90 Jahre Protestgeschichte

Von Anette Schneider · 16.03.2011
Das politische Plakat kam nach dem Ersten Weltkrieg auf. Noch bis in die Achtzigerjahre nutzten es viele Künstler, um auf soziale und politische Missstände aufmerksam zu machen. Das Hamburger "Museum für Kunst und Gewerbe" widmet dem politischen Plakat jetzt eine ganze Ausstellung.
Auf dem leuchtend roten Plakat sieht man nichts als eine große 1. Der Deutsche Gewerkschaftsbund in Stuttgart, der 1994 bei Dieter Roth ein Plakat zum 1. Mai in Auftrag gegeben hatte, dürfte darüber nicht wirklich begeistert gewesen sein. Und in der Tat stellt sich die Frage, wo hier der politische Gehalt bleibt.

Dagegen redet die politisch engagierte Künstlerin Käthe Kollwitz Klartext: "Nie wieder Krieg!" springt es dem Besucher in großen Buchstaben entgegen. Kollwitz’ berühmtes Antikriegsplakat mit dem Jungen, der seinen Arm zum Schwur in die Höhe reckt, entstand 1924. Zusammen mit einigen Rosta-Bildern aus dem revolutionären Russland gehört es zu den ganz frühen Künstlerplakaten, erklärt Kurator Jürgen Döring:

"Politische Plakate sind eine erstaunlich junge Erscheinung. Die kommen eigentlich erst mit dem Ersten Weltkrieg auf. Vorher gab es einfach aus Zensurgründen, oder weil man es nicht kannte, so gut wie keine politischen Plakate."

Chronologisch gehängt spiegeln die 180 Plakate knapp 90 Jahre Protestgeschichte. Schnell wird deutlich, wie wenig von dem, was Künstler oft schon vor Jahrzehnten anprangerten und forderten, heute erledigt ist: Es geht gegen Krieg und Faschismus, Rassismus und Folter, Atomenergie und Umweltzerstörung, für Menschenrechte und Demokratie. Dabei unterscheiden sich die Künstlerplakate deutlich von denen, die Grafiker und Designer zum Beispiel für Parteien entwerfen.

"In der Regel kann man Künstlerplakate nicht auf den ersten Blick verstehen, ... sondern muss sich in diese Künstlersprache einsehen. Und gerade, wenn es um politische Themen geht, dann kennen wir ja oft die Hintergründe, und sind ganz erstaunt, dass man auch mit dieser künstlerischen Sprache damit umgehen kann."

Fast völlig schwarz ist das Blatt von Antonio Saura, das er 1983 mit der Forderung "Tod der Apartheid" unterschreibt. Nur in der Mitte hat er eine schmale weiße Fläche freigelassen, die an eine geballte Faust erinnert. Oder der Konstruktivist Max Bill. Auf einem Plakat für Amnesty International zeigt er nichts als ein großes schwarzes Quadrat, auf das er ein kleineres farbiges gesetzt hat.

"Und da kann man normalerweise nichts interpertieren. Aber hier macht er ein Amnesty- International-Plakat, und da kann man ganz klar sagen: das schwarze Quadrat steht für die Gefängnismauer. Und das kleinere, farbige Quadrat, das ausbricht, steht für das Leben und die Freiheit."

Die meisten Künstler aber greifen auf die menschliche Figur zurück: Emilio Vedova zeigt in schwarz-weißen-Collagen das Gemetzel der USA in Vietnam. HAP Grieshaber warnt mit einem von Schüssen durchlöcherten menschlichen Schattenriss vor einem drohenden Militärputsch in Chile. Und Richard Serra entwirft 2004 zwei Plakate gegen die Wiederwahl von George Bush: Auf einem zeigt er das jedem bekannte Motiv des verhüllten Gefangenen aus Abu Graib. Auf dem anderen zitiert er Goyas Gemälde "Saturn frisst seine Kinder", wobei er den Kopf des Saturn durch den von George Bush ersetzt. Und:

"Zwei Wochen vor der Wahl Bushs hat Serra diese Motive ins Internet gestellt, und jeder konnte sie sich mit großer Auflösung herunterladen, und dann sollte man es ausdrucken und damit praktisch Werbung gegen Bush machen, die hießen beide "Stop Bush"."

Nur wenige zeitgenössische Künstler nutzen das Medium derart demokratisch wie Serra. Die meisten Plakate erschienen nämlich lediglich als kleine, elitäre Auflagen für Galerien und Sammler, und waren nie im öffentlichen Raum zu sehen. Ganz im Unterschied zu den Anfangszeiten des Genres, als Kollwitz, Picasso und Miró sich mit ihren Arbeiten öffentlich einmischten und Stellung bezogen. Wie heute Serra. Oder in den 70er und 80er Jahren Keith Haring, der sein Plakat für atomare Abrüstung 20.000 mal drucken und auf einer Demonstration verteilen ließ, und HAP Grieshaber, der viele seiner Arbeiten politischen Gruppen zur Verfügung stellte. Oder Klaus Staeck, der mehrfach für die SPD warb.

Die jüngste Entwicklung des Genres ernüchtert dann gänzlich: Seit den 90er Jahren, so zeigt die Ausstellung, interessieren sich Künstler kaum noch für das aufklärerische Medium. Man sieht noch einige Plakate gegen Schwulendiskriminierung, sowie eine sarkastische Serie über den Irak-Krieg - aber das war’s dann auch. Afghanistankrieg, Flüchtlingselend, Klimakatastrophe oder soziale Ungleichheit - in unserer angeblich "alternativlosen" Gesellschaft scheint all dies niemanden mehr zu beschäftigen. Jürgen Döring vermutet:

"Das hängt mit der Kommerzialisierung zusammen. Jeder junge Künstler, der auch nur ein bisschen etwas taugt, wird "entdeckt", wird vorgestellt. Es gibt Galeristen, die "draufsitzen", es gibt Verleger. Und da wird kontrolliert, was rausgeht. Manche Künstler, die mit dem Plakatmedium arbeiten - wie Les Levine oder Barbara Kruger - die achten ganz stark darauf, dass die Entwürfe nicht streuen, dass sie auf dem Kunstmarkt rar gehalten werden, um die Preise hochzuhalten. Das sind Mechanismen, die sind dem Plakat, so wie wir es kennen und sammeln, nicht förderlich."


Mehr zur Ausstellung Phantasie an die Macht - Politik im Künstlerplakat