Abschlussbericht "Die Akte Rosenburg"

"Die Justiz hat sich kollektiv selbst entlastet"

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Der Abschlussbericht "Die Akte Rosenburg – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit" untersucht die NS-Vergangenheit der Juristen. © Deutschlandradio / Manuel Czauderna
Manfred Görtemaker im Gespräch mit Nana Brink · 10.10.2016
Mit dem Abschlussbericht "Die Akte Rosenburg" ist jetzt die NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums aufgearbeitet worden. Ende der 50er-Jahre seien rund drei Viertel der Mitarbeiter NS-belastet gewesen, sagt der Historiker Manfred Görtemaker.
Bundesjustizminister Heiko Maas stellt heute den Abschlussbericht "Die Akte Rosenburg – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit" vor, die von einer Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission erarbeitet worden ist. Die Kommission hat die personellen und sachlichen Kontinuitäten im Ministerium zwischen der NS-Zeit und den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland untersucht.
Der Historiker Manfred Görtemaker, einer der wissenschaftlichen Leiter der wissenschaftlichen Kommission, stellte im Deutschlandradio Kultur wichtige Ergebnisse des Abschlussberichts vor. Es sei eine überraschende Erkenntnis gewesen, dass damals ein so großer Teil der Mitarbeiter des Justizministeriums NS-belastet gewesen sei:
"Im Durchschnitt der Jahre 1949 bis 1973 waren das weit über 50 Prozent. Aber Ende der 50er-Jahre waren es praktisch drei Viertel der Mitarbeiter. Und das ist doch wirklich sehr viel. Und wenn sie in einzelne Abteilungen hineinschauen, etwa in die Strafrechtsabteilung II, dann waren das sogar alle Mitarbeiter, die zu diesem Zeitpunkt eine braune Vergangenheit aufwiesen."
Manfred Görtemaker
Manfred Görtemaker ist zusammen mit Christoph Safferling wissenschaftlicher Leiter der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit© Deutschlandradio / Manuel Czauderna

Die Schlussstrichmentalität der fünfziger Jahre

Nach 1945 habe sich die Justiz praktisch kollektiv selbst entlastet, sagt Görtemaker:
"Niemand war also angeblich für das verantwortlich, was vor 1945 gerade im Justizbereich geschehen war. Es gab darüber hinaus in der Gesellschaft in den fünfziger Jahren eine Art 'Schlussstrichmentalität'. Das heißt, man versuchte die NS-Vergangenheit so schnell wie möglich wieder zu vergessen und dann zur Tagesordnung überzugehen."

"Bis 1958 kamen praktisch alle NS-Täter frei"

Man müsse festhalten, dass der Rechtsstaat in der Bundesrepublik Deutschland zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen sei, stellte Görtemaker heraus. Die NS-Belastung vieler Juristen habe aber Einfluss auf die Gesetzgebung und auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit gehabt:
"So ist es eine Tatsache, dass die Straffreiheitsgesetze, die 1949 und 1959 erlassen wurden, dazu geführt haben, dass bis 1958 praktisch alle NS-Täter wieder frei kamen. Und es hat auch dann später dazu geführt, dass etwa 1968 – mit dem sogenannten 'Einführungsgesetz' – praktisch alle Beihilfetaten 1961 verjährt waren. Also es hatte sehr weitreichende Auswirkungen."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Rosenburg nennt sich eine burgartige Villa im Bonner Stadtteil Kessenich, in dessen Räumen das erste Bundesjustizministerium zog und bis 1973 verweilte. Und wer dort einzog, das waren zumeist Juristen mit NS-Vergangenheit, das kann man heute wohl so deutlich sagen. Seit wenigen Jahren erst beschäftigen sich ja Wissenschaftler mit den Bundesministerien und deren Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Im Jahr 2010 hat eine unabhängige Historikerkommission ja ein umfangreiches Werk über das Auswärtige Amt veröffentlicht.
Nun geraten die Juristen in den Blickpunkt von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Heute wird nun "Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium für Justiz und die NS-Zeit" vorgestellt, und maßgeblich daran geschrieben hat Manfred Görtemaker, Professor für Neuere Geschichte an der Uni Potsdam, und er leitet zusammen mit Christoph Safferling die Unabhängige Wissenschaftliche Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesjustizministeriums. Ich begrüße Sie hier in "Studio 9"!
Manfred Görtemaker: Schönen guten Morgen!
Brink: Schönen guten Morgen! Sie waren ja lange auf der Suche nach dem Geist der Rosenburg, und der war, das sage ich jetzt ganz einfach mal so, von der NS-Zeit geprägt. In den 50er-Jahren waren ja eigentlich alle Juristen irgendwie verbunden mit diesem Regime. Hat Sie das überrascht?
Görtemaker: Wir waren nicht überrascht, dass es viele Juristen mit einer braunen Vergangenheit im Ministerium gab. Das war schon lange bekannt. Es gab auch prominente Namen darunter. Was uns überrascht, war allerdings die Tatsache, dass ein so großer Teil der Mitarbeiter des Ministeriums NS-belastet war. Im Durchschnitt der Jahre '49 bis '73 waren das weit über 50 Prozent. Aber Ende der 50er-Jahre praktisch dreiviertel der Mitarbeiter, und das ist doch wirklich sehr viel. Und wenn Sie in einzelne Abteilungen hineinschauen, etwa in die Strafrechtsabteilung 2, dann waren das sogar praktisch alle Mitarbeiter, die zu diesem Zeitpunkt eine braune Vergangenheit aufwiesen.

Schnelles Vergessen der NS-Vergangenheit war erwünscht

Brink: Haben Sie dafür eine Erklärung?
Görtemaker: Die Erklärung ist natürlich, dass es zum einen so war, dass die Justiz sich nach 1945 praktisch kollektiv selbst entlastet hat. Niemand war also angeblich für das verantwortlich, was vor 1945 gerade im Justizbereich geschehen war. Es gab darüber hinaus in der Gesellschaft eine Art Schlussstrichmentalität in den 50er-Jahren, das heißt, man versuchte die NS-Vergangenheit so schnell wir möglich wieder zu vergessen und dann zur Tagesordnung überzugehen. Insofern hat es uns nicht überrascht. Es ist allerdings doch erstaunlich, dass gerade eben Thomas Dehler, der mit einer Jüdin verheiratet war, und sein Staatssekretär Walter Strauß, der selbst aus einem jüdischen Elternhaus stammte, diese Einstellungspraxis so vorgenommen haben.
Görtemaker Thomas Dehler und Walter Strauß, das waren die beiden, die eigentlich die Einstellungen am Anfang vorgenommen haben. Und das hat dann eben tatsächlich dazu geführt, dass im Lauf der 50er-Jahre der Anteil derjenigen, die eine NS-Vergangenheit aufwiesen, immer größer wurde.
Brink: Als ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, ist mir sofort die Figur von Fritz Bauer in den Sinn gekommen, der den Auschwitz-Prozess angestoßen hat Anfang der 60er-Jahre. Burghard Klausner hat den ja in diesem tollen Film, "Der Staat gegen Fritz Bauer", gespielt. War das, wie Sie schon angedeutet haben, dann auch politisch gewollt, dass so Leute, die eine andere Vergangenheit hatten, irgendwie keine Chance hatten?

Fritz Bauer und die Auschwitz-Prozesse

Görtemaker: Bauer ist natürlich aus der Emigration zurückgekommen, wurde dann hessischer Generalstaatsanwalt und hat aus dieser Position heraus die Auschwitz-Prozesse vorangetrieben. Ohne ihn hätte es sie möglicherweise gar nicht gegeben. Etwas Vergleichbares haben wir im Bundesministerium der Justiz nicht gefunden. Man hat also nicht explizit nach Emigranten gesucht, was man hätte tun können. Man hat auch nicht explizit nach Entlasteten gesucht, was man auch hätte tun können, sondern man hat sich verlassen auf die Spitzenjuristen, die es aus dem Reichsjustizministerium schon gab, oder es waren zum Teil auch persönliche Netzwerke, etwa das Netzwerk Bamberg von Dehler oder eben das Netzwerk Frankfurt von Strauß aus der Bizonenverwaltung. Und da hat man dann die Leute genommen, die man entweder schon kannte oder die eben tatsächlich Spitzenjuristen waren und die von daher dann qualifiziert zu sein schienen, in das Bundesministerium der Justiz zu kommen.
Brink: Die Frage ist ja, abgesehen von der Vergangenheit der Personen, die in diesem Ministerium gearbeitet haben, was hatte das für Folgen für die Arbeit des Ministeriums in einem Rechtsstaat?
Görtemaker: Der Rechtsstaat in der Bundesrepublik war zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Das muss man, glaube ich, sehr deutlich sagen. Die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen haben das schon verhindert. Dennoch hatte diese NS-Belastung natürlich Einfluss auf die Gesetzgebung in der Bundesrepublik, es hatte Einfluss auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit. So ist es eine Tatsache, dass die Straffreiheitsgesetze, die 1949 und 1953 erlassen wurden, dazu geführt haben, dass bis 1958 praktisch alle NS-Täter wieder frei kamen.
Und es hat auch dann später dazu geführt, dass etwa 1968 mit dem sogenannten Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz praktisch alle Beihilfetaten rückwirkend 1961 verjährt waren. Also, es hatte sehr weitreichende Auswirkungen, und selbst in das materielle Recht hinein kann man also feststellen, dass dort auch dann in einzelnen Bereichen, etwa im Jugendstrafrecht, bei der Wehrgerichtsbarkeit, doch die Einflüsse sehr stark waren.

Erstmalige Aufarbeitung der Personalakten von 1949 bis 1973

Brink: Ist das der Grund, weshalb es so lange gedauert hat, bis man sich wirklich systematisch, was Sie ja jetzt getan haben, damit beschäftigt hat?
Görtemaker: Das ist ein Problem auch der Aktenlage. Die Personalakten des Bundesministeriums der Justiz liegen nach wie vor komplett in der Berliner Mohrenstraße jetzt, also früher in Bonn. Diese Personalakten sind nie abgegeben worden an das Bundesarchiv. Insofern war eine systematische Forschung gar nicht möglich. Es gab eben nur in Einzelfällen Hinweise darauf, wie dass es eine Belastung gab. Aber wir hatten zum ersten Mal die Möglichkeit, tatsächlich sämtliche Personalakten von 1949 bis 1973 einzusehen, und insofern wissen wir über jeden Mitarbeiter Bescheid. Und jeder Mitarbeiter kommt in diesem Buch auch vor.
Brink: Und die müssen dann Angst haben vor Ihnen, oder viele. Haben Sie schon Reaktionen bekommen, oder haben Sie während der Zeit, als Sie arbeiteten, als die gemerkt haben, Sie gehen nun wirklich ans Eingemachte?
Görtemaker: Dass 70 Jahre verstrichen sind, hat natürlich auch den Vorteil, dass diejenigen, die damals betroffen waren, heute in der Regel nicht mehr leben. Wir haben allerdings sehr wohl natürlich mit Mitarbeiter des Ministeriums viel gesprochen.
Es gibt neben den umfangreichen Archivarbeiten auch etwa 30 Zeitzeugeninterviews, und wir haben uns natürlich auch mit den Mitarbeitern in Bonn damals sehr ausführlich unterhalten, soweit sie noch leben. Aber, nein, die Reaktion war durchgängig eher positiv, dass das endlich gemacht wird. Denn das ist ja nicht eine Belastung des Ministeriums, die wir jetzt hier sehen, sondern das ist eine Entlastung des Ministeriums, weil diese Vergangenheit unbedingt aufgearbeitet werden musste.

Lücken in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit

Brink: Wo sehen Sie noch Lücken, auch was andere Ministerien vielleicht angeht?
Görtemaker: Es sind ja sehr viele Ministerien, die gegenwärtig eine solche Aufarbeitung betreiben. Es gibt sogar in der Koalitionsvereinbarung einen Passus, in dem diese Aufarbeitung explizit gefordert wird. Insofern geht es jetzt darum, in wenigen Jahren, wenn das in den einzelnen Häusern dann geschehen ist, tatsächlich eine Gesamtbilanz vorzulegen. Und ich denke mal, dass das eben vorbildlich ist, übrigens nicht nur in der Bundesrepublik, sondern das gilt eben auch etwa für die osteuropäischen Länder oder auch für viele andere Länder in der Welt, die eine ähnlich problematische Vergangenheit haben und die natürlich eben damit umgehen müssen. Und tatsächlich haben wir bereits jetzt eine ganze Reihe von Anfragen, wie wir das eigentlich machen.
Brink: Vielen Dank! Also der Stoff wird Ihnen nicht ausgehen für weitere Recherchen. Vielen Dank, Professor Manfred Görtemaker hat "Die Akte Rosenburg. Das Bundesjustizministerium und die NS-Zeit" mit verfasst. Es wird heute herausgegeben, vorgestellt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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