90 Jahre Radio

Nährboden und Freiraum

Leser auf der Leipziger Buchmesse
Die Literatur und das Radio sind bewährte Partner: Impression von der Leipziger Buchmesse © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Von Knut Cordsen · 07.01.2014
Lange waren Radio und Literatur Verbündete, der eine auch ein Mäzen des anderen. Wie ist es im Zeitalter digitaler Dauerbefeuerung auf ganz unterschiedlichen Kommunikationskanälen um das Verhältnis von Radio und Literatur bestellt?
Michael Lentz: "Ich verbinde mit dem Medium Radio etwas, was im Verborgenen ist, was neu und zu entdecken wäre, was einen überraschen kann, und dann denke ich – das ist meine private Erfahrung –, dass das Medium Radio dem Medium Fernsehen doch noch etwas voraus hat, was gerade in der Beschränkung auf das bloß Akustische begründet liegt."
Michael Lentz: 49 Jahre alt, Poet, Romancier, Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literatur-Institut Leipzig und Hörspiel-Autor. Ein Schriftsteller,für den die Literatur und das Radio schon immer Verbündete waren.
Radio und Literatur als Verbündete
Jörg Albrecht: "Also ich weiß nicht, ob man wirklich davon sprechen kann, dass Radio und Literatur Verbündete sind, da natürlich jetzt, ganz allgemein, das Internet gerade mehr Einfluss auf das Schreiben hat als das Radio, aber, anders herum, das Radio ist natürlich ein Medium, in dem Literatur immer noch vorkommt und auf jeden Fall mehr als im Fernsehen und vielleicht auch dadurch hörbarer, sichtbarer als im Netz. Also, es scheint mir da immer noch eine Verbindung zu geben, und das allein dadurch, dass Literatur, wenn sie laut gelesen wird, auch einfach anders beim Publikum ankommen kann. Das hat natürlich auch diesen Hörbuch-Boom gegeben jetzt in den letzten zwölf, fünfzehn Jahren, und das hat ja noch mal gezeigt, dass die Leute ein Verlangen danach haben, Literatur gelesen zu bekommen, und das Radio hat allein durch das Hörspiel, durch eine – wie das Wort schon sagt – viel spielerischere Form von Aufbereitung von Literatur da auch noch einen ganz anderen Vorteil. Insofern, es gibt da bestimmt eine Verbindung. Ob es Verbündete sind, weiß ich nicht."
Jörg Albrecht, 32 Jahre alt, Autor von Hörspielen, Romanen, Dramen und Gestalter multimedialer Literaturperformances. Auch er ein Freund des Radios.
Thomas Meinecke: "Ich glaube, es gab von Anfang an eine ziemlich enge Verbindung zwischen Literatur und Radio. Und ich persönlich erlebe das jetzt schon seit gut 15 Jahren, dass mich das Radio als Schriftsteller immer auch wieder fragt: Habe ich nicht Lust, irgendwas zu machen? Weil es auch den Bereich des Sprachknasts – so würde ich es jetzt mal formulieren – auch wieder überwinden kann. Also dass man im Sonischen, im Klanglichen, im Geräuschhaften aus dem Knast der Sprache, in dem Schriftsteller, Schriftstellerinnen auch immer wieder sitzen, rauskommen können ‒ und da ist das Radio fast so etwas wie eine helfende Hand."
Thomas Meinecke, 58 Jahre alt, Verfasser von Romanen, Essays, Hörspielen und seit 1983, seit nunmehr 30 Jahren, Radio-DJ.
Meinecke, Albrecht, Lentz: Drei Stimmen in einem Rundruf, der der Frage gilt, wie es Schriftsteller heute mit dem Radio halten – ist es als Medium noch attraktiv, hat es seine große Zeit nicht längst hinter sich als Transmissionsriemen der Literatur? Gilt der alte Satz von Alfred Döblin aus dem Jahr 1929 noch, der Rundfunk gebe dem Schriftsteller "den eigentlichen Mutterboden jeder Literatur" zurück?
Regler auf für Michael Lentz: "Zunächst einmal wäre der Reiz etwas Medieninternes, etwas, was ja Döblin schon 1929 gefordert hat, dass man nicht bloß einen Roman mehr oder weniger gut vorliest und diese Vorlesung wird dann mit einer oder mehreren Stimmen gesendet, sondern dass man für das Medium Hörspiel etwas genuin erarbeitet. Und meine Texte ‒ bis auf ganz wenige Ausnahmen ‒ habe ich, sofern überhaupt Texte vorliegen, ausschließlich für das Hörspiel gemacht. So dass das für mich genuine, für sich stehende Arbeiten sind, die das Hörspiel immer wieder neu mit jedem Hörspiel, das neu erarbeitet wird, als ein Genre neu begründet. Ich würde sagen, wenn man die Herkunft der Literatur aus der Mündlichkeit sehen würde, dann könnte das Radio immer noch ein Nährboden, eine Basis für die Literatur sein, und tatsächlich ist es in der deutschsprachigen Literatur vielfach so, dass Mündlichkeit immer noch eine gewisse Ursprünglichkeit von Literatur darstellt."
Das Radio als Mäzen der Literaten
Wer über das Verhältnis der Literatur zum Radio und des Radios zur Literatur nachdenkt, hat automatisch die späten 40er- und 50er-Jahre vor Augen. Die Zeit, in der Alfred Andersch, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger in den Rundfunkredaktionen saßen, Ingeborg Bachmann fürs Radio schrieb und Siegfried Lenz – auch er eine große Figur der deutschen Nachkriegsliteratur ‒ mit seinen Hörspielen und Features ein Publikum von zwei Millionen Hörern erreichte.
Lenz
Siegfried Lenz© dpa / picture alliance / Axel Heimken
An jene Jahre erinnert sich der heute 87-jährige Siegfried Lenz als goldene Zeit:
"Wobei ich natürlich nicht verkennen möchte oder sogar betonen möchte, dass die mäzenatische Funktion des Rundfunks außerordentlich war. Die meisten meiner Kollegen ‒ Böll und all die anderen, ich brauche sie nicht aufzuzählen, Sie kennen sie alle ‒ haben was für den Rundfunk geschrieben und wurden vom Rundfunk unterstützt. Schauen Sie, als hätte es eine Übereinkunft zwischen den Sendern gegeben, war es damals so: Wenn man ein Hörspiel schrieb, das einigermaßen geraten war, sagen wir mal so unästhetisch wie möglich, konnte man nahezu sicher sein, dass andere Sender es wiederholen würden. Und das bedeutete für einen Schriftsteller ungeheuer viel. Wieder war ein Monat gesichert. Bei einem Feature auch, wieder waren 14 Tage oder ein Monat gesichert, also aus den Sorgen raus, das heißt, diese left-over-time, diese übrig gebliebene Zeit konnte man verwenden, um eine Novelle zu schreiben, ein Theaterstück, was immer."
Es waren nicht nur Hörbilder und -spiele, die Siegfried Lenz fürs Radio schuf. Einmal trat er auch als DJ auf: 1968, im Norddeutschen Rundfunk, legte er Platten auf, spielte seine Lieblingssongs und räsonierte ganz allgemein über Musik:
"Musik, diese vorübergehende Freude. Immerhin, es bleibt die Möglichkeit, diese Freude zu wiederholen. Auf Platten, auf Lieblingsplatten. Also konservierte, wiederholbare, verlässliche Freude, wenn auch wie bei der Lektüre eines Buches, jeweils, da wir ja in verschiedenen Stimmungen betroffen werden, mit unterschiedlichen Resultaten."
Der Schriftsteller als DJ
Theoretisch hätte der junge, in Hamburg aufwachsende Thomas Meinecke seinerzeit hören können, wie Siegfried Lenz sich als Plattenaufleger versuchte. Ein Vorbild hätte Meinecke in Lenz sicherlich nicht gesehen ‒ ist doch das, was Meinecke beim BR im "Zündfunk Nachtmix" seit drei Jahrzehnten macht, so völlig anders und grundverschieden vom einmaligen und steifen Auftritt des Siegfried Lenz:
"Ich bin ja in einer Hinsicht auch tatsächlich ein Radio-Macher, indem ich meine Lieblingsmusiken spiele. Ich bin ja auch noch sogenannter Radio-Disc-Jockey, insofern kenne ich auch den Effekt, dass man am liebsten die Töne selber sprechen lässt und nicht unbedingt mit dem Textballast sozusagen etwas umschreiben muss, was man nicht hören kann, was zum Beispiel bei Print-Journalismus der Fall ist. Aber wenn ich an meine Hörspiel-Arbeiten denke, die ich jetzt eben seit anderthalb Jahrzehnten mache oder sogar länger noch, dann bietet mir dieses Medium etwas, was als Sehnsuchtsraum beim Schreiben eigentlich wie in einem toten Winkel auch noch mitschwingt. Nämlich: Da gibt es noch etwas Anderes. Da ist noch irgendwo was Anderes, wo wir mit der Sprache gar nicht hinkommen. Ich bin nun einer, der in seinen Romanen versucht, genau diese Zone sowieso auszuloten, und immer an die Grenze dessen, was ich noch verstehen kann, vorzudringen oder auch das noch zu formulieren und das noch festzuhalten, wo es mir entschwindet. Aber dahinter beginnt ein großer Raum noch, der nonverbal ist und trotzdem narrativ, und das ist für mich ganz stark die Musik. Und dass die jetzt quasi abstrakt wäre und referenzfrei, das kann man, glaube ich, nicht behaupten. Das sind ja auch Räume, die diskursiv formuliert sind, ob das der Club ist, das Konzert, die Oper, das Ballett, das Musical – das sind ja alles Referenzhöllen, durch die man sich da bewegen kann, was ich ja bei meinem Schreiben auch gerne tue, nur eben: Es ist toll, dass da Worte nicht hinkommen, und dass da so eine Art Freiraum, eine Hintertür aufstoßen kann, so erlebe ich das jedenfalls."
Schriftsteller Thomas Meinecke auf der Frankfurter Buchmesse 2013 am Stand von Deutschlandradio.
Thomas Meinecke© Deutschlandradio - Cornelia Sachse
Thomas Meinecke stellt im Radio allein oder im Gespräch mit Kollegen aktuelle Alben vor – solche, die es sich seiner Meinung nach lohnt zu entdecken, und solche, die in den Charts sind. Seine BBC, könnte man sagen, ist nicht die British, es ist die Bavarian Broadcasting Company:
"Das Radio hat immer unglaublich viele Wechsel durchgemacht, und es ist nicht zufällig, dass der legendäre britische Radio-DJ John Peel erst mal von einem Piratenschiff aus senden musste, bevor ihn die BBC an Bord holte und er ganz offiziell das machen konnte, was die Popkultur auf den Plan gestellt hatte, nämlich Underground Music zu spielen in einem öffentlich-rechtlichen Sender, wo vorher immer nur Orchester die Stücke der Bands einspielen oder nachspielen mussten. Das hatte wiederum dann auch den Vorteil, dass John Peel auch Bands einladen konnte, die sozusagen in diesem subkulturellen Raum berühmt geworden waren und die Stücke, diese sogenannten Peel-Sessions, aufnehmen lassen konnte, in England. Aber das sind immer solche Dinge ‒ als vor ein paar Jahren Internetradio aufkam und eine unglaubliche Spezialisierung stattfand, die der Mainstreamisierung in den großen Sendern entgegenwirkte, weil man konnte dann ja auch ausweichen auf so etwas, man konnte und kann sich jede Musik der Welt herunterladen. Ich finde es nach wie vor toll, dass es so etwas gibt wie ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem mit dem sogenannten Bildungs- oder Kulturauftrag, dass man eben auch Dinge, die nicht nur dem reinen Marktgesetz gehorchen, spielen kann. Und ich sehe diesen Freiraum auch noch und habe ihn auch noch. Es gibt Leute, die das alles etwas pessimistischer sehen. Bei mir ist alles noch gut, ich habe eher gedacht, ich selber würde vielleicht irgendwann kein Interesse mehr haben, aber das ist nicht der Fall und insofern habe ich auch noch meine Zuhörer, die längst meine Kinder sein könnten."
Einer, der ein Kind Meineckes sein könnte und sich in seinen literarischen Arbeiten immer wieder ähnlicher literarischer Verfahren wie Meinecke bedient, ist Jörg Albrecht. Auch bei ihm ist, mit Meinecke gesprochen, "alles noch gut". Denn wenn der Anfang-30-jährige Albrecht sich im Bekannten- und Freundeskreis umhört, hat er nach wie vor den Eindruck, dass auch junge Menschen Radio hören:
"Oft ist es auch das, was Radio eben auch für mich ausmacht und eine ganze tolle Form ist, das Nebenbei-Hören, und dann auf einmal etwas aufschnappen und eine ganze Sendung zu Ende hören, weil einen das Thema auf einmal total interessiert, dass das Thema einem eben darüber nahegebracht wird. Ich glaube auch, dass das im Gegensatz zum Fernsehen ganz anders funktioniert, wo die Bilder eben doch eine andere Form von Sensationalität, eine andere Form von Spektakel darstellen müssen. Und das Radio, da kann man, auch wenn man nur kurz zuhört, dann wieder ein- und abtauchen, dann wieder in den Alltag. Also ich habe schon den Eindruck, dass die Leute es hören. Ich glaube, es ist auch eine Form, die sich auch als Zeitlichkeit ganz anders in den Alltag der Leute einschreibt. Dieses Nebenbei-Hören, das ist eine andere Verbindung, und ich glaube, das ist gar nichts Schlechtes. Nicht dieses: 'Naja, ich höre Frühstücksradio nur nebenbei, und ab und zu trällert da jemand ein Lied', sondern es ist etwas, was sich immer wieder einmischen kann in die eigene Wahrnehmung, und dann kann man's auch vielleicht kurz überhören und wieder zurückkehren. Ich finde es eine schöne, ganz mobile Form von Wahrnehmung."
Über das Medium reflektieren
Der in Berlin lebende Autor Jörg Albrecht arbeitet regelmäßig für das Radio. Mit dem Musiker Matthias Gründel zusammen bildet er das Duo "phonofix":
"Das Medium Hörspiel nutzen wir nicht als irgendein Medium, sondern es wird gleichzeitig auch immer ein bisschen reflektiert. Das heißt jetzt gar nicht, dass in den Hörspielen unbedingt das Thema Radio auftauchen muss, aber es ist natürlich eine ganz bewusste Entscheidung für die Form, für die Konzentration auf Sprache und auch für eine musikalische Sprache, für die Verbindung von Sprache und Musik."
Was in Jörg Albrechts Plädoyer für das Radio als literarisches Medium und nach wie vor verlockende Spielwiese anklingt, hört man häufig bei diesem Rundruf unter deutschen Schriftstellern: Es ist die Begeisterung für ein Medium, das dem ureigenen Instrument jedes Autors, der Sprache nämlich, huldigt:
"Ja, da würde ich einfach sagen, ist es die Entscheidung für das Medium Radio als Reflexion von Sprache auch, also da sehe ich auch immer noch die Stärke des Radios – egal, ob das jetzt im Netz verortet ist oder ob das Radio jetzt ans Internet angeschlossen ist oder nicht. Ich sehe da immer noch die Möglichkeit, sich mit Sprache zu beschäftigen in einer ganz konzentrierten Form. Und das finde ich wichtig, weil ich das Gefühl habe, dass das in anderen Medien so ein bisschen verloren geht – dieser ganzen medialen, auch sehr bildgeprägten Welt was in Sprache entgegensetzen zu können, an ihr abarbeiten zu können, und da bietet unter anderem das Hörspiel die ideale Form."
Jörg Albrecht
Jörg Albrecht© Anne Levy
"Abbrüche. Performanz und Poetik" – unter diesem Titel veröffentlichte Jörg Albrecht 2013 seine Dissertation. Darin untersucht er das Hörspiel und seine Entwicklung in der deutschsprachigen Literatur von den 60er-Jahren bis heute:
"Ich habe ganz konkret gearbeitet zu Momenten von Abbruch in Hörspielen, also sprich wenn die Handlung unterbrochen wird und es gar nicht weiter geht und die anders weitergeht, aber wie auch gerade seit den 60-ern durch die Stereophonie, also durch die Aufteilung von verschiedenen Stimmen und Geräuschen im Raum, wie dadurch sich verschiedene Szenarien unterbrechen können. Also, ganz kurzes Beispiel: Ich habe zu Fassbinders 'Iphigenie'-Hörspiel gearbeitet, das ist von 68/69, nein, es stammt von 1970, aber irgendwie so aus der Zeit, und da ist es zum Beispiel so, dass es teilweise drei völlig verschiedene akustische Abläufe gibt. Ich höre links was ganz anderes als rechts und in der Mitte wieder was ganz Anderes, es sind drei verschiedene Sprecher, drei verschiedene Texte, die auf mich einprasseln, und ich kann ja eigentlich – so ist das Gehirn gebaut – erst mal nur einem stringent folgen, wechsle aber automatisch zwischendurch in die anderen Spuren. Also die unterbrechen sich gegenseitig. Und ja, da merkt man natürlich, allein durch die Möglichkeit, die sich da eröffnet hat, das stereophonische Hörspiel war ja auch eine große Revolution in diesem Bereich, dadurch ergeben sich ja wieder Form, Kunstformen, die viel näher an der Alltagswahrnehmung sind. Denn wenn ich in der Kneipe sitze und versuche, meinem Gesprächspartner zuzuhören, kann ich ja auch dadurch abgelenkt werden, dass neben mir jemand anderes etwas erzählt und das finde ich vielleicht in dem Moment spannender und höre dazu, muss mich aber darauf konzentrieren, was mein Dialogpartner sagt. Und vielleicht schreit noch jemand an der Bar etwas, und das kommt auch noch mit rein. Das war eine Umwälzung, wo von der technologischen Seite her die Wahrnehmung noch mal ganz anders geschärft werden konnte. Und ich untersuche das in der Dissertation bis 2002, sprich wir haben auch den Schritt in die digitalen Medien. Was heißt das also, wenn ich jedes akustische Material auch als Daten erfasst habe, wenn ich damit auch im Schnitt ganz anders umgehen kann, was für neue Texte entstehen daraus auch? Oder basiert das Ganze vielleicht nur auf den vorhandenen Aufnahmen, ich kann aber ganz anders abmischen? Ich verstehe dadurch natürlich auch Geschichtsschreibung als was ganz Anderes. Diese ganze Umwandlung hin zur digitalen Welt, die hat ja auch im Hörspiel in dieser Form stattgefunden. Und im Radiobetrieb findet sie sowieso statt."
[Ausschnitt aus der BR-Produktion "Hell of fame" 2013]
"Mir ist es auf jeden Fall wichtig, erst mal von einer gesprochenen Sprache auszugehen. Das ist für jede Art von Text wichtig.Jeder Text, den ich produziere, basiert auf etwas Gesprochenem. Es geht nicht so sehr darum, jetzt was Druckreifes, druckfertig Formuliertes zu machen, sondern zu gucken, wie sprechen die Leute über was. Also mich interessieren immer ganz konkrete Themen, ganz konkrete Inhalte, und ich gucke mir dann an: Wie ist die Sprache? Ja, was bildet sich in dieser Sprache ab, was sind das für Verhältnisse, was sind das für Denkweisen, was sind das auch für Machtstrukturen, Hierarchien, die da schon in der Sprache bestehen, wo sind Spielmöglichkeiten? Von daher ist das Radio da natürlich sehr nah dran, weil das eben gesprochene Sprache ist auf verschiedenen Ebenen, sei's in der Kunstform, im Hörspiel oder im Feature, wo's ja vielleicht eher um Originalmaterial geht, um das, was die Leute tatsächlich gesagt haben, also um in Anführungszeichen Authentisches, oder, natürlich auch eine sehr schöne Form, das Gespräch. Im Radio. Und ich glaube, das Denken im Sprechen und das Denken durch die Sprache, denn nur in der Sprache können wir ja denken, das interessiert mich, und deshalb finde ich das Radio eine grandiose Form, die auch durch das Netz nur gewinnen kann."
Wie sitzen am Lagerfeuer
Jo Lendle, Chef beim Hanser-Verlag in München
Jo Lendle© dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
Jo Lendle: "Naja, die Herkunft der Literatur kommt natürlich aus der oralen Tradition, aus der mündlichen Überlieferung, das Sitzen am Lagerfeuer, das Singen der Mythen, daraus speist sich das, und viele Literaturen leben ja davon, dass sie wieder ein Ereignis in der Zeit werden und einen Klang bekommen, und da hat das Radio immer verstanden zu zaubern."
Jo Lendle sieht gleichwohl, dass die Hörsituation heute eine völlig andere ist. Man ist ständig online, surft im Netz, ist abgelenkt. Das Radio muss sich behaupten inmitten von What's app, Twitter, youtube und anderen sozialen Netzwerke:
"Sicherlich sind die Hörgewohnheiten heute andere, man sitzt nicht mehr in der guten Stube im Idealfalle um den Küchentisch und hört gebannt dem Empfänger zu, das sind unruhigere Erzähl- oder auch Hörsituationen. Ich kenne es von mir selber immer, ich höre natürlich am kontinuierlichsten, wenn man dann plötzlich so halbkrank im Bett liegt, wenn man auch einen ganzen Tag Zeit hat, auch ein Programm durchzuhören. Also all das, was sich die Sender ja auch an programmatischer Arbeit einfallen lassen, so wie wir es im Verlag ja auch tun. Wir machen ja nicht einzelne Bücher, sondern diese Bücher reden miteinander, so tun es die Sender ja auch."
Und das Radio ist heute omnipräsenter denn je, dem Internet sei Dank. Man kann es weltweit im Live-Stream hören. So erkennt auch Thomas Meinecke eher keine Konkurrenz zwischen dem Radio und dem Netz, sondern neue Chancen:
"Ich habe das Gefühl, dass sich die Welt der sozialen Networks, überhaupt des Internets und der Radio-Programme gegenseitig durchdrungen haben. Also ich erlebe das selber, dass meine Radio-Sendungen im Internet diskutiert werden, umgekehrt auch Hinweise darauf gegeben werden, dass ich da irgendwo was sende, und verteilt werden und sich multiplizieren. Und auf der anderen Seite: wenn ich selber sende, kann ich auch online sein und dadurch, dass inzwischen auch gestreamt wird, kann ich sozusagen, wenn ich auf Facebook gehe, die kleinen grünen Lämpchen neben den Namen meiner sogenannten Freunde sehen und gucken: Ach, in Sao Paulo oder in Washington hört der oder die auch gerade wieder zu. Es gibt ja auch diese Feedback-Möglichkeit, es ist ja auch ein Kanal, der zurückgeht, der das Radio aber nicht untergräbt, sondern es hören mir eben Leute zu, wo der Sender normalerweise nicht hinkäme, und das ist auch ein Zugewinn. Also es bröckelt irgendwo was weg, aber was anderes kommt dazu – ich glaube, ich bin einfach ein hoffnungslos optimistischer Mensch."
Hörspiele, wie sie Thomas Meinecke schreibt, stehen nach Ausstrahlung abrufbar im Internet, werden etwa in sogenannten Hörspielpools verfügbar gehalten.
Thomas Meinecke: "Das Radio ist natürlich momentan wie alle anderen Massenmedien auch in einer Umbruchssituation, wo auch noch nicht alle Fragen geklärt sind, wo man sich im Endeffekt niederlassen können wird. Also Print, Online, einfach gesendet im klassischen Sinne – das ist ja noch nicht klar, da streiten ja auch die verschiedenen Medien, Print zum Beispiel, mit dem Radio um diese Plätze, und ich empfinde es im Moment so, dass, wenn man sich zum Beispiel die Hörspiel-Situation anguckt, diese Pools, diese Podcast-Pools, glaube ich, im Endeffekt dazu beitragen, dass diese Stücke noch mehr gehört werden statt sich nur – wie man früher sagte – zu versenden. Versenden ist ja auch was Tolles, das Flüchtige am Radio ist ja auch was Tolles, das will ich gar nicht hier einzementieren wollen, aber die Möglichkeit des Podcasts, des Hörspiel-Pools, generell die availability, das Vorhandensein all dessen, das hat schon enorm zugenommen und das würde ich immer noch unter dem Begriff Radio fassen wollen."
Beschränkung auf das rein Akustische
Lentz
Michael Lentz© dpa / picture alliance / Erwin Elsner
Michael Lentz: "Dadurch, dass das Radio in der Ausstrahlung und in der Situation des Abrufens das Zeitalter der Digitalisierung nicht nur erreicht hat, sondern im Zeitalter der Digitalisierung im positiven Sinne aufgegangen ist, hat das Radio – würde ich sagen – keine Einbußen der Verfügbarkeit, der Distribution und des Anspruchs erlebt. Das wäre eher hinsichtlich des Anspruchs eine Frage des Programmmachens oder des Schielens auf Einschaltquoten. Ich finde, das Radio steht sehr, sehr gut da, im Gegensatz zu manch anderen Medien, wie zum Beispiel den Printmedien, speziell den Zeitungen, die noch viel größere Zyklen des Auf- und Abschwungs durchstreifen müssen. Da glaube ich, wenn man auch im Freundes-, Bekanntenkreis hört und liest darüber, welche Leute Zugriff aufs Radio in welchen Situationen haben, so ist das Radio doch im gesamten Alltag rund um die Uhr präsent und hat da keine Verluste wegzustecken. Im Gegenteil, ich komme noch mal drauf: Die Beschränkung auf das rein Akustische ist etwas, was viele Leute in der Sinnenüberflutung gerade suchen. Das Nur-Hören, ohne es sehen zu müssen."
Michael Lentz arbeitet gerade an einer neuen Produktion für den Rundfunk. Die Faszination für das Medium Radio hält also unter den Schriftstellern auch 90 Jahre nach seinem Sendestart an. Und sie unterscheidet sich womöglich gar nicht so sehr von der Liebeserklärung Gerhart Hauptmanns, der schon kurz nach Einführung des Rundfunks meinte, das Radio komme seiner "großen Weltliebe zum Potpourri universell entgegen, indem es durch Millionen und Abermillionen unsichtbarer Kanäle alles, was gesprochen, gesungen, gegeigt und trompetet wird, in Paläste und Bürgerhäuser, ja in die verschneite Hütte des armen Bergbewohners leitet". Der heute 86-jährige Martin Walser, selbst ein alter Radio-Mann, hat einmal rückblickend festgestellt, es habe ihm stets "gefallen in diesem Dorf, das Rundfunk heißt".
Michael Lentz: "Naja, wenn Walser vom 'Dorf Rundfunk' sprach, veranschlagt er da ja eine merkwürdige eingeschränkte Topographie. Das Medium Rundfunk ist so hochintegrativ wie überall erreichbar und auch stofflich-thematisch alles erreichend, so dass man eher von der 'Welt Rundfunk' sprechen müsste. Vor allem, weil ja etwas erreicht ist, was das alte Dilemma beseitigt, nämlich der Ressource und der Erreichbarkeit des Produzierten, was oft ja bei einmaliger Sendung oder jährlicher Wiederholung die Aura des Einmaligen nicht abstreifen konnte. Jetzt kann der Hörer die Sendung, wenn er sie verpasst hat, im günstigsten Falle einfach noch mal hören. Deshalb würde ich sagen, der Einzugsbereich im Stofflich-Thematischen ist wesentlich größer geworden, er umfasst die Welt. Wenn Walter Höllerer früher fragte 'Was hat alles Platz im Gedicht? Die Welt', so hat natürlich im Radio möglicherweise nicht nur die Welt Platz, sondern auch das, was darüber hinaus geht."