600 Jahre Uni Leipzig

Von Martin Reischke · 25.06.2009
Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Wolfgang von Goethe haben hier studiert, ebenso wie Karl Liebknecht oder Erich Kästner. Das Studentenverzeichnis der Universität Leipzig liest sich wie ein "Who-is-Who" deutscher Geistesgrößen. Doch zum 600. Geburtstag der Uni wird auch Kritik an den Zuständen vor Ort laut.
Fahrstuhlstimme: "Türe schließt"

Alles ist eine Frage der Perspektive. Entweder man schaut von unten. Dann geht es hoch.

Fahrstuhlstimme: "Aufwärts! Pling! 4. Obergeschoss. Türe öffnet"

Oder man ist schon oben. Dann geht es nur noch runter.

Fahrstuhlstimme: "Türe schließt – Abwärts!"

Ganz leise surrt der Fahrstuhl im neuen Seminargebäude der Uni Leipzig.

Fahrstuhlstimme: "Pling! - Erdgeschoss und Ausgang"

Anfang Juni wurde es offiziell übergeben, pünktlich zum 600. Geburtstag der Uni. Einige Studenten hat allerdings schon länger das Gefühl beschlichen, es ginge mit der Uni nur noch in eine Richtung.

Fahrstuhlstimme: "Abwärts!"

Nach Feiern ist ihnen deshalb nicht zumute.

"Die Tatsache, dass für das Jubiläum 6,4 Millionen Euro ausgegeben werden und die Hälfte davon aus Landesmitteln, während die Dozenten in prekären Arbeitsverhältnissen sind, während die Raumlage immer noch kritisch ist, während es so viel zu verbessern gäbe und das Geld konkret gebraucht würde, einfach für gute Wissenschaft und Bildung, da macht das eben wütend..."

Deshalb hat Theresa Grafe zusammen mit einer Gruppe von Kommilitonen schon Mitte April fünf Räume im neuen Seminargebäude besetzt. Hier wollen sie darüber nachdenken, wie Universität im 21. Jahrhundert aussehen soll.

"Das ist die Leseecke, da haben wir alle ganz viele Bücher angeschleppt, ich auch, weil es geht ja auch um selbst bestimmtes Lernen und Leben und Zeit haben, sich mit den Themen zu befassen, mit denen man sich befassen will, und nicht so einem strikten Programm zu folgen, sich das reinzuprügeln für die Prüfungen und dann wieder auszuspucken und dann wieder alles zu vergessen."

Die Kritik an den bestehenden Verhältnissen hat in Leipzig eine lange Tradition. Sie gehört zum Gründungsmythos der Hochschule. Schließlich sei die Gründung der Uni Leipzig das Ergebnis eines schweren Streits, der Anfang des 15. Jahrhunderts an der Karls-Universität in Prag ausgebrochen war, erzählt Historiker Detlef Döring.

"Im so genannten Kuttenberger Dekret hatte der damalige König von Böhmen, Wenzel hieß der, der nichtdeutschen böhmischen Nation mehr Stimmen zugeteilt als den deutschen Nationen, das führte dazu, dass aus Protest alle deutschen Magister, Studenten im Mai / Juni 1409 die Universität Prag verlassen haben und zum größten Teil nach Leipzig gegangen sind."

Dort war man über die akademischen Emigranten hoch erfreut. Durch den Messehandel hatte sich Leipzig längst als Handelszentrum etabliert, eine eigene Uni sollte die Position der Stadt weiter stärken. In nur wenigen Monaten waren die Formalitäten erledigt, und schon am 2. Dezember 1409 konnte die Uni eröffnet werden.

Ein rasanter Kraftakt: Schließlich musste auch der Papst der Neugründung zustimmen.

Döring: "Man muss ja bedenken, dass ein Vertreter des Markgrafen von Meißen nach Pisa reisen musste, damals tagte dort ein großes Konzil, das hatte gerade Alexander V. gewählt, da ist der nach Pisa gereist, hat dort diese Urkunde erwirkt, die musste von Pisa nach Leipzig gebracht werden, was bei den damaligen Verkehrsverhältnissen seine Zeit benötigte, es ist im Vergleich zu anderen Uni-Gründungen schon außerordentlich rasch gegangen."

Als zweitälteste deutsche Hochschule mit durchgehendem Lehrbetrieb hat die Uni Leipzig seither alle Entwicklungsschübe der Wissenschaftsgeschichte durchgemacht. Auf die mittelalterliche Philosophie der Scholastik folgte der Humanismus, später wurde Leipzig erst zum Zentrum der lutherischen Theologie, dann der Aufklärung. Doch ihre Blütezeit erlebte die Uni vor gut 100 Jahren.

Döring: "Im 19. Jahrhundert kristallisiert sich die Uni raus, wie sie bis heute Bestand hat, die meisten Lehrstühle, die heute existieren, sind im 19. Jahrhundert fest etabliert worden, der ganze Seminarbetrieb, auch der starke Praxisbezug ist im 19. Jahrhundert begründet worden, … das ist eigentlich die wissenschaftliche Glanzzeit der Uni Leipzig, da war es neben Berlin und München die wichtigste Uni, und die deutschen Unis waren um 1900 die führenden in aller Welt."

Deshalb schaut auch Uni-Rektor Franz Häuser gerne zurück auf diese Zeit.

"Die meisten Wissenschaftsdisziplinen haben dann irgendeine Verbindung zu Leipzig, entweder war hier der erste Lehrstuhl, oder eine bestimmte Fachrichtung hat sich hier etabliert, Fortschrittsgläubigkeit stark zu spüren, und das ist unser Vorbild nach wie vor, ich sage immer: Was in dieser Institution geleistet werden kann, das kann man mit einem Blick zurück sehen, und das sollte uns Ansporn sein, dies wieder zu verwirklichen."

Das Anknüpfen an frühere Glanzzeiten – Geschichtsstudent Georg Teichert hat sich an solch hochtrabende Pläne längst gewöhnt.

"Das ist eine gesunde Selbstüberschätzung, die man hier in der Stadt, aber auch an der Uni findet, die aber notwendig ist, um überhaupt den Anschluss an andere Spitzenstädte oder Unis zu schaffen, das ist ganz typisch für Leipzig, das zeigt sich beim einfachen Bürger, bei der Olympiabewerbung bis hin zu unserem Rektorat natürlich, das ist ne gesunde Selbstüberschätzung, aber das ist typisch für Leipzig."

Weniger gern schaut man in der Stadt dagegen auf das, was nach der Blütezeit der Universität kam. Wie die anderen Hochschulen wurde auch die Uni Leipzig nach der Machtübernahme durch die Nazis gleichgeschaltet. Völlig umkrempeln ließ sich Forschung und Lehre in den zwölf Jahren der NS-Diktatur dennoch nicht, meint der Geschichtsprofessor Ulrich von Hehl.

"Sagen wir so: Das Selbstverständnis der so genannten bürgerlichen Universität wie es aus dem 19. Jahrhundert überkommen war, hat – wenn auch mit mancherlei Wunden – das Dritte Reich überstanden. Mit mancherlei Wunden heißt, dass im Extremfall Kollegen im Zusammenhang mit den Euthanasievorgängen sich im hohen Maß schuldig gemacht haben, dass auf der anderen Seite aber ein wissenschaftlicher Standard aufrecht erhalten wurde, der sich jeder platten Politisierung widersetzen konnte."

Auch die bildungspolitischen Vorstellungen der neuen Machthaber nach dem Krieg führten nicht unmittelbar zu einer Zäsur in der Uni-Geschichte. Das hatte praktische Gründe: Weil es zu wenig Personal gab, war die Uni dringend auf die verbliebenen Mitarbeiter angewiesen.

1953 wurde aus der Leipziger Hochschule die Karl-Marx-Universität. Und schon bald gab es in der DDR die ersten Initiativen und Reformen, mit denen die Unis politisch auf Kurs gebracht werden sollten.

Hehl: "Hier wären die Hochschulreformen zu nennen, besonders die dritte 1968, die eine starke Angleichung an das Sowjetsystem brachte, aber auch eine generelle Ausrichtung der Fächer auf die politisch vorgegebene Grundlinie, was durch einen obligatorischen Unterricht in Marxismus-Leninismus und historischem Materialismus unterstrichen wurde."

Der galt auch für die Theologen. Nikolaus Krause war 1963 an die Leipziger Uni gekommen, um sich hier zum Pfarrer ausbilden zu lassen. Dazu brauchte er auch den Marxismus-Leninismus.

"Es gab Studenten wie mich und andere, die meinten, das sei ein wichtiges Werkzeug, und sie müssen sich überlegen: Wir wollten ja Pfarrer in der DDR werden, weil wir sagten: Das Himmelreich geht an der DDR nicht vorbei, sondern mitten hindurch. Wenn ich im Sozialismus lebe, muss ich mich natürlich mit der Frage auseinandersetzen: Ist im Christentum nicht sehr viel Urkommunismus gewesen? Wo ist der geblieben?"

Das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Theologie-Studenten war die Universitätskirche St. Pauli. Hier hielten sie ihre ersten Predigten, hier trafen sie sich am Wochenende zum Gottesdienst.

"Das war ein richtig studentisches Leben…, natürlich war da der Uni-Chor, jeder wusste, dass die Matthäus-Passion von Bach uraufgeführt worden ist in der Uni-Kirche, die Grabstätten, die dort waren, das war mir relativ schnuppe, aber immerhin ist es ne Tradition, die Rektoren der Uni waren zum Teil dort gelagert, Luther hatte die Kirche als erste deutsche Kirche zur Uni-Kirche erklärt, das war schon spannend."

Doch zum neuen Verständnis der Karl-Marx-Universität als sozialistische Kaderschmiede passte keine Uni-Kirche. Als in den 60er Jahren der innerstädtische Uni-Campus neu projektiert wurde, war das Gotteshaus aus den Planungen verschwunden.

"Und dann kam es zu dem Stadtratsbeschluss, dass die Kirche weg sollte, da hat man gemerkt, dass dieses demokratische Netzwerk überhaupt nicht klappte, dass man eine Gegenmeinung haben konnte, also wo sollte man die abgeben?""

Mit der Macht der Verzweiflung stemmt sich Nikolaus Krause gegen die Entscheidung. Er spricht Passanten an, organisiert eine Unterschriftenliste an der theologischen Fakultät. Es ist alles umsonst.

"Du konntest nichts machen, dann hat man irgendwas gemacht, wusste genau, das rührt niemanden, und dann immer noch diese christliche Hoffnung: Das wird der liebe Gott gar nicht zulassen, das passiert nicht, es wird ein Anruf vom Papst kommen (hihi), oder irgendwas... also im letzten Moment geschieht ein Wunder, und das passierte halt nicht."

Am 30. Mai 1968 wird das Gotteshaus gesprengt. Die Kirche ist weg, und Nikolaus Krause ist es auch. Für die von ihm initiierte Unterschriftenliste muss er 20 Monate ins Gefängnis, nach Leipzig kommt er nicht wieder zurück.

Peer Pasternack ist fast 20 Jahre jünger als Nikolaus Krause. Er kommt 1987 nach Leipzig – und lernt die Uni zu einer Zeit kennen, als die Gewissheiten des DDR-Sozialismus längst ins Wanken geraten sind.

"Ich war vorher sechs Jahre LKW-Fahrer, da habe ich die gesamte Wirtschaft der DDR kennen gelernt, und überall war es am Zusammenkrachen, und jetzt war für mich in der marxistisch-leninistischen Terminologie brach die Basis zusammen, und nun ging ich für die letzten zwei Jahre der DDR in den Überbau, also an die Uni, das war nun faszinierend zu beobachten, wie sich dort das Zusammenkrachen vollzog, es gab eine parallele Situation von Aufbruchstimmung und letztem Gefecht."

Im Herbst `89 ist Pasternack Mitbegründer des neu gegründeten StudentInnenrates, der die Freie Deutsche Jugend als Vertreter studentischer Interessen an der Uni Leipzig ablöst.

"Die konstituierende Sitzung fand am 9. November im größten Hörsaal statt, da ist jemand hereingekommen und rief "Die Mauer ist offen" und da haben wir den verständnislos angeguckt, haben gedacht, der macht einen Scherz, und haben den links liegen lassen und haben die Sitzung fortgesetzt."

Erst nach der Sitzung wird der Scherz zur Gewissheit – und die Gewissheit zum Problem für viele Lehrende, deren Vorlesungen und Seminare nun nicht mehr in die neue Zeit passen.

Pasternack: "Und manche Lehrenden sind damit so umgegangen, dass sie gesagt haben: Ich mache keine Vorlesung mehr, wir machen jetzt Diskussionsveranstaltungen, und andere haben ihre Vorlesung umgeschrieben, das hat dann häufig zu Protesten geführt und wieder dazu, dass diskutiert wurde, in der Zeit waren die meisten Lehrveranstaltungen Diskussionsveranstaltungen, da hat man fachlich nicht viel gelernt, aber diskutieren gelernt, immerhin."

In den Jahren nach `89 wird die Uni von Grund auf umstrukturiert: Staatsnahe Studiengänge wie Marxismus-Leninismus werden komplett abgewickelt, andere Institute erst aufgelöst und dann neu gegründet. Etwa 7000 Beschäftigte müssen die Uni verlassen - sie waren bei den Überprüfungen auf fachliche Kompetenz und politisch-moralische Integrität durchgefallen.

Die Akademiker, die an der Uni bleiben durften, hatten hingegen plötzlich ganz neue Möglichkeiten.

Pasternack: "Es wurden ganz elementare Standards, die Wissenschaft benötigt, eingeführt oder wieder eingeführt, so etwa wie, dass man frei reisen kann zu Kongressen, zu Vorträgen usw., dass man frei Publikationen beziehen kann, ohne dass dies irgendwie politisch behindert wird, dass die Post, die man aus dem westlichen Ausland als Wissenschaftler bekommt, nicht mehr behindert wird."

Und auch ein anderes Thema wurde plötzlich wieder diskutiert.

Wie soll man umgehen mit der Leerstelle, die die Sprengung der Uni-Kirche St. Pauli in die Stadt gerissen hat? Es gab Leute, die die Kirche gerne wieder originalgetreu aufgebaut hätten. Auch der frühere Theologie-Student Nikolaus Krause soll für das Projekt gewonnen werden. Aber Krause will nicht.

"Diese Kirche ist gesprengt, die kann auch nicht so wiederhergestellt werden, das geht nicht. Aber es bleibt diese Idee, für die ich damals gekämpft habe: Es kann kein geistig-kulturelles Zentrum geben ohne das Ferment der Spiritualität, Wissenschaft ohne Spiritualität wird blind, so wie Glaube ohne Wissenschaft unscharf wird. Die Sachen gehören zusammen im Abendland, das ist eine uralte Tradition, für die ich stehe."

Längst hat man sich in Leipzig auf einen Kompromiss geeinigt: Am Standort der früheren Uni-Kirche wird nun das so genannte Paulinum errichtet – ein multifunktionaler Bau, dessen Giebel, Spitzbogenfenster und Rosette an die gesprengte Kirche erinnern. Innen entsteht ein großer Raum, der einem Kirchenschiff nachempfunden ist. Hier können Konzerte und Gottesdienste, Kolloquien und Festveranstaltungen stattfinden. Ein Teil des Saales soll als Andachtsraum abgetrennt werden – mit einer Glaswand, die sich bei Bedarf öffnen lässt.

Aber nicht alle sind mit dem neuen Bau zufrieden.

"Unser Standpunkt als Paulinerverein ist und bleibt, dass nur eine klare Entscheidung für die Unikirche St. Pauli, die als Kirche mit Altar und mit Kanzel und als Aula genutzt werden kann, ohne irgendeine Trennwand zwischen Chorraum und Kirchenschiff, nur diese klare Entscheidung überwindet faktisch die Unrechtsentscheidung von 1968."

Gerd Mucke ist Pfarrer im Ruhestand. Als stellvertretender Vorsitzender des Paulinervereins wirbt er für einen möglichst originalgetreuen Aufbau der Universitätskirche.

Dabei geht es längst nicht mehr um technische Detailfragen, sondern um die Deutungshoheit über das neue Gebäude: Wird das Paulinum ein sakraler Raum mit angeschlossener universitärer Nutzung – oder soll es umgekehrt ein akademischer Ort sein, der der Kirche eine kleine Nische zugesteht?

So überhitzt ist die Diskussion und so zugespitzt der Streit, dass die Glaswand längst mit der Berliner Mauer verglichen wurde.

Doch Rektor Häuser hat sich ein dickes Fell zugelegt.

"Und dass sich dann eine Uni dafür entscheidet zu sagen, wir wollen eine Aula, wir wollen aber auch, dass es einen Andachtsteil in diesem Aula-Kontext gibt, wir wollen auch, dass sich das wechselseitig zu öffnen gilt, das ist sozusagen der Versuch einer praktischen Konkordanz unterschiedlicher Interessen. Dass das konfligiert mit dogmatischen Positionen, das muss man akzeptieren und aushalten."

Seinen Gegnern vom Paulinerverein wirft er vor, nicht verstanden zu haben, was Universität eigentlich ausmacht.

"Nämlich Ort der freien Diskussion, der freien Auseinandersetzung zu sein. Dann muss ich auch akzeptieren, dass dort Ergebnisse erzielt werden, wenn sie denn diskursiv erzielt werden, die mir nicht passen."

Die Leipziger Studenten sind die Diskussion um die alte Uni-Kirche und das neue Paulinum längst leid. Nur für wenige unter ihnen spielt Kirche überhaupt eine Rolle. Immer öfter beschleicht den Geschichtsstudenten Sebastian Richter deshalb das Gefühl, dass hier eigentlich eine Stellvertreterdiskussion geführt werde.

"Man hat auch den Eindruck, dass der Uni Leipzig einiges angelastet wird, was man in der Stadt selber nicht so wirklich aufgearbeitet hat. Leipzig pflegt den Mythos der Heldenstadt, die letzten Endes den eisernen Vorhang mit zum Einsturz gebracht hat, das ist sicherlich alles ganz richtig … zum Anderen muss man auch sagen, dass beide Diktaturen, da haben genügend Leute mitgemacht, die leben auch immer noch in Leipzig, da fehlt es auch ein Stück weit an Aufarbeitung, und das wird ein Stück auf die Uni als Sündenbock übertragen – also jemanden prügeln für etwas, was man selber nicht aufarbeiten möchte."

Zum Beispiel den Fall Klaus Schwabe. Schwabe ist Bildhauer und war erst Ende 20, als er den Auftrag seines Lebens bekam. Zusammen mit zwei Kollegen hat er insgesamt sechs Jahre lang an dem monumentalen Bronzerelief gearbeitet, das zu DDR-Zeiten über dem Haupteingang des Unigebäudes hing – just an der Stelle, wo früher die Uni-Kirche stand. Das Relief trägt den programmatischen Titel "Karl Marx und das revolutionäre, weltverändernde Wesen seiner Lehre".

"Es bezieht sich auf den universitären Betrieb. Also in der Mitte die jungen Leute, die aus der Uni herauskommen und die mit ihrem Wissen die Bildung manifestieren, die sie erworben haben; auf der rechten Seite der Unibetrieb als solcher, Vorlesung; auf der linken Seite, das ist die Seite, die sich auf die historische Geschichte bezieht, dass man mit der neuen Uni-Gründung auch die Bildung vor allem von Arbeiterschichten haben wollte."

Natürlich sollte auch der Marx-Kopf auf dem Relief prangen, als Verweis auf den damaligen Namensgeber der Universität.

Nach der Wende kam das Relief in die Kritik: Als ideologisch belastetes Kunstwerk war es nicht mehr zu gebrauchen. Deshalb steht es heute nicht mehr im Zentrum, sondern versteckt auf dem Campus der sportwissenschaftlichen Fakultät. Einige Kritiker wären mit ihm gerne verfahren wie die SED mit der Uni-Kirche. Da man ein Bronzerelief aber schlecht sprengen kann, hätten sie es gern eingeschmolzen. Schwabe hält naturgemäß wenig von solch einer besinnungslosen Bilderstürmerei. Er ist noch heute mit seiner Arbeit sehr zufrieden.

"Als Künstler kann man sich nicht rausreden, entweder es wird wirksam oder nicht wirksam, so einfach ist das. Und darum ging es immer, darum geht es auch heute noch. Bloß heute steht der ganze Kram, der nicht mit Kunst zu tun hat, so weit vorne. Muss ich immer sagen, da gibt es einen Amerikaner, der gesagt hat: Es gibt die Kunst und das Andere, die Kunst ist die Kunst, und das Andere ist das Andere. Und Vorgaben zu machen und einen Beschluss zu fassen, das hat mit Kunst nichts zu tun, das machen andere."

Wahrscheinlich liegt hier das ganze Problem: Dass es bei allen Diskussionen an der Uni Leipzig immer auch um etwas Anderes geht. Und weil es sich bei diesem Anderen meist um Geschichte und deren Deutung handelt, ist man beim verbalen Schlagabtausch nicht gerade zimperlich.

Überall gibt es Konflikte: Das neue Paulinum wird angefeindet, der Umgang mit den künstlerischen Überresten der Karl-Marx-Universität ist umstritten, und die Studenten besetzen zum Jubiläum fünf Seminarräume, um über die Zukunft der Universität zu diskutieren. Soll man also die Geburtstagsfeier für die Uni besser ausfallen lassen? Natürlich nicht, sagt Rektor Franz Häuser.

"Die Zwickmühle, in der sich die Uni befindet, die wird nicht dadurch besser oder schlechter, indem wir das Jubiläum absagen, das soll ja gerade deutlich machen, mit Blick nach hinten, wie sich die historische Entwicklung ergeben hat, mit Blick auf die gegenwärtige Situation, mit welchen Fragestellungen wir ringen und kämpfen. Und wenn dann die Ökonomisierung angesprochen wird: Wir haben einen Leitkongress zu dieser Frage: Wie viel Ökonomie verträgt die Wissenschaft, wie viel Ökonomie braucht die Wissenschaft?"

Auch Theresa Grafe, die zu den protestierenden Studenten zählt, möchte sich mit diesen Fragen beschäftigen. Die Antwort hat sie allerdings schon längst gefunden – auch ohne Leitkongress.

"Warum existiert Uni, die Frage muss man sich ja ganz konkret stellen, eben nicht, um für Wirtschaft da zu sein und zu forschen, wenn ich sehe, dass das Jubiläum von BMW gesponsert wird, wird mir kotzübel, das garantiert keine unabhängige Lehre und Forschung, wie es im Grundgesetz steht, und wie es auch einfach sein soll."

Es ist der alte Konflikt zwischen kompromissloser Geradlinigkeit der Studenten und sachzwanggetriebenem Pragmatismus in der Uni-Leitung. Deshalb kann Rektor Häuser mit der ganzen Debatte auch nur wenig anfangen.

"Mich irritiert bei dieser Diskussion so etwas, weil der Eindruck erweckt wird, es gebe so ne historische Benchmark, an der man sich orientieren kann, zu meiner Studienzeit haben wir auch protestiert, ich weiß letztlich nicht, wo ist der Punkt, den die Studierenden festmachen mit Blick zurück, wo man sagen kann, das war wunderbar, da möchten wir wieder hin, den kann man nicht finden, weil es den nicht gibt, sondern es ist eine idealistische Haltung, die ist alles wert, man muss sich aber auch fragen: Was ist denn machbar?"

Dieser Frage sind auch schon die Academixer nachgegangen – vor 30 Jahren. Stets hatte das Leipziger Kabarett ein paar Uni-Szenen im Programm, schließlich ist es selbst einst als Uni-Gruppe entstanden.

Academixer-Szene:
"A: Herr Kollege!
B: Nun, was macht denn die Wissenschaft?
A: Nun, ich durchdringe! Ich durchschaue Parteitage.
B: Wie weit sind sie denn gedrungen?
A: Nun, ich bin sehr gedrungen. Bis zur wachsenden Verantwortung der Wissenschaften. Und bis zu der Erkenntnis, dass es an der Zeit ist, auch die Studenten an die Prozesse der Intensivierung der wissenschaftlichen Arbeitsprozesse heranzuführen."

Also wird ein Kolloquium organisiert.

"A: Nun, ich hatte mein Kolloquium unter ein sehr interessantes Motto gestellt, nämlich: Durch die Intensivierung der wissenschaftlichen Arbeitsprozesse steht den jungen Studenten und Wissenschaftlern alles offen.
B: Ah, das ist ein weites Feld.
A: Ich habe dazu auch sehr ergreifend, fesselnd und durchschlagend argumentiert, Herr Kollege, wenn es nicht die Rede gewesen wäre, die ich seit 15 Jahren den Studenten des 1. Studienjahres einhämmere, ich hätte mir selbst zuhören mögen.
B: Die Studenten? Na, die kleinen Mäuseln…
A: Ja, die saßen natürlich da, sagten keinen Mucks, saßen nur da, sperrten Augen, Ohren, Nase und Mund auf.
B: Na, da haben Sie ja das Ziel ihres Kolloquiums erreicht!
A: Wieso?
B: Durch die Intensivierung der wissenschaftlichen Prozesse steht den Studenten alles offen!"

Ein zeitloser Kalauer, der zeigt, dass sich trotz der gesellschaftlichen Umbrüche manche Themen bis heute nicht verändert haben.