85. Geburtstag von Jacques Derrida

Ein doppelter Außenseiter

Der französische Philosoph Jacques Derrida
Der französische Philosoph Jacques Derrida © JOEL ROBINE / AFP
Von Klaus Englert · 10.07.2015
Als weißer Franzose und Jude hatte Jacques Derrida während seiner Kindheit in Algerien keinen leichten Stand. Bis heute erscheine ihm das "Gefühl des Jüdischseins" zugleich "machtvoll und labil", so der französische Philosoph. Vor 85 Jahren wurde Derrida geboren.
Im Frühjar 2003 wurde Jacques Derrida, bereits schwer erkrankt, zu einem algerisch-französischen Kolloquium ins Pariser "Institut du monde arabe" geladen. Dort bekannte er, dass seine Familie aus dem arabischen Spanien stammt, wo sich das Islamische, Christliche und Jüdische miteinander vermischten und befruchteten. Während der Diskussion kam der französische Philosoph auf die Zwangskatholisierung der nicht vom Exodus betroffenen Muslime und Juden zu sprechen. Dabei führte Derrida die Figur des Marranen an, eines Juden, der sich äußerlich der neuen katholischen Ordnung unterwarf, aber im Geheimen die eigene Sprache, die Gesetze und Riten seiner Religion bewahrte. Sie waren dem Marranen ein Schutzraum, in den die Mächte nicht vordringen konnten. Jacques Derrida wollte den Marranen stärken - gegen die Übergriffe der Herrschenden, die beabichtigten, sich auch seiner letzten Geheimnisse zu bemächtigen.
"Ich muss gestehen, dass mich das Wort 'Marrane' stark beindruckt hat, gerade wegen meiner möglichen jüdisch-spanischen Wurzeln und wegen der Kultur des Geheimnisses, die zum Marranen gehört. Die Frage des Geheimnisses lässt mich nicht los, nicht nur wegen meiner jüdischen Abstammung. Denn mich interessiert sehr stark eine Politik des Geheimnisses, die sich der Politik, der Politisierung und der Transparenz entzieht. Ist das Geheimnis bedroht, dann droht der Totalitarismus. Der Totalitarismus ist das zerstörte Geheimnis: Du musst beichten, Du musst gestehen, Du musst aussagen! Die im Geheimen verbreitete Lehre des Marranen besagt, dass das Geheimnis gewahrt wird."
Im Zweiten Weltkrieg wurde es für in Algerien lebenden Juden gefährlich
Jacques Derrida hat sich in seinen letzten Lebensjahren vermehrt mit der Kindheit und Jugend in der französischen Kolonie Algerien beschäftigt. Dort war der junge Jacques doppelt Außenseiter - als weißer Franzose und als Jude. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Lage für die in Algerien lebenden Juden gefährlich. Derrida erzählt, dass es zu rassistischen Anfeindungen und Schulverweisen gekommen ist:
"Der in Algerien grassierende Antisemitismus entstand während des Krieges, als ich gerade zehn Jahre alt war. In dieser Zeit war er in gewisser Weise die offizielle französische Staats- und Gesellschaftsdoktrin. In der Schule waren alle Kinder, Lehrer und Verwaltungsangestellte, von einigen Ausnahmen abgesehen, Juden. Im Alter von zehn Jahren wurde ich, zusammen mit meinem Bruder und meiner Schwester, der Schule verwiesen. Warum, habe ich damals nicht verstanden. Eines Tages sagte mir der Schuldirektor: 'Geh nach Hause, Deine Eltern werden es Dir erklären!' Nicht der Verwaltungsbeschluss, mich von der Schule zu werfen, war für mich das schmerzlichste. Es war die alltägliche Gewalt, die Verfolgung der Kinder durch die Kinder. Es waren die Schulkameraden, die Leute auf der Straße, die die Juden beleidigten und schlugen."
Der am 15. Juli 1930 im algerischen El-Biar geborene Jacques Derrida meint, dass ihn die frühen Kindheitserfahrungen äußerst sensibel gemacht haben gegenüber dem Antisemitismus, selbst in seiner verborgensten Gestalt:
"Ich erinnere mich genau: Nachdem mich die Schule und die christliche Gemeinschaft ausschlossen hatten, blieb ich unglücklich, denn es wurde mir klar, fortan in der jüdischen Gemeinschaft eingeschlossen zu sein. Ich fühlte mich ausgestoßen von der Solidarität der jüdischen Gemeinschaft. Diese Jahre haben mich nachhaltig geprägt. Besonders die doppelte Erfahrung des Antisemitismus und des Unbehagens in der jüdischen Gemeinschaft."
Jede Form von Totalität unter Generalverdacht
In seinem autobiografisch gefärbten Buch Circonfessions von 1991 beschreibt der Philosoph, wie ihn das Gefühl des Ausgeschlossenseins misstrauisch machte gegenüber Herdentrieb, Gemeinschaftsritualen und – wie er schreibt – "identifikatorischer Verschmelzung". Deswegen steht bei ihm jede Form von Totalität unter Generalverdacht. In einem Vortrag, den Derrida damals im amerikanischen Bundesstaat Louisiana hielt, gestand er:
"Als Algerienfranzose fühle ich mich mehr und weniger französisch und ebenso mehr und weniger jüdisch als die Franzosen, als alle Juden und alle französischen Juden. (...) Den algerischen Juden ist es nicht möglich ihre eigene Identität zu finden."
Kurz vor seinem Tod im Oktober 2004 traf sich Jacques Derrida mit der jüdischstämmigen Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco. Auch in diesem Gespräch ging es um die Gefahren des Antisemitismus. Dabei sprach Derrida eine Konstante seines Lebens an: das "Gefühl des Jüdischseins", ein Gefühl, das ihm seit der Jugend zugleich als "machtvoll und labil" vorkommt. Niemals dachte er daran, dem Judentum zu entsagen, doch die leidvolle Geschichte des jungen Staates Israel machte ihn zu einem entschiedenen Kritiker jüdischer Staatsdoktrin. Die Konsequenz: Das Judentum des Philosophen Jacques Derrida ist keineswegs eindeutig, sondern höchst ambivalent.
"Nichts zählt für mich mehr als mein Jüdischsein, das dennoch in so vieler Hinsicht so wenig zählt in meinem Leben."
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