75 Jahre Citizen Kane

"Hollywood auf dem Höhepunkt seiner Brillanz"

Orson Welles im Film "Citizen Kane".
Orson Welles im Film "Citizen Kane". © imago/EntertainmentPictures
Filmjournalist Bert Rebhandl im Gespräch mit Patrick Wellinski · 30.04.2016
Ästhetisch innovativ, hochmodern und unerschöpflich: Vor 75 Jahren feierte Orson Welles Meisterwerk „Citizen Kane“ Weltpremiere. Der Filmjournalisten Bert Rebhandl würdigt den Kinofilm auch als Ergebnis des „Genies Hollywood“.
Patrick Wellinski: Über den Film "Citizen Kane", seine Entstehungsgeschichte und seinen Macher konnte ich vor der Sendung mit dem Filmjournalisten Bert Rebhandl sprechen, der mit "Orson Welles: Genie im Labyrinth" die bislang einzig relevante deutschsprachige Orson-Welles-Biografie verfasst hat. Guten Tag, Herr Rebhandl!
Bert Rebhandl: Guten Tag!
Wellinski: Ist "Citizen Kane" auch für Sie der beste Film aller Zeiten?
Rebhandl: Ja und nein. Einen Film aus der Filmgeschichte herauszuheben ist einfach ein unmögliches Unterfangen, aber es ist ein in jeder Hinsicht herausragender Film, keine Frage.
Wellinski: Woher speist sich denn dieses Ansehen gerade für diesen Film? Ist das ästhetisch oder vielleicht auch narrativ begründet, denn diese Geschichte über diesen Zeitungsmagnaten Kane, der seiner Kindheit beraubt wird – also Stichwort Rosebud –, ist auch ein sehr emotionaler Anker?

"Ästhetisch äußerst innovativ und hochmodern"

Rebhandl: Absolut. Es ist, glaube ich, eine Kombination von Faktoren: Ein ästhetisch äußerst innovativer und hochmoderner Hollywoodfilm, der aber auch aufgrund seiner Geschichte und aufgrund immer neuer zuwachsender Relevanzen einfach seine Größe immer wieder neu bestätigt.
Wellinski: Formal, was die Filmsprache angeht, wurden – Sie haben es schon erwähnt – neue Wege beschritten. Vielleicht können Sie mal beschreiben, was an diesen berühmten Tiefenschärfenverlagerungen und langen Einstellungen so berühmt ist.
Rebhandl: Die Sache ist so, dass, als der Film rauskam 1941, sagt man oft, Hollywood auf dem Höhepunkt seiner Brillanz war. Man spricht von dem klassischen Hollywood, und das hat auch eine bestimmte Weise, Filme zu erzählen. Die Großaufnahme zum Beispiel, eine bestimmte Weise, auch, dass man gar nicht so drauf achtet, das Filme Montagen haben. Man spricht von einer unsichtbaren Montage. "Citizen Kane" war ein Film, der diese klassischen Regeln der Erzählform des klassischen Hollywoodkinos doch in vielerlei Hinsicht umgedreht und neu definiert hat. Was Sie konkret angesprochen haben, zum Beispiel die Schärfentiefe, das sind Einstellungen, die damals sehr modern wirken mussten und bis heute das eigentlich bewahrt haben, Bilder, in denen man sozusagen Vordergrund und Hintergrund gleichzeitig sieht, der Blick wird nicht so gelenkt, man kann in den Bildern selber sozusagen ein bisschen rumsuchen. Das sind alles Dinge, die inzwischen sehr wertgeschätzt werden, die aber für Hollywood damals ungewöhnlich waren.
Wellinski: Man kann auch sagen, dass dieser Film dann quasi so eine Art Benchmark war für andere Regisseure, die sich dann daran bedient haben an seinem formalen Ansatz?

Mit "Citizen Kane" hat das moderne Kino begonnen

Rebhandl: Man spricht bis heute davon, dass mit "Citizen Kane" das moderne Kino begonnen hat, davor das klassische Kino, das klassische Erzählkino. Das moderne zeichnet sich dadurch aus, dass es viel deutlicher erkennbar macht, dass es gemacht ist.
Wellinski: Wenn man mal einfach nach "Citizen Kane" im Internet sucht, sieht man, dass das ein Film ist, über den auch einzelne Monografien verfasst worden sind. Über andere Filme auch, aber gerade über den Film sehr gerne. Der kanadische Filmwissenschaftler David Bordwell nennt "Citizen Kane" deshalb auch den "most teachable film", der Film, an dem man sehr gut zeigen kann, wie Kino funktioniert. Ist das auch Ihrer Meinung nach so?
Rebhandl: Bin ich ganz seiner Meinung. "Citizen Kane" ist eben eines dieser großen Kunstwerke, die unerschöpflich sind. Es werden auch weiterhin Texte dazu entstehen. Es ist so, immer, wenn man ihn neu ansieht, wird man etwas Neues darin entdecken, und das ist das, was große Kunst auszeichnet. Bordwell hat aber auch in dieser Hinsicht recht, dass man wirklich wunderbar daran sehen kann, was das Kino ist, nämlich ein Medium, an dem viele Leute beteiligt sind, ein arbeitsteiliges Medium, zu dem so viel stimmen muss, damit etwas Großes herauskommt.
Wellinski: Wie groß ist denn das Ansehen des Films der Tatsache geschuldet, dass das damals ein 25-jähriges Theatergenie gemacht hat, der eine absolute Freiheit bekommen hat. Wie viel hängt am Ansehen von "Citizen Kane" an der Legende, am Geniekult von Orson Welles selbst?

Welles war "ein IT-Phänomen"

Rebhandl: Das ist ein ganz wichtiger Bestandteil. Es war der Debütfilm eines jungen Mannes, eines sehr jungen Mannes, der davor schon Aufsehen erregt hatte unter anderem mit diesem Hörspiel "War of the Worlds", aber in verschiedener Hinsicht war Orson Welles in den späten 30er-Jahren ein It-Phänomen in den USA, und er bekam dann die Möglichkeit, in Amerika, in Hollywood seinen ersten Film zu machen. Das war dann relativ kompliziert und stand ein paar Mal auf der Kippe. Man war sich gar nicht sicher, ob er das wohl schaffen würde. Als er dann aber fertig wurde mit "Citizen Kane", haben alle die Augen aufgesperrt und waren wirklich erstaunt, dass so jemand so etwas machen kann.
Wellinski: RKO, das Studio, das ihm damals den Film quasi ermöglicht hat, hat ihm komplette künstlerische Freiheit gegeben. Ich glaube, das muss man unterstreichen, weil das etwas ist, was Studios sehr ungern machen.
Rebhandl: Das war damals – da haben Sie völlig recht – ganz und gar nicht üblich. Das hatte damit zu tun, dass Welles schon diesen Ruf mitbrachte, dass er sich ohnehin nicht reinreden lässt, und das hat er dann auch bestätigt. Trotzdem ist es so, dass bei "Citizen Kane" eine ganze Reihe von Leuten maßgeblich beteiligt waren, und bis heute streiten die Forscher auch so ein bisschen darüber, ob es nun wirklich so ist, dass der Film eines einzelnen Genies ist. Es gibt viele, die sagen, ja, allerdings andererseits ist es ein Film, zu dem das ganze Hollywood mit allen seinen Kompetenzen das Beste beigetragen hat, was damals möglich war.
Wellinski: Das meine ich auch, weil da kam jemand, 25 Jahre alt, hat noch nie einen Film gedreht, und dann hat er einen Kameramann wie Gregg Toland, der eine unglaubliche entfesselte Kamera auf diese Geschichte von Kane loslässt, und Bernard Herrmann hat die Musik gemacht. Das sind keine untalentierten Menschen. Also dieses Teamwork hat "Citizen Kane" auch noch mal so auf eine andere Ebene gehoben. Kann man das so sagen?

Genie des Systems Hollywood

Rebhandl: Das ist ein Punkt, d er sehr wichtig ist. Man spricht manchmal vom Genie des Systems in Bezug auf Hollywood, und man sieht wirklich hier dieses Genie am Werk: Herman J. Mankiewicz, ein sehr interessanter Drehbuchautor, dann hatte Welles diesen sehr wichtigen Produzenten John Houseman, und dann gab es drum herum dieses Ensemble von Technikern, Handwerkern – Toland haben Sie erwähnt –, Herrmann, für den war es der erste Film. Dazu kamen Schauspieler: Joseph Cotten war ein sehr interessanter, sehr intellektueller Typ, ein guter Freund auch von Welles und so weiter. In jeder Hinsicht ein Ensemble, in dem das Beste von Hollywood oder der amerikanischen Kunstlandschaft damals versammelt wurde.
Wellinski: Und dann kam der Film vor ziemlich genau 75 Jahren in die Kinos, Weltpremiere am Broadway, aber so richtig eingeschlagen hat er nicht. Das Publikum hat ihn abgewiesen, und in Hollywood hat man auch nicht gerade geklatscht, oder?
Rebhandl: Es war wirklich so, es war keineswegs ein Triumphzug, sondern der Film musste sich erst seine Meriten verdienen, und er musste erst begriffen werden. Es gab schon Leute, die von vornherein gesagt haben, das ist etwas ganz Außergewöhnliches, aber tatsächlich, wir schauen aus einer Distanz von 75 Jahren drauf. Für uns ist das gegessen gewissermaßen, dass das ein Meisterwerk ist. Wenn wir heute so einen Film sehen würden, der vergleichbar wäre, würden wir wahrscheinlich auch drüber nachdenken und eine Weile brauchen, um so etwas einordnen zu können. Im Grunde ist die interessante Aufgabe für uns heute, den neuen "Citizen Kane" irgendwo zu finden.
Wellinski: Interessant ist auch eine gewisse – sagen wir mal – Boulevardseite des Films: Der Streit mit dem realen Zeitungsverleger Randolph Hearst, der sich durch den Film diskreditiert sah und einen Kampf, übrigens, der bis heute für Schlagzeilen sorgt, initiiert hat. Er hat versucht, nicht nur den Film selbst aufzukaufen und zu vernichten, aber er wollte auch Orson Welles mit einer Schmutzkampagne angreifen, hat ihn als Kommunisten angeprangert. Wie viel hat denn jemand wie Hearst es geschafft, wirklich den Erfolg dieses Films zu verhindern?
Rebhandl: Das ist so wie mit allen diesen Kampagnen: Sie sind gleichzeitig auch immer ein bisschen Werbung. Randolph Hearst war tatsächlich nicht erfreut über diesen Film. Man sieht zum Beispiel auch, da ist Citizen Kane mit Adolf Hitler in dem Film und so weiter, also da gibt es kontroverse Bilder, anstößige Bilder. Dazu kam die Liebesgeschichte, die er so nicht auf der Leinwand sehen wollte und so weiter. Aber das hat natürlich auch die Aufmerksamkeit auf den Film gerichtet und diese Figur gewissermaßen eines Zeitungsmagnaten, eines Medienmagnaten, das war eine sehr amerikanische Geschichte, und das hat … So sehr Hearst gegen den Film gekämpft hat, er hat ihm auch Promotion gebracht unweigerlich.
Wellinski: Hat das denn Orson Welles wirklich je als eine Art Abrechnung gesehen dieses Projekt, als Abrechnung mit Hearst?
Rebhandl: Ich glaube, Welles selber war gar nicht so sehr auf diesen Aspekt erpicht, und ich glaube, alle, die daran gearbeitet haben, haben das letztendlich dann davon ein bisschen auch weggebracht. Das stand am Anfang auch der Beschäftigung von Mankiewicz, und das war sicher ein wichtiger Punkt, aber es ging dann um viel, viel grundlegendere Sachen. Es passt gut in diese Epoche, dass ein Medienmensch, diese Figur im Zentrum ist.
Wellinski: Also der Film als eine Art sozialer Kommentar funktioniert aber dann doch immer noch heute sehr gut, dieser Aufstieg und Fall.

Heute wieder sehr aktuell

Rebhandl: Ich glaube, gerade dass jetzt wir in einer Zeit leben, in der wir Vieles an "Citizen Kane" wieder als sehr aktuell erachten können, denn wir dürfen nicht vergessen, dieser Junge – es geht gewissermaßen um einen nie groß gewordenen, einen riesigen Jungen – wächst ohne Eltern auf, adoptiert wird er eigentlich vom Finanzkapital, und man kann viele dieser Figuren, die heute uns beschäftigen, diese Oligarchen, Menschen, die unglaublich viel Geld haben, aber sozusagen emotional leer sind, das sind so Sachen, die uns faszinieren. Wir haben es oft mit Magnatenfiguren jetzt wieder zu tun. Da steckt was sehr Aktuelles in "Citizen Kane".
Wellinski: Der Filmjournalist und Kritiker Bert Rebhandl sprach mit uns über das Meisterwerk "Citizen Kane" von Orson Welles, der morgen vor genau 75 Jahren im Palace Theater am Broadway seine Weltpremiere feierte. Bert Rebhandls Orson-Welles-Biografie ist beim Paul Zsolnay Verlag erschienen mit dem Titel "Orson Welles: Genie im Labyrinth". Vielen Dank für Ihre Zeit!
Rebhandl: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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