Abgeordnetenhauswahl in Berlin

Werben um jede Stimme

Wahlplakate bestimmen am 10.08.2016 das Bild in der Frankfurter Allee in Berlin. Das Berliner Abgeordnetenhaus wählt am 18. September einen neuen Senat.
Wahlplakate für die Wahl zum Abgeordnetenhaus am 18. September in Berlin © dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm
Von Claudia van Laak · 14.09.2016
Am Sonntag wird in Berlin gewählt. Dabei geht es auch um die Frage: Bleibt die Hauptstadt weltoffen und tolerant? Oder wird es einen Rechtsruck geben? Claudia von Laak hat die Politiker aller Parteien beim Stimmenfang begleitet.
In der wuseligen Fußgängerzone in Berlin-Charlottenburg fällt die SPD mit ihrem kleinen Infostand und den zwei roten Fahnen kaum auf. Die Genossen haben vorsorglich eine Trommelgruppe engagiert - sie verhilft zur nötigen Aufmerksamkeit.
"Müller 16" steht auf den knallroten T-Shirts der Wahlkampfhelfer, die bereits leicht verwelkte Rosen mit einem angehängten Gruß des Spitzenkandidaten Michael Müller verteilen. Die beste Laune im Kampagnenteam hat Friday Ogbodo - sehr schwarze Haut, sehr rotes T-Shirt, sehr weiße Zähne.
"Wir sind eine Gruppe junger Leute, die sich dafür entschieden haben, Michael Müller zu unterstützen, wegen seiner politischen Einstellung. Er ist gut für uns junge Leute, und nicht nur für uns. Es ist nicht wichtig, welche Farbe man hat, welche Religion, wo man herkommt. Seine Politik ist für jeden. Deshalb kommen wir hier zusammen und geben ihm eine ordentliche Unterstützung."
Obwohl der nigerianische Student in Deutschland gar nicht wählen darf, engagiert er sich für die Berliner SPD. Das ist Integration - und in gewisser Weise geht es bei der Wahl am Sonntag auch um ihn, den Schwarzafrikaner. Bleibt Berlin weltoffen und tolerant oder wird es mit einem zweistelligen Wahlerfolg der AfD einen starken Rechtsruck geben?
"Das, was wir oft formulieren als Offenheit, Toleranz, als Stadt der Freiheit, das ist keine Worthülse, das ist keine Sonntagsrede, sondern das macht unser Zusammenleben aus. Dieses offene, freie und tolerante Zusammenleben in unserer Stadt."

Bürgermeister ohne Glamour

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller steht auf der kleinen Bühne in der Charlottenburger Fußgängerzone, mit der rechten Hand hat er das Mikrofon ergriffen, die linke steckt in der Hosentasche des dunkelblauen Anzugs. Weißes, offenes Hemd, unauffällige Brille, schmale Lippen - als Buchhalter-Typ wird Michael Müller von denen verspottet, die ihn nicht für den richtigen Repräsentanten der Weltstadt Berlin halten.
Der Glamour-Faktor fehlt, dafür präsentiert sich der 51-Jährige als hart und verlässlich arbeitender Bürgermeister mit einer klaren Haltung gegen die rechtspopulistische AfD. Ein wichtiges Thema im Wahlkampf: Wohnungsnot, Mieten, Verdrängung aus dem Kiez - Berlin wächst jährlich um 40.000 Einwohner.
"Wir erleben es, es wird viel gebaut in unserer Stadt, aber was wir dringend brauchen, sind Mietwohnungen, die bezahlbar sind. Deswegen stärken wir unsere städtischen Wohnungsbaugesellschaften."
Ein begnadeter Redner ist der SPD-Politiker nicht. Aber Michael Müller kann immer dann punkten, wenn es in das direkte Gespräch geht mit Lehrlingen, Frisörinnen, Bauarbeitern. Kommt Müller doch auch aus einfachen Verhältnissen - er hat weder Abitur noch hat er studiert. Das ist selbst bei Sozialdemokraten mittlerweile eine Besonderheit.
"Wir haben noch einen alten Mietvertrag, mein Vater und ich. Sehr gut. Nur deshalb können wir auch noch in Berlin-Kreuzberg bleiben. Dennoch habe ich immer die Befürchtung, dass ich, sobald ich meine Ausbildung beendet habe und ich von zuhause ausziehe, dass ich dann meinen Bezirk verlassen muss."
"Nein, immer, bevor Sie rausgehen aus der Wohnung, bevor Sie einen alten Mietvertrag kündigen - Sie kriegen nie wieder so einen guten Mietvertrag wie diesen alten, jeder neue ist teurer - bevor Sie das machen, nehmen Sie Beratungsangebote in Anspruch, vom Bezirksamt oder vom Mieterverein, und wenn´s gar nicht anders geht, bevor Sie rausgehen, suchen Sie den Kontakt mit einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft."
Der Regierende Bürgermeister geht auf die Leute zu, anbiedernd oder gewollt kumpelhaft wirkt er dabei nie. Während Müller den Wählern zuhört und dabei ab und zu nickt, schreibt er seinen Namen auf Autogrammkarten.
Ein Porträt von Berlins Regierendem Bürgermeister Müller vor einem Wahlplakat der SPD
Berlins Regierender Bürgermeister und Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl, Michael Müller (SPD)© picture alliance / dpa / Sophia Kembowski
Männerkörper, Männerstimme, viel Make-up im Gesicht, geblümte Leggings, bunte Brille und ein kesses Hütchen - ein Transsexueller hat der Rede von SPD-Chef Müller zugehört, jetzt fordert er mehr Schutz für Seinesgleichen und Geld für Projekte, die sexuelle Vielfalt unterstützen.
"Ich bin schon öfter angegriffen worden, habe schon öfter Anzeige erstattet, bin zur Polizei gegangen, S-Bahn kann ich nicht mehr fahren, weil da kein Sicherheitsgefühl mehr da ist."
"Aber wir haben die Mittel und die Projekte deutlich aufgestockt, haben wir gemacht, und es wird keinen politischen Beschluss geben, der von heute auf morgen diese Situation perfekt verändert. Sondern, das ist ein Prozess von Jahren, sich zu engagieren, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, über Projekte. Und mehr kann ich auch nicht versprechen, als dass man genau darum kämpfen muss."

Keine großen Gesten, keine großen Versprechen

Große Gesten und große Versprechen sind Müllers Sache nicht. Der Sozialdemokrat bleibt sachlich-distanziert, im Ton freundlich-verbindlich. Auch als ihn jemand auf seinen Kampf gegen die AfD anspricht:
"Es wird eine Wahlempfehlung gegeben, dass man demokratische Parteien wählen soll, und die AfD wurde da gleich mit ausgeschlossen. Ich finde, es gibt keinen Anlass dafür, die AfD als undemokratisch zu bezeichnen."
"Das ist ja für uns auch eine Gradwanderung. Wie soll man damit umgehen. Einige sagen, so wie Sie, Ihr überspitzt das, andere sagen, je mehr man über die AfD redet, umso interessanter macht man sie. Auf der anderen Seite muss man sich ja damit auseinandersetzen, sonst kann man auch nicht Politik dagegen machen."
Ein Vater mit drei Kindern nähert sich, möchte ein gemeinsames Foto mit Michael Müller.
"Einmal hier zu mir gucken, das ist ja wunderbar. Sehr gut, vielen Dank."
Der Familienvater lächelt mit dem Regierenden Bürgermeister in die Kamera, obwohl er ganz und gar nicht zufrieden ist mit der Politik des Senats. Besonders die sozialdemokratische Schulpolitik ist dem in Sri Lanka geborenen Arzt ein Dorn im Auge - landet Berlin bei bundesweiten Bildungsvergleichen doch fast immer auf den hinteren Rängen, der aktuelle Bildungsmonitor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln hat festgestellt: In der Hauptstadt wirkt sich die soziale Herkunft besonders stark auf das Bildungsergebnis aus.
"Die SPD war sehr, sehr, sehr lange in Berlin an der Regierung. Und die haben das dort verpasst, das muss man sagen. Und das ist ein ganz schlechtes Zeugnis für den Senat der letzten Jahrzehnte."
Der rot-schwarze Senat bekommt schlechte Noten - nur einer von drei Wählern ist mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden. Marode Schulen, der Skandalflughafen BER, eine Verwaltung von vorgestern. Die Liste der Ärgernisse ist lang. Dies macht auch Amtsinhaber Müller nicht wett - bei einer Direktwahl würden 44 Prozent für ihn stimmen - Traumwerte sehen anders aus.
Zudem lagen noch nie in einem Berliner Landtagswahlkampf fünf Parteien so dicht beieinander. Die SPD liegt in den Umfragen knapp vorn, um Platz zwei und drei kämpfen Grüne und CDU, auf Platz vier liegen die Linken, auf Platz fünf die AfD. Lässt sich noch von den Volksparteien SPD und CDU reden, wenn Demoskopen beide um die 20 Prozent sehen?

Henkel - der Hemdsärmelige

Die Christdemokraten haben es in diesem Wahlkampf am schwersten - eingeklemmt zwischen den Rechtspopulisten von der AfD auf der einen und einem rot-rot-grünen Block auf der anderen Seite. Da braucht es starke Nerven - und die hat der CDU-Spitzenkandidat und frühere Amateurboxer - Mittelgewicht - Frank Henkel zweifellos.
Gute Laune bei der CDU, trotz brütender Hitze bei gefühlten 40 Grad. Ein Fass Bier und 100 Bratwürste haben die Christdemokraten in Pankow spendiert, dazu noch in Scheiben geschnittene Wassermelonen - der Hitze wegen.

Auftritt Frank Henkel, CDU-Spitzenkandidat und Berliner Innensenator.
"Guten Tag. Ein bisschen viel Rot in diesem Kleid."
Herausforderer Henkel - groß, bullig, im kurzärmeligen, gestreiften Hemd - schüttelt Hände, schlägt auf Schultern. Ein jovialer Typ mit einer dicken Teflonschicht. Damit ist Henkel das genaue Gegenteil von SPD-Spitzenkandidat Müller, in dem alle wie in einem Buch lesen können. Ärgert sich Müller, werden seine Lippen zu einem schmalen Strich, er wird unleidlich, blafft seine Gesprächspartner an. Nicht so der CDU-Spitzenkandidat.
"Was möchten Sie? Cola bitte. Mit Eis, ohne? Einfach nur kalt."
Ohne Cola geht gar nichts bei dem 52-Jährigen, der jetzt ans Mikrophon schreitet für eine kurze Wahlkampfrede.
"Meine Damen und Herren, liebe Freunde, herzlichen Dank für die Einladung …"
Der Berliner Innensenator Frank Henkel
Der Berliner Innensenator Frank Henkel© dpa/ picture alliance/ Sophia Kembowski

CDU: Für Burka-Verbot und gegen Doppelpass

Wie immer in diesem Wahlkampf stellt der christdemokratische Spitzenkandidat die Innere Sicherheit ganz nach vorn. Frank Henkel fordert ein Burka-Verbot, will den Doppelpass überdenken und die Polizei mit Elektroschockern ausstatten. Der Innensenator bilanziert seine Erfolge: 1000 neue Stellen bei der Polizei, 200 bei der Feuerwehr, den Verfassungsschutz um 25 Prozent aufgestockt. Weiter so und keine Experimente - das ist sein Motto:
"Weil das Rennen so eng ist, haben wir gute Chancen, unser Wahlziel zu erreichen. Und das Wahlziel lautet nach wie vor: Wir wollen stärkste politische Kraft werden und das ist auch drin, meine Damen und Herren. Berlin steht heute deutlich besser da als vor fünf Jahren. Lassen Sie uns da weitermachen und noch ein schönes Bürgerfest."
AfD stoppen und Rot-Rot-Grün verhindern gibt Frank Henkel als weitere Wahlziele aus. Mit wem die CDU koalieren will, dazu schweigt sich der Spitzenkandidat allerdings aus. AfD und Linke scheiden aus, die Grünen haben den Christdemokraten einen Korb gegeben und die in den Umfragen führenden Sozialdemokraten wollen lieber Rot-Grün als Rot-Schwarz. Die CDU also alleine zuhause? Frank Henkel lehnt sich zurück, trinkt noch eine Cola und erinnert an die letzten Koalitionsverhandlungen. Bereits vor fünf Jahren wollte die SPD rot-grün, entschied sich aber letztendlich für Rot-Schwarz.
"Deshalb bin ich bei dieser Frage ganz, ganz gelassen. Jeder, der jetzt etwas anderes erzählt, das läuft bei mir unter der Überschrift Wahlkampfgeplänkel."
Berlins CDU-Landeschef erinnert sich also gerne, die grüne Spitzenkandidatin Ramona Pop höchst ungern an die Koalitionsverhandlungen vor fünf Jahren. Kalt abserviert wurden die Grünen damals von Klaus Wowereit.

Grüne: Wahlkampf im Bionade-Biedermeier

"Vor jeder Wahl entdeckt die SPD in Berlin ihre Liebe zu Rot-Grün und nach jeder Wahl hat sie sich andere Koalitionspartner ausgesucht."
Die 38-jährige bisherige Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus - dunkle Locken, streng gezupfte schwarze Augenbrauen - kämpft deshalb lieber für sich als für eine Koalition mit der SPD.
Wolliner Straße 70, Berlin-Mitte. Ein saniertes Gründerzeitensemble. Im begrünten Innenhof hängt eine Frau in geblümtem Sommerkleid Kindersachen an die Wäscheleine, ein Vater repariert gemeinsam mit seinem Sohn das Fahrrad.
Ein ganz spezielles Berliner Biotop ist das hier - auch gerne als Bionade-Biedermeier verspottet. Eine gut situierte Mittelschicht, die ökologisch einkauft, sich das Auto mit anderen teilt und den Nachwuchs in den Montessori-Kindergarten schickt. Eine grüne Hochburg also.

"Guten Tag, darf ich Sie kurz stören…"
Die grüne Spitzenkandidatin mit Parteichef Cem Özdemir auf Stimmenfang.
"Guten Tag, dürfen wir Ihnen eine Information von den Grünen geben. Ich bin eigentlich Stammwähler, aber ich bin ein bisschen sauer. Warum sind Sie denn sauer? Sie könnten mehr für den Tierschutz tun. Dabei sind wir die einzigen, die etwas für den Tierschutz tun. Ja. Noch mehr."
Dieser Mittdreißiger mit Basecap und schwarzer Hornbrille gehört zur fundamentalen Vegetarierfraktion. Er wirft der Parteispitze vor, Die Grünen seien zu schnell eingeknickt, nachdem sie für ihren Veggie-Day-Vorschlag - wöchentlich einen vegetarischen Tag in öffentlichen Kantinen - viel Prügel einstecken mussten. Cem Özdemir und Ramona Pop sind Pragmatiker - das Image der Grünen als moralinsaure Verbotspartei passt den beiden gar nicht.
"Nazis nein danke" - Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Ramona Pop (3.v.l), und andere Teilnehmer einer Gegendemonstration stehen am 07.05.2016 auf dem Hackeschen Markt in Berlin.
"Nazis nein danke" - Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Ramona Pop© picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka
"Da hakt's ein und dann heißt es, Du willst mir in mein Privatleben reinreden. Eine Partei glaube ich, die ist für etwas anders zuständig. Die ist für die Rahmenbedingungen zuständig. Wie sich die Leute dann ernähren, wie sie einkaufen, das müssen sie selber entscheiden."
Der grüne Stammwähler ist nicht ganz überzeugt, hätte es gerne radikaler. Trotzdem - seine Stimme ist Ramona Pop sicher. Deshalb: rein ins Haus, den Leuten im Zweifel auch auf die Nerven gehen.
Die in Rumänien geborene Politikerin ist Profi. Sie setzt ein Lächeln auf, den Haustürspion fest im Blick.
"Hallo, wir sind Ramona Pop und Cem Özdemir. Guten Tag. Wir wollten Ihnen Informationen da lassen zur Abgeordnetenhauswahl. Das ist sehr nett. Das gebe ich Ihnen aber zurück. Obwohl ich Sie beide sehr schätze bin ich FDP-Mitglied und eifrig dabei, gegen Sie Stimmung zu machen. Das kommt in den besten Familien vor. Machen Sie doch nicht gegen uns, sondern für Sie Stimmung."

Die FDP setzt auf ein Nischenthema

Maximilian Conrad kämpft zusammen mit anderen tapferen Liberalen für den Wiedereinzug ins Berliner Abgeordnetenhaus. 2011 kam die FDP nur auf 1,8, in den aktuellen Umfragen liegt sie mal bei fünf, mal bei vier Prozent. Die Liberalen haben sich auf ein einziges Thema fokussiert: Sie fordern, nach der Inbetriebnahme des Flughafens BER den innerstädtischen Airport Tegel offenzuhalten. Ein Nischenthema. Aber wir brauchen ja auch nur fünf Prozent - erwidert Rechtsanwalt Conrad.
"Das Thema Tegel spricht sowohl diejenigen an, die Sorge haben, dass sich der Senat mit dem Projekt völlig übernommen hat als auch diejenigen, die eine bestimmte Vorstellung haben, wie Infrastruktur aussehen soll. Das ist keine Riesengruppe, aber die FDP muss ja auch nicht 20 Prozent für ein Thema begeistern."

Die AfD im Stimmungshoch

Sollten die Liberalen den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus schaffen, könnten Sie sich sogar über Koalitionsangebote freuen. Rot-Schwarz-Gelb wäre eine mögliche, aber wenig wahrscheinliche Variante. Oder eine Ampel unter Führung der SPD? Die AfD wird wohl wie zuvor in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz ein Dreierbündnis erzwingen.
Die Schlossstraße in Steglitz, im Süd-Westen der Stadt - eine CDU-Hochburg. Deshalb sind die Rechtspopulisten hier besonders aktiv. Drei, vier AfD-Wahlkämpfer im Rentenalter bauen den Infostand auf, hissen die blaue Parteifahne, verteilen Prospekte.
Die Stimmung ist gut. Kein Wunder. Das Abschneiden der Rechtspopulisten in Mecklenburg-Vorpommern hat für den letzten Schwung gesorgt. Wahlziel in Berlin: 15 Prozent.
"Darüber hinaus hoffen wir natürlich, und damit tun wir ja auch etwas sehr Demokratisches, dass wir Nichtwähler wieder an die Urne kriegen. Dass die Nichtwähler sich entscheiden, und sagen, diesmal will ich wählen, weil ich politisch etwas verändern will."
Politisch verändern in den Bezirken, denn am Sonntag ist auch Kommunalwahl. Und da die hauptamtlichen Stadtratsposten in den zwölf Berliner Bezirken - jeder für sich eine kleine Großstadt - nach Proporz verteilt werden, wird die AfD vermutlich dort zum ersten Mal politische Verantwortung übernehmen.
Spitzenkandidat Georg Pazderski - ein ehemaliger Bundeswehroffizier - gehört nicht zu den Radikalen a la Björn Höcke. Mit seinen Positionen könnte der 64-Jährige auch Mitglied der CSU sein. Das Geschäft der offen rassistischen Islam- und Flüchtlingshasser überlässt er anderen im Berliner Landesverband, Andreas Wild zum Beispiel.

Lager für Flüchtlinge?

"Bereits in Deutschland lebende Menschen können wir in spärlich besiedelte Landstriche Deutschlands bringen und sie dort geschützt unterbringen. Wir brauchen dafür Bauholz, Hämmer, Sägen und Nägel, und natürlich darf da nicht jeder raus oder rein, wie es ihm gefällt."
So der private Arbeitsvermittler - Platz 16 auf der Liste zum Berliner Abgeordnetenhaus - vor einigen Monaten auf einer Kundgebung in Thüringen. Spitzenkandidat Pazderski schwächt ab:
"Also er hat ja nicht Lager gefordert."
"Nein, ich bin nicht falsch verstanden worden. In allen Ländern der Welt werden Flüchtlinge in Flüchtlingslagern untergebracht. Ich weiß jetzt nicht, warum das in Deutschland nicht passieren soll."
Sagt Andreas Wild, der gerade mithilfe einer Schablone das AfD-Logo auf den Bürgersteig der Schlossstraße gesprüht hat.

David Bowie und der Wahlkampf

Wer auf der Schlossstraße nach Norden in Richtung Zentrum fährt, der landet im Stadtteil Schöneberg - hier wird die Schlossstraße zur Hauptstraße.
Auf dem Bürgersteig vor der Hausnummer 155 - einem unscheinbaren Gründerzeitgebäude - drängeln sich an diesem Vormittag etwa 200 Menschen. Grund dafür ist nicht die Physiotherapie- und Massagepraxis im Erdgeschoß. Grund ist David Bowie.

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller - gleichzeitig Berliner Kultursenator - weiht eine Gedenkplakette ein:
"Freue mich, dass so viele gekommen sind, hier heute vor eine berühmte Adresse, vor die Hauptstraße 155, wo David Bowie zwei Jahre gelebt hat, von 1976 bis 1978."
Normalerweise spricht Müller nicht bei der Enthüllung einer 40 mal 60 Zentimeter großen Gedenktafel aus Porzellan. Aber jetzt sind keine normalen Zeiten, jetzt ist Wahlkampf.
"David Bowie gehört zu Berlin, David Bowie gehört zu uns, vielen Dank."
Auftritt der Berliner Garagen-Rock-Band Chuckamuck. Ihre politische Einstellung: irgendwie links.
"Wichtig ist mir, dass Berlin liberal bleibt und fair, und transparent. Das soll halt so bleiben. Offenheit und Internationalität. Freiheit natürlich auch."
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) nach der Enthüllung der David-Bowie-Gedenktafel in Berlin-Schöneberg
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller nach der Enthüllung der David-Bowie-Gedenktafel in Berlin-Schöneberg© Deutschlandradio / Matthias Horn

Linke: Gelassen bis zum 18. September

Da ist es, das Hauptstadt-Lebensgefühl, das SPD, Linke und Grüne gemeinsam beschwören. Kein Wunder, dass Partei- und Fraktionsspitzen von Rot-Rot-Grün an diesem Tag vor David Bowies Haus stehen. Udo Wolf, Fraktionschef der Linken, wippt mit den Füßen im Takt. Später in seinem Abgeordnetenbüro wird er sagen: David Bowie, das ist mein Leben. Der 54-Jährige schmunzelt. Lang ist's her.
Udo Wolf gehört zu den Vordenkern der Berliner Linken, er hat die rot-rote Koalition unter Klaus Wowereit mitgeschmiedet, jetzt hat der Politologe gemeinsam mit anderen Genossinnen und Genossen ein Papier veröffentlicht unter dem Titel "Besser regieren heißt auch anders regieren". Wir müssen darüber reden, sagt Wolf:
"Wie Politik auch eben mit Politikverdrossenheit umgeht, mit einer veränderten Parteienlandschaft umgeht und vor allen Dingen mit einer selbstbewussten Bürgergesellschaft, die sich von der Politik nicht immer alles vorschreiben lassen möchte. Entweder man diffamiert und diskreditiert diese Bürgergesellschaft oder man setzt sich produktiv damit auseinander und auch mit den Möglichkeiten, die darin stecken, da muss sich Politik ändern."
"Alle wollen regieren, wir wollen verändern", lautet das Motto von Udo Wolf, es hängt an der Wand hinter seinem Schreibtisch. In diesem Wahlkampf wirken die Linken relativ gelassen. Sie waren schon zwei Legislaturperioden an der Macht, anders als die Grünen, die es nur zu einer kurzen Regierungsbeteiligung unter Walter Momper brachten.
"Wir haben zehn Jahre in der Stadt regiert, wir haben das sehr genau für uns ausgewertet, was wir geschafft haben oder auch nicht geschafft haben, aber für uns ist der Druck nicht so groß wie bei den Grünen, jetzt unbedingt regieren zu müssen."

Die Angst vor der AfD

In den Umfragen liegt die Linke um die 15 Prozent. Im Osten Berlins - ehemals Hauptstadt der DDR - ist die Zustimmung sehr viel höher als im Westen. Doch gerade in diesen Hochburgen droht Ungemach. Denn in Marzahn und Köpenick haben nur wenige eine feste Parteibindung, dort wohnen auch die meisten Nichtwähler - sie könnten diesmal ihr Kreuz bei der AfD machen.
Blauer Himmel über dem Helene-Weigel-Platz in Berlin-Marzahn. Auf den Holzbänken rund um den Brunnen genießen Rentnerinnen und Rentner die Spätsommersonne. Diese DDR-Generation lebt schon seit Jahrzehnten in den Plattenbauten rund um den Platz. Objektiv betrachtet geht es den meisten gut, subjektiv sieht es ganz anders aus. Viele von ihnen sehen sich als Wende-Verlierer. Hier leben auch diejenigen, die früher Linkspartei wählten und diesmal AfD.
"Wegen der Arbeitslosigkeit und die ganzen Missstände. Immer ist Geld genug vorhanden - das sage ich als Linker - auf einmal ist gut Geld vorhanden, aber für Ausländer. Aber nicht für einheimische Schulen, Kindergärten. Nicht halt für Deutschland."
Berlin-Marzahn ist ein schwieriges Pflaster für Wahlkämpfer. Um die Bürgerinnen und Bürger zu motivieren, braucht es mehr als einen normalen Infostand. Zum Beispiel eine selbstgekochte Kartoffelsuppe.
"Wir sind heute hier in Marzahn-Hellersdorf und machen etwas, was die Genossen in Sachsen in die Welt gesetzt haben. Nämlich dass man nicht allein am Stand ist, Papiere verteilt, sondern dass man die Bürgerinnen und Bürger auch zu leckerem Essen einlädt."
Die linke Stadträtin Julia Witt bindet sich eine rote Schürze um, legt los. Auf einem Gaskocher steht ein großer Topf, in den Schüsseln ungeschälte Kartoffeln, Zwiebeln, Möhren.
Kochen verbindet, das zeigt sich auch in Marzahn. Die ersten Neugierigen kommen an den Stand, fragen nach dem Rezept und wollen die Suppe probieren. Eine Rentnerin schenkt den kochenden Politikern einen Strauß Petersilie.
"Das ist ja so allerliebst. Aber nicht in die kochende Suppe tun. Können wir Ihnen was Lustiges geben? Erst einmal ein kleines Postkärtchen …"
Die Linke Julia Witt hält das grüne Petersiliensträußchen vor die rote Schürze, posiert so für die Fotografin.
"Bürger bringen Kräuter vorbei. Kann man mehr im Leben erwarten? Rot-Grün also …"
Rot-Grün. Eher Rot-Rot-Grün. So könnte die neue Berliner Koalition aussehen, nach dem 18. September.
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