Abschieben um jeden Preis

Die Odyssee von traumatisierten Flüchtlingen in Europa

Flüchtlinge aus Syrien vor einem Flüchtlingsheim in Berlin
Flüchtlinge aus Syrien vor einem Flüchtlingsheim in Berlin © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Von Sandra Löhr · 27.04.2015
Obwohl 30 bis 50 Prozent der Flüchtlinge in Deutschland traumatisiert sind, sei es durch Gewalt oder die gefährliche Flucht, müssen sie damit rechnen, wieder abgeschoben zu werden. So auch Familie Taha aus Syrien.
Schauspielerin: "Ich hatte in meinem Kopf überhaupt nicht realisiert, dass Flüchtlinge die hier sind, für die wir eine Willkommenskultur aufbauen, wo ich alles versuche, was in meiner Bürgerpflicht ist, dass die abgeschoben werden. Das kam in meiner Gedankenwelt nicht vor."
Beate Böhler, Rechtsanwältin: "Ich finde das an sich eine Brutalität sondergleichen. Gerade mit Familien, also mit Menschen die eben auch für das Wohl ihrer Kinder sorgen müssen, dass die mit ihren kleinen Kindern hin- und hergeschoben werden. Das finde ich an sich eine unglaubliche Brutalität. Insbesondere wenn vielleicht beide Elternteile oder ein Elternteil noch traumatisiert sind und es eigentlich darum gehen müsste, das zu verarbeiten."
Dietrich Koch, Psychotherapeut und Leiter von Xenion: "Das eigentliche Dilemma ist, das wir in Europa zwei Strömungen haben. Die eine sagt: Schutzbedürftige Flüchtlinge müssen geschützt werden. Auf der anderen Seite haben wir eine rigide Abschottungspolitik, die davon ausgeht, dass der Staat, der Flüchtlinge nach Europa lässt, auch für sein Asylverfahren zuständig ist. Und das wird im Augenblick mit der Brechstange durchgesetzt, auch wenn es um kranke Flüchtlinge geht, die hier schon Aufnahme gefunden haben, die hier schon ein soziales Netz haben, die hier behandelt werden können. Wenn sie über Italien kommen, haben wir keine Chance, rennen gegen Mauern, von Ignoranz und Kälte. Abschieben um jeden Preis."
Ein Theaterabend in Berlin. Etwa 200 Leute sind gekommen. Sie sehen sich "Die Asyl-Dialoge" an, ein dokumentarisches Theaterstück, bei dem nicht nur Flüchtlinge zu Wort kommen, sondern auch Deutsche, die helfen wollen. So wie ein junges Ehepaar aus Berlin, um das es in dieser Geschichte auch gehen soll. Maria und Christian Schmidt. Sie hatten sich das mit der Flüchtlings-Hilfe ganz anders vorgestellt. Nie hätten sie gedacht, dass sich in ihr Leben so schnell Gefühle wie Angst, Ohnmacht und Wut einschleichen. Angst, hilflos zusehen zu müssen, wie eine traumatisierte syrische Flüchtlingsfamilie einfach so abgeschoben wird, Ohnmacht und Wut auf die deutsche Bürokratie und die europäische Asylpolitik, die stur an Gesetzen festhalten, die einfach keinen Sinn mehr ergeben. Nie hätten sie gedacht, so sagen sie schließlich, dass sie sich für Deutschland mal so schämen würden.
Maria Schmidt, Mentorin: "Ja, es ist halt so, man kann ja nix machen. Ich weiß nicht, was ich jetzt am besten tun kann. Also, als ich das gehört hab, hab ich die ganze Nacht wachgelegen und hab überlegt, was kann ich jetzt machen - Listen gemacht. Aber erstens kennt man sich ja auch nicht so aus – es ist so kompliziert, diese ganze Aufenthaltsproblematik, da braucht man wahrscheinlich ein halbes Jurastudium. Es kommt einem halt auch so willkürlich vor. Andere von seiner Familie sind ja auch geflohen und die sind in Italien nur öffentlich registriert worden und die hatten dann halt Glück. Und sie mussten ihre Fingerabdrücke abgeben, also haben sie halt Pech und müssen zurück nach Italien. Es ist so sinnlos."
Nach der Vorstellung der "Asyl-Dialoge" holt der Regisseur einen syrischen Flüchtling auf die Bühne. Er soll dem Publikum von seiner schwierigen Flucht nach Europa erzählen. Saleh Taha, ein großer Mann, Mitte Dreißig, gepflegtes Äußeres, dunkle Haare mit ersten Geheimratsecken. Als Arabisch-Lehrer lebte er mit seiner Frau, einer Informatikerin und seiner kleinen Tochter in Damaskus, bis sie schließlich vor dem Bürgerkrieg im Jahr 2012 flüchten mussten. Über Thailand, Ägypten und Schweden kamen sie Anfang 2014 nach Deutschland, wo sie das Ehepaar Schmidt kennenlernten.
Regisseur: "Wir haben ja von den Rettungsversuchen im Mittelmeer gehört. Du selbst bist ja auch über das Mittelmeer geflüchtet, kannst du erzählen, wie das für dich war?"
Saleh Taha: "Also die Fahrt mit dem Boot war eine Terror-Fahrt, es war furchtbar, ich war nicht alleine, sondern mit meiner Familie und meinem Kind..."
Durch die Flucht traumatisiert
Saleh, seine Frau Alaa und ihre kleine Tochter Talen besteigen im Sommer 2013 das Boot, das sie von Alexandria in Ägypten nach Italien bringen soll. Sechs Tage soll die Überfahrt dauern. Es werden zwölf. Zwölf Tage auf hoher See. Ohne richtige Toilette, ohne medizinische Versorgung für ihr Kind. Sie wissen, dass andere Schiffe untergegangen sind, dass immer wieder Menschen sterben auf dem Meer. Aber sie haben keine andere Wahl. Einen anderen Weg nach Europa, in die USA oder in andere arabischsprachige Staaten gibt es für sie nicht. Sie haben alles versucht, sind zunächst nach Thailand geflogen, haben sich an den UNHCR gewandt – erfolglos. So bleibt ihnen nur der Weg übers Mittelmeer. Ein paarmal, so erzählt Saleh, wäre das Boot bei hohem Wellengang fast gekentert. Nur ein paar Wochen später, im Oktober 2013, sterben Hunderte Flüchtlinge vor Lampedusa.
Bereits 2014 kommen über 200.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Tausende sterben dabei. Vor allem die Kriege in Syrien und dem Irak lassen die Flüchtlingszahlen explodieren. In Deutschland verdoppelt sich die Zahl der Asylanträge. Viele dieser Flüchtlinge sind traumatisiert. Man schätzt, dass es 30 bis 50 Prozent sind. Durch den Krieg, aber auch durch die Flucht. Manche sind jahrelang unterwegs, viele riskieren ihr Leben dabei, weil es keine legalen Wege nach Europa gibt. Dietrich Koch, Psychotherapeut und Leiter des Berliner Vereins Xenion, der sich um traumatisierte Flüchtlinge kümmert, erklärt, warum es gerade diese Menschen so schwer haben, in Deutschland anzukommen:
"Die Menschen haben Angststörungen, Depressionen. Sie leiden unter den ständig wiederkehrenden Bildern von Gewalttaten, die sie erlebt haben, von Folter, von Morden. Manchmal erleben sie das so realistisch und intensiv, als würde das Trauma gerade wieder entstehen, man nennt das Flashbacks. Gerade jetzt wo sie ein neues Leben aufbauen müssen hier in Deutschland, wo sie alle Kraft dafür bräuchten, werden sie von diesen Gedanken heimgesucht. Und sie können sich vorstellen, wie sich das auswirkt."
Auch Saleh Taha und seine Familie, die im Februar 2014 nach Deutschland kommen, sind durch die Flucht traumatisiert. Stundenlang müssen sie auf überfüllten Ämtern warten, jede Woche zu einem anderen Termin gehen. Es ist ein Fulltime-Job. In Deutschland sei alles so effizient, so organisiert, haben sie gehört. Doch sie erleben das Gegenteil. All die Anträge die sie jetzt stellen müssen, all die Bürokratie, die Beamten scheinen mit den vielen Flüchtlingen überfordert. Dabei bräuchten sie jetzt eigentlich Ruhe. Im Sommer 2014 wenden sie sich an den Berliner Verein Xenion.
Dietrich Koch, Psychotherapeut und Leiter von Xenion: "Jedes Jahr behandeln wir etwa 250 Patienten. Und es ist nicht so leicht, einen Antrag auf Psychotherapie überhaupt durchzukriegen, ein Viertel aller Anträge wird abgelehnt, das wird sogar schlechter. Wir sind jetzt mittlerweile bei 50 Prozent und für manche Flüchtlinge müssen wir über ein Jahr auf die Therapie warten, bis die Zentrale Leistungsstelle für Asylbewerber bewilligt - wegen totaler Überlastung."
Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, den Tahas erstmal zu helfen, ihr neues Leben in Deutschland aufzubauen. Der Verein Xenion bietet nicht nur psychologische Hilfe für Flüchtlinge an, sondern vermittelt auch ehrenamtliche Berliner, die sich als Mentoren um Flüchtlinge kümmern wollen: ihnen die Stadt zeigen, wie man U-Bahn fährt, wo man am besten einkauft, oder ihnen bei der Wohnungs- oder Arztsuche behilflich sind.
Dietrich Koch: "Deswegen haben wir unter anderem auch das Mentorenprojekt wieder gestartet, letztes Jahr. Im Mentoren-Programm melden sich Freiwillige, die unsere Flüchtlinge unterstützen wollen. Das ersetzt ein Stück weit diese abgebrochenen sozialen Beziehungen und bringt sie wieder zurück in einen mitmenschlichen Kontakt, der ihnen hilft, auch dieses Trauma besser zu bearbeiten. Das brauchen wir, neben einem Dach über den Kopf, auch für die Psychotherapie, für den Erfolg der Psychotherapie. Weil man braucht eine Stabilisierung. Die ehrenamtlichen Mentoren sind sozusagen unsere Multiplikatoren in dieser Hinsicht. Sie helfen den Flüchtlingen nicht nur beim Stellen des Asylantrags, sondern sie sind für die gesamte Heilung wichtig."
Endlich ein bisschen angekommen in Deutschland
An einem sonnigen Spätsommertag Anfang September 2014 lernen die Tahas in den Räumen von Xenion ihre Mentoren kennen. Maria und Christian Schmidt, sie Ende Zwanzig, er Anfang Dreißig, ein junges Ehepaar aus Bayern, die seit einem Jahr in Berlin leben und vorher noch nie etwas mit Flüchtlingen zu tun hatten. Aufgeschreckt durch die vielen Medienberichte über den Flüchtlingsansturm, beschließen sie, etwas zu tun, nicht nur zu spenden, sondern etwas Konkretes zu machen. Sie bewerben sich bei Xenion als Mentoren und werden an Saleh und Alaa Taha vermittelt. Mit ihren beiden kleinen Kindern Talen und dem sech Monate alten Yahia, sehen die Tahas so gar nicht nach Flüchtlingen aus, sondern eher wie ein gutsituiertes arabisch oder türkisches Pärchen, das schon lange in Deutschland lebt.
Zunächst helfen die Schmidts den Tahas bei der Wohnungssuche. Auf dem überhitzten Berliner Immobilienmarkt gar nicht so einfach. Wohnungen sind knapp und teuer und oft legen die Vermieter einfach wieder auf, wenn Maria und Christian Schmidt erzählen, dass sie für eine syrische Familie suchen. Im Oktober freunden sich die beiden Paare immer mehr an, machen Spaziergänge, gehen zusammen Kaffee trinken:
Maria Schmidt: "Ja, wir haben sie halt ziemlich schnell ins Herz geschlossen. Man merkt auch, dass die einfach ein gutes Team sind. Und dass sie auch für die Kinder einfach so stark sind. Ich bewundere sie auch immer, wie sie das hinkriegen; dass, also Talen zum Beispiel, sie hat so viel erlebt, aber man hat das Gefühl, irgendwie können sie es ausgleichen - also vielleicht nicht komplett, aber sie können ihr so viel Kraft geben, irgendwie, obwohl sie ja selbst auch so viel durchgemacht haben. Ich weiß nicht, ob ich so stark wäre in so einer Situation."
Christian Schmidt: "Und denen ist ja auch wirklich kein Weg zu weit – kein Weg zu schade. Die gehen da überall hin, wenn eine Möglichkeit besteht und das ist ja auch ganz wichtig."
Maria Schmidt: "Und sie haben auch viel Humor. Und sie sind unglaublich intelligent finde ich. Ich mein, klar, ich hab jetzt auch nicht gedacht... Ich hab keine Vorurteile gehabt... Trotzdem überrascht es mich halt. Sie sind sehr gebildet und kennen sich gut aus mit vielen Sachen."
Oktober 2014. Die Schmidts fühlen sich wohl in ihrer Rolle als Mentoren. Ende Oktober haben Maria und Christian den Eindruck, dass die syrische Familie endlich ein bisschen angekommen ist in Deutschland.
Alaa Tahaa: "Ich bin sehr glücklich, so, als hätte ich hier eine Familie gefunden. Wir haben ja keine in Deutschland, unsere Familien leben in Schweden, den USA und in den Emiraten. Es ist wirklich sehr schön, dass sich jemand um dich kümmert und dir in dem neuen Land hilft und mit der neuen Sprache. Ich mag Christian und Maria sehr, ich habe das Gefühl, Maria ist mir so nah wie eine Schwester. Es ist ein gutes Gefühl jetzt, ich bin sehr dankbar dafür."
Mentor ist der ältere Freund des griechischen Helden Odysseus, der ihm und seinem Sohn während seiner zehnjährigen Irrfahrt immer wieder hilft. Die Schmidts glauben, dass die Odyssee der Tahas endlich beendet ist. Doch Ende Oktober an einem Freitagabend bekommen die Schmidts eine SMS von Alaa:
"Leider schlechte Nachrichten. Wir haben einen Brief vom Bundesamt bekommen. Wir werden abgeschoben, dürfen nicht in Deutschland bleiben. Euch ein schönes Wochenende."
Die Schmidts sind fassungslos. Sie waren fest davon ausgegangen, dass die Tahas in Deutschland bleiben können. Schließlich ist Krieg in Syrien und das Paar hat zwei kleine Kinder, das eine davon noch nicht einmal ein Jahr alt. Doch die Tahas sollen sich bereit für die Ausreise nach Italien machen. Dorthin, wo ihre Fingerabdrücke nach der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer von der Polizei zuerst registriert wurden. So sieht es das europäische Abkommen Dublin III vor.
Jetzt kann Alaa nicht mehr
Anfang November. Maria und Christian Schmidt sitzen in dem kleinen Wohnheim-Zimmer der Tahas. Hier in einem heruntergekommen Hotel an der östlichen Peripherie Berlins bewohnt die vierköpfige Familie ein etwa 20 Quadratmeter großes Zimmer. Es ist eng. Neben den vier Betten hat nur noch ein kleiner Tisch in der Mitte Platz. Draußen rauscht der Auto-Verkehr der nahen Autobahnauffahrt entgegen und im Minutentakt hört man die S-Bahn in einiger Entfernung vorbeifahren. Vor dem Zimmer steht ein rosa Kinderfahrrad, am Lenker baumelt ein Helm. Talen, die sechsjährige Tochter der Tahas sitzt am Rand eines Bettes und schaut sich auf dem Laptop eine Kindersendung an. In Italien, so haben sie gehört, landen viele Flüchtlingsfamilien nach einem halben Jahr in der Obdachlosigkeit.
Dietrich Koch, Psychotherapeut und Leiter von Xenion: "Italien hat die europäische Union gebeten sie zu unterstützen, weil das soziale System dort diese Flüchtlinge, diese Vielzahl der Flüchtlinge eben nicht tragen kann. Europa hat nichts getan. Jetzt wird sozusagen das zusammengebrochene Dublin-System auf den Rücken insbesondere der schutzbedürftigen Flüchtlinge ausgetragen, um durchzusetzen, dass Italien doch seine Pflichten übernimmt. Das geht so nicht. Wir brauchen eine grundsätzliche Änderung dieser Politik in Europa."
Für die Tahas ist es bereits der zweite Abschiebebescheid in Europa. Nach ihrer Ankunft in Italien gingen sie nach Schweden – dorthin, wo ein Großteil ihrer Familie, Vater, Geschwister Aufnahme gefunden hatten. Doch die schwedischen Behörden lehnten sie ab, verwiesen auf die Fingerabdrücke aus Italien.
Alaa Taha: "Die meisten Flüchtlinge fliehen vor den Gefahren des Krieges in Syrien. Ich verstehe, warum all diese Familien über das Mittelmeer kommen, ich habe Menschen sterben gesehen in Syrien. Deswegen bin ich mit meinem Ehemann und meiner Tochter auch geflohen. Aber es gab keine anderen Wege, nur das Meer. Kein normaler Weg, um in ein anderes Land zu gehen, weil uns alle anderen Länder abgelehnt haben."
Also haben wir den Meerweg gewählt, weil wir keine andere Möglichkeit hatten. Und wir haben den Tod gesehen in den zwölf Tagen auf See. Es war sehr gefährlich, besonders für meine kleine Tochter. Sie hat fast die ganze Zeit geweint und hatte Angst zur Toilette zu gehen, weil das Schiff so geschwankt ist. Wenn man dann Italien erreicht - wenn Du wieder den Boden siehst und die Bäume, ist es so, als würdest du zum Leben zurückkehren."
Mit fast allem sind die Tahas fertig geworden. Seit 2011 leben sie mit dem Krieg, seit 2012 sind sie auf der Flucht. Sie haben Behördenwillkür in Thailand und Ägypten überstanden, mehr als 6000 Euro – ihre gesamten Ersparnisse - für eine Überfahrt nach Europa ausgegeben, zwölf Tage in einem kleinen Boot auf hoher See ausgeharrt, ohne richtige Toilette und ohne medizinische Versorgung, immer in Angst um ihre Tochter. Immer haben sie daran geglaubt, dass es irgendwie weitergeht, dass sich alles zum Guten wendet, sie endlich irgendwo ankommen dürfen, sich ein normales Leben mit ihren Kindern aufbauen können. Aber jetzt kann Alaa nicht mehr.
Alaa Taha: "Besonders auf dem Meer, die zwölf Tage auf dem Meer…"
Alaa kann nicht weitersprechen, Saleh tröstet sie, streichelt ihren Arm. Alaa deutet auf ihre Tochter, die wie versteinert vor dem Laptop sitzt.
Alaa Taha: "Sie weiß noch nicht, dass wir wieder abgeschoben werden sollen."
Auch Talen ist traumatisiert von der Flucht, auf dem Schiff habe sie stundenlang geschrien vor Angst, erzählt Alaa. Und noch immer hat sie Angst, wenn sie Polizisten auf der Straße sieht. Gerade hat sie angefangen in der Kita mit anderen Kindern zu spielen, hat die ersten deutschen Wörter gelernt.
Alaa Taha: "Ich bin immer stark geblieben. Vor meinem Mann Saleh und meinen Kindern. Aber wenn ich mich an diese Tage erinnere. 32 Jahre war ich stark, aber jetzt.."
Die Tahas haben von anderen Abschiebungen gehört in ihrem Wohnheim, erfahren, dass die Polizisten oft nachts kommen und laut an die Tür klopfen. Genau wie die Geheimdienst-Leute von Assad, die in ihrer Nachbarschaft in Damaskus wahllos Leute verhafteten. Jetzt haben sie wieder Angst. Fast jede Nacht.
Dietrich Koch, Psychotherapeut und Leiter von Xenion: "Was sie jetzt am dringendsten bräuchten, wäre ein Gefühl von Sicherheit, von Ruhe, neu anfangen zu können. Genau das Gegenteil ist der Fall. Statt Ruhe und Sicherheit haben sie das Asylverfahren im Nacken, sie sind ständig von Abschiebung bedroht. Also, selbst ein gesunder Mensch würde unter diesen Bedingungen leiden, aber wenn wir jemanden haben, der noch von Trauma gezeichnet ist, in der Art und Weise, und man bringt ihn in solche Situationen, dann wird er daran verzweifeln und kann gar nicht genesen."
Talen hat ihre Kindersendung beendet und stattdessen auf einen Clip auf YouTube geklickt: Ein Mitschnitt einer Theateraufführung aus Damaskus. Immer wieder, so erzählt Alaa, will sich Talen diese Theateraufführungen ansehen. In dem Stück "Der Falke von Quraish" geht es um einen Mann, der einst nach Spanien flüchten musste und dann als weiser Kalif nach Damaskus zurückkehrt. Eine orientalische Sage, inszeniert als bonbonbuntes Märchen mit viel Bewegung, Gesang und großartigen Kostümen, wie in einem Bollywoodfilm. Doch das Theater aus Damaskus gibt es mittlerweile nicht mehr, die Künstler, Schauspieler, Sänger und Mitarbeiter sind fast alle auf der Flucht. An diesem Theater hat Saleh Taha neben seiner Arbeit als Arabisch-Lehrer als Dramaturg gearbeitet. Es ging ihnen gut. Sie flüchteten nicht vor der Armut nach Europa, sondern vor einem Krieg.
Maria Schmidt: "Also natürlich habe ich Angst, dass sie uns anrufen und dann schon in der Abschiebehaft sitzen oder halb im Flugzeug. Und vor allem diese Praxis, das hier nachts die Polizei reinstürmt, was ja vollkommen unnötig wäre. Dann können wir uns gar nicht verabschieden, wissen vielleicht gar nicht, wo sie sind. Also das wäre für mich das Schlimmste."
Die "Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft" bescheinigt
Saleh und Alaa Taha erfahren über Xenion, dass sie gegen ihre Abschiebung klagen können und beauftragen eine Anwältin in Kreuzberg mit ihrem Fall. Nur ein paar Tage später dann eine unverhoffte Wendung: Am 4. November 2014 fällt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein wegweisendes Urteil zur Abschiebepraxis in der EU: Nach der Dublin-Verordnung ist das Land für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig, in dem der Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden betreten hat. Das sind vor allem die Mittelmeerländer Italien und Griechenland. Da diese jedoch immer mehr überfordert mit den steigenden Flüchtlingszahlen sind, darf dort nicht mehr automatisch hin abgeschoben werden. Seit 2011 ist das so in Griechenland und jetzt dürfen auch Flüchtlinge mit kleinen Kindern, nicht mehr nach Italien abgeschoben werden, beschließt der europäische Gerichtshof.
Ende November 2014. Maria Schmidt begleitet Saleh und Alaa zu ihrem Termin mit der Rechtsanwältin. Beate Böhler, eine schlanke, dunkelhaarige Frau, Anfang Fünfzig, sitzt an einem großen Schreibtisch in ihrer Kreuzberger Altbau-Kanzlei und erklärt ihnen, dass es gut aussieht für sie - vor allem wegen des Gerichtsurteils des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Saleh sitzt nach vorne gebeugt auf seinem Stuhl, hört konzentriert zu. Als die Anwältin wissen will, ob es noch Fragen gibt, meldet sich Maria schüchtern zu Wort.
Maria Schmidt: "Was ist denn der Worst Case im Moment? Kann es zum Beispiel passieren, dass sie morgen abgeholt werden?"
Beate Böhler: "Nein!"
Maria Schmidt: "Kann nicht passieren, wegen dem Widerspruch?"
Beate Böhler: "Sagen wir mal so, es darf nicht passieren, rechtlich völlig ausgeschlossen. [Sie wechselt ins Englische, damit die Tahas die Frage auch verstehen können; Übersetzung:] Sie hat mich gefragt, ob jetzt noch eine Abschiebung möglich ist und ich habe gesagt: Nein! Nach dem Gesetz ist das nicht möglich. Aber in meiner ganzen Zeit als Anwältin, 16 Jahre sind das jetzt, hatte ich Fälle, wo dies trotzdem passiert ist. Es war rechtlich nicht richtig, aber sie haben die Leute herausgeworfen."
Die Tahas rutschen unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Beate Böhler betont nochmals, dass sie sich keine Sorgen machen sollen, dass sie sicher ist, dass am Ende alles gut ausgeht, sie in Deutschland bleiben können. Aber dass sie es eben auch nicht versprechen könne, sie aber im Fall der Fälle alles tun werde, um die Familie aus Italien wieder zurückzuholen. Sie blickt auf die Uhr. Die nächsten Mandanten warten schon. Seit dem dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland, arbeitet sie oft 14 Stunden am Tag. Aufmunternd nickt sie jetzt den Tahas zu.
Beate Böhler: "Und das heißt, wir haben ja bereits oft darüber gesprochen und sie sind immer noch so unsicher. Ich kann mir das wirklich vorstellen, dass sie Angst haben und die Situation muss für sie schrecklich sein - klar – mit so kleinen Kindern. Ich verstehe das natürlich. Aber sie können mir vertrauen, sie können sich auf mich verlassen. Wenn sie mich um etwas bitten, können sie auch sicher sein, dass ich dem nachkomme."
Bis Januar 2015 müssen die Tahas und ihre Mentoren jetzt warten. Dann endet die Frist, bis zu der Deutschland die Tahas rein rechtlich gesehen noch abschieben dürfte. Doch erst im Februar 2015 ist er endlich da, der ersehnte Brief des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Darin wird der Familie endlich die "Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft" bescheinigt. Damit können sie nun in Deutschland ganz normal einen Asylantrag stellen.
Beate Böhler, Rechtsanwältin: "Was macht die Bundesrepublik Deutschland für eine menschenverachtende Politik mit den Flüchtlingen. Das muss man wirklich erklären, der Normalmensch glaubt das nicht. Der denkt, wieso, bei uns ist es doch toll, die kommen hierher, die kriegen dann unsere Leistungen und wenn dann eine Verfolgungssituation festgestellt wird, werden sie auch anerkannt. Aber das ist ja nicht so. Insbesondere dieser ganze Dublin-Prozess und Frontex, also dass die Leute es ja gar nicht mehr schaffen uns zu erreichen, das ist bei vielen Menschen gar nicht im Bewusstsein."
"Sie bringen diese Traumata auch zu uns"
Im März 2015 hat die Familie dann ihre Anhörung beim Bundesamt, wo sie noch einmal ausführlich erzählen müssen, warum sie aus Syrien geflohen sind. Ebenfalls im März richtet das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR einen Appell an die reicheren Länder der EU. Sie sollen mehr Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, damit eine gerechtere Verteilung der Flüchtlingsströme in Europa erreicht wird.
Beate Böhler: "Ich meine, dass die Dublin Gesetzgebung ersatzlos gestrichen gehört. Dass die, die nach Europa kommen, dort Asyl suchen, das auch überall in Europa finden sollten. Weil, die jetzige Gesetzgebung führt nur dazu, dass die Leute durch Europa rumgeschoben werden und das ist, denke ich, kontraproduktiv. Ich finde es des Weiteren auch noch ganz schlimm wie an den Außengrenzen Europas Asyl-Zuwanderung verhindert wird. Das sind ganz schwere, schwere Menschenrechtsverletzungen, in den letzten Jahren sind, glaube ich, ca. 30.000 Menschen umgekommen. Das ist alles unerträglich und eines Rechtsstaates einfach nicht würdig."
April 2015. Es ist wieder Frühling geworden in Berlin. Saleh und Alaa Taha haben zwar immer noch keine eigene Wohnung, aber sie sind trotzdem ein bisschen in Deutschland angekommen. Saleh tritt dem neu gegründeten Berliner Anti-Dublin-Aktionsbündnis bei, er organisiert Kundgebungen und Demos mit und berichtet nach den Vorstellungen der "Asyl-Dialoge" von seiner Fluchtgeschichte. Und auch Alaa ist es wichtig, dass ihre traumatische Fluchtgeschichte erzählt wird. In der Zeitung und im Radio.
Alaa Taha: "Weil wir all diese schrecklichen Dinge auf dem Mittelmeer gesehen haben – und die Gefahren für die Kinder. Ich mache mir Sorgen, dass andere Familien aus Syrien das vielleicht gar nicht wissen, also dass die Flucht übers Mittelmeer so gefährlich ist. Vielleicht kommt ja unsere Geschichte einer anderen Familie zugute, also dass sie ihre Kinder besser beschützen können. Weil – es ist sehr, sehr gefährlich! Vielleicht gibt es ja für andere Familien doch einen anderen Weg oder eine andere Methode, um Deutschland oder andere europäische Länder zu erreichen."
Mitte April 2015 bekommen die Tahas endlich die Nachricht, dass sie bleiben können. Dass sie sogar arbeiten dürfen. Sie haben es geschafft. Sie können sich ein halbwegs normales Leben mit ihren Kindern aufbauen, müssen nicht, wie so viele ihrer Landsleute in provisorisch errichteten Zeltstädten in syrischen Nachbarländern ausharren. Doch in die Freude über das Ende ihrer Odyssee mischen sich Trauer und Entsetzen. Im April 2015 sterben im Mittelmeer so viele Flüchtlinge wie nie zuvor auf ihrem Weg nach Europa. Und fassungslos verfolgen die Tahas in den Nachrichten, was in ihrer Heimat vorgeht: Der Islamische Staat hat einen Vorort von Damaskus erobert. Saleh und Alaa Taha haben in diesem Viertel, in Jarmuk gelebt. Hier wurde ihr Kind geboren, hier lebten sie mit ihrer Familie, mit Freunden und Nachbarn. Jetzt liegt Jarmuk in Trümmern, auf den Straßen soll es zu Enthauptungen durch die IS-Kämpfer gekommen sein.
Dietrich Koch, Psychotherapeut und Leiter von Xenion: "Wir konnten früher diese weltweiten Katastrophen sehr gut von uns fernhalten, weil wir nicht so viele Informationen hatten. Aber die Flüchtlinge haben das zum Teil selbst erlebt. Und sie bringen diese Traumata auch zu uns, mit zu uns nach Europa. Und wir müssen erkennen, was für eine Brutalität und was für ein Wahnsinn hinter ihnen her ist. Der sie verfolgt und aus dem Land treibt. Das sind Dinge, an denen wir nicht vorbeischauen können. Auf der einen Seite mobilisiert es viel Hilfe, auf der anderen Seite bedeutet es aber auch, dass wir uns mit dieser Gewalt in der Welt auseinandersetzen müssen in unserem täglichen Leben."
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