephasen, das kann zumindest ich ganz gut verstehen. Jedenfalls Abstinenzler sind langweiliger, ohne dass ich jedem jungen Journalisten raten möchte, irgendwie einen Whiskykurs zu machen. Aber ja, ich wäre der Letzte, der ihnen zur Abstinenz raten würde.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über den Autor und Journalisten Hunter S. Thompson, dessen Roman "The Rum Diary" heute als Verfilmung in die Kinos kommt. Herr Seidl, Sie haben in dem Artikel, aus dem ich vorhin zitiert habe, im November 2004 geschrieben: An Leben mangelt es ihm – also Hunter S. Thompson – jedenfalls immer noch nicht, und es wird wohl die Wut sein, die ihn so jung hat bleiben lassen. Genau drei Monate später hat er sich mit 67 erschossen. Wie ging es Ihnen damit?

Seidl: Ich war schockiert, ich war sehr schockiert und ich war sehr traurig. Ich muss dazusagen, ich bin ihm nie persönlich begegnet – dieses Privileg hat zum Beispiel mein Freund Thomas Hüetlin, Reporter beim "Spiegel", der ihn zum Glück kurz vor diesem Tod noch getroffen und porträtiert hat –, und trotzdem ist er einem natürlich nahe gekommen, wenn man so intensiv und gern und durchaus auch immer mit der Frage, wie hat er’s gemacht, warum hat er’s so gemacht … Natürlich war das irgendwie eine Nachricht, mit der ich nicht gerechnet hatte, weil ich eigentlich der Ansicht war, wer so seinen 30. Geburtstag überlebt, ist kein Selbstmordkandidat mehr. Ich finde es irgendwie unerwachsen, den Selbstmord. Hätte ich eigentlich nicht gedacht. Und dass er es dann doch gemacht hat, ja, hat im Grunde auch meine Distanz zu ihm erhöht.

Er hat mich gezwungen gewissermaßen, sozusagen die Identifikation, die natürlich immer sozusagen so eine Verführungskraft hatte, die Identifikation mit Hunter S. Thompson aufzugeben und den Mann von außen zu betrachten. Und das ist automatisch dann eben eine kühlere und distanziertere Sichtweise auf Hunter.

Hanselmann: Hunter S. Thompsons Roman "The Rum Diary" kommt heute als Film in unsere Kinos, mit Johnny Depp in der Hauptrolle, und wir haben gesprochen mit Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Danke schön, Herr Seidl, schönen Tag!

Seidl: Danke für Ihr Interesse!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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