Aasgeier kreisen um die Titanic

Von Ralf Geißler · 01.09.2010
Die Welt hat schon Dutzende Schiffskatastrophen gesehen, doch keine erregte die Gemüter so sehr wie der Untergang der Titanic. Fast 1500 Menschen ertranken 1912 im eiskalten Meer. Entdeckt wurde die Titanic schließlich von einem französisch-amerikanischen Forschungsteam.
Gesucht wird eine Legende, als im Spätsommer 1985 das Forschungsschiff Knorr im Nord-Atlantik kreuzt. An Bord hoffen mehr als zwei Dutzend Wissenschaftler aus Frankreich und den USA, die Titanic zu finden. Der Passagierdampfer hatte 1912 einen Eisberg gerammt und war gesunken. Die Wissenschaftler vermuten das Wrack rund 700 Kilometer vor Neufundland. Organisiert hat ihre Reise der Ozeanograf Robert Ballard, der seine Erinnerungen später in einem Buch festhält:

"Das Forschungsschiff stampfte. Ich lehnte mich über die Reling und starrte in die Finsternis. Todmüde, völlig erschöpft und der Verzweiflung nahe. Schon fünf Wochen suchten wir nach der Titanic. Alles, was wir bisher zu Gesicht bekommen hatten, waren die endlose Meeresoberfläche und der leere schlammige Meeresboden."

Mit teuren Sonar-Geräten untersuchen die Forscher den Grund in rund 4.000 Metern Tiefe. Das Geld dafür kommt zum Teil von der US-Armee. Denn nebenbei sucht Ballard auch zwei verschwundene Militär-U-Boote. Am 1. September 1985 – kurz nach Mitternacht – zeichnet sich auf den Bord-Monitoren plötzlich ein riesiger Kessel ab. Er stammt tatsächlich von der Titanic. Auf dem Forschungsschiff bricht Jubel aus. Über Funk gibt Ballard Interviews.

"Einige Teile sind noch in bemerkenswert gutem Zustand. Gerade sah ich schöne Bilder von Weinkisten und unbeschädigten Tellern."

Das Team macht mit Unterwasser-Robotern Tausende Fotos. Vor allem das Vorderschiff begeistert die Entdecker. Es ist noch deutlich zu erkennen. Ballard in seinen Erinnerungen:

"Als die Bilder immer aufregender wurden, kam mir zum ersten Mal in zwölf Jahren meiner Suche die ganze menschliche Tragödie der Titanic mit voller Wucht zum Bewusstsein. Hier lagen auf dem Meeresboden nicht nur die letzten Überreste eines großen Schiffs; dieser Ort war auch die einzige passende Erinnerung an die über 1500 Menschen, die mit ihr untergegangen waren."

Mit einem Tauchroboter holt Ballard einige Teile aus dem Meer. Danach plädiert er dafür, das Wrack und die Toten ruhen zu lassen. Doch das bleibt ein frommer Wunsch. Schon lange vor Ballard hatten Abenteurer davon geträumt, Reste der Schiffskatastrophe zu bergen. Ein Amerikaner wollte die Titanic mit riesigen Magneten aus der Tiefe ziehen. Ein anderer plante, das Schiff mit Tischtennisbällen zu füllen, um es an die Oberfläche zu zwingen. Doch erst nach Ballards Entdeckung lässt sich überhaupt etwas bergen.

Bis dahin war vom einst größten Schiff der Welt nur die Salon-Orgel geblieben, die nicht rechtzeitig zur Jungfernfahrt den Hafen erreicht hatte. Außerdem zeigte die Titanic Historical Society in den USA, was die Überlebenden des Untergangs bei sich trugen: eine Schwimmweste, ein paar Stoff-Taschentücher. Von der Aussicht, seine Sammlung erweitern zu können, war der Vorsitzende Charles Haas 1987 nicht begeistert.

"Ich habe sehr gemischte Gefühle über diese Art von Projekten. Ob Sie es glauben oder nicht, ein Auktionshaus in London kündigt heute schon in Anzeigen an, dass es den Steuerstand der Titanic demnächst versteigern will. Bevor das Gerippe erreicht ist, beginnen die Aasgeier schon zu kreisen."

Die Einwände nützen nichts. Insgesamt holen Expeditionen rund 6.000 Gegenstände nach oben. Schuhe, Besteck, Spiegel. Sogar ein Tresor wird geborgen. Doch statt der erhofften Diamanten purzeln aus ihm nur billige Ketten und Münzen heraus. Die Funde lassen sich trotzdem zu Geld machen: in der Wanderausstellung "Expedition Titanic". Als sie 1997 in Hamburg gastiert, kann Ausstellungsleiter Holger von Neuhoff sogar Briefe eines Immigranten zeigen.

"Die waren pechschwarz noch vor einem Jahr. Die sind geborgen worden und sind restauriert worden. Und ich kann richtig sehen, das Gefühl, was er als Immigrant hatte, als er nach Amerika ging. Schön ist sicher auch der Schmuck, der die Zeit darstellt. Also die große Epoche, wo in der Ersten Klasse natürlich auf der Titanic eigentlich ein Leben gefrönt wurde, was ganz im Gegensatz zu dem stand, was die Immigranten in Amerika suchten."

Seit einigen Jahren bieten Reedereien auch Tauchfahrten zur Titanic an. Der Preis: 30.000 Euro. Doch die spektakulären Reisen wird es vermutlich nicht mehr lange geben. Eisenbakterien im Ozean zersetzten den Schiffskörper. Experten erwarten, dass das Wrack in den nächsten zwanzig Jahren in sich zusammenfällt.