60 Jahre Merkel-Sprech

"Wenn Mutti früh zur Arbeit geht"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt im Bundestag eine Regierungserklärung zu dem bevorstehenden G-7-Gipfel in Brüssel ab.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt im Bundestag eine Regierungserklärung ab. © dpa / Wolfgang Kumm
Ein Geburtstagsgruß von Thomas Klug · 14.07.2014
Kanzlerin Angela Merkel feiert in dieser Woche ihren 60. Geburtstag. Für die "Zeitfragen" ist dies ein Anlass, ihren einzigartigen Sprachduktus und ihr rhetorisches Vermächtnis unter die Lupe zu nehmen. Von "alternativlos" bis "Zickzackkurs".
"Please give a respectful welcome to chancellor Dr. Angela Merkel." (Beifall kurz)
SIE ist überall.
SIE bekommt jedes Jahr Karten für die Wagner-Festspiele in Bayreuth.
Von Edmund Stoiber war SIE zum Frühstück eingeladen – ein Medienereignis, bei dem SIE ihm den Vortritt als Kanzlerkandidat ließ. Gerhard Schröder war sicher, dass seine SPD mit IHR keine Koalition eingehen würde. Ganz sicher war er sich. Und Friedrich Merz flüchtete mitsamt seinem Bierdeckel schmollend vor IHR aus der Politik.
Erzählungen über Angela Merkel klingen oft wie Comedy, wenn sie nicht gerade wie Shakespeare klingen. Oder wie eine Wagner-Oper.
"Frau Merkel, wie möchten Sie eigentlich am liebsten offiziell angeredet werden?" / "So, wie Sie es eben getan haben, Frau Merkel." / "Also nicht mit Frau Bundesministerin?" / "Ach, nein."
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Irgendwann fingen alle an, sie Mutti zu nennen. Ein Zeichen, dass sie es geschafft und sich alle untertan gemacht hat? Oder freundlicher Spott, eine Neckerei? Ist Mutti gar böse gemeint? Es wird sehr viel über Angela Merkel gesagt.
Aber was sagt sie selbst? Was sagt sie so den ganzen Tag, die ganzen Jahre und all die Wahlperioden lang? Was sagt sie und was will sie?
Merkel: (lautes Gemurmel) "Ich würde es mir einfach anhören, ich würde es mir einfach anhören, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen …"
Die Menschen hören beim Autofahren, bei der Arbeit, aber auch zu Hause, egal, ob man in der Küche ist oder auch im Wohnzimmer, immer wieder gerne Radio und zwar in allen Altersstufen und deshalb glaube ich trotz auch des Zeitalters, in dem man fernsehen kann, bewegte Bilder ganz normal werden, hat der Rundfunk auch für die Zukunft seine Bedeutung.
"Und deshalb sage ich Ihnen: Horchen Sie doch mal genau zu."
Angela Merkel zuhören. Ich versuche es. Zurücklehnen, die Augen schließen und ergründen, was Angela Merkel sagen will. Was will sie mitteilen, was will sie erreichen, wenn sie spricht.
Merkel: "Ich spreche voller Überzeugung von der Politik aus einem Guss, weil die Menschen es satt haben. Wenn Sie es nicht merken, werden sie es anderweitig merken, weil die Menschen es satt haben, nicht nach einer Linie regiert zu werden, sondern nach einem Zickzackkurs, mit dem sie nichts anfangen können und bei dem sie spüren, dass es nicht nach vorne geht, sondern dass es immer schlechter wird, meine Damen und Herren." (Beifall)
Politik aus einem Guss, weil die Menschen nach einer Linie regiert werden wollen und nicht nach einem Zickzackkurs. Und wer es nicht merkt, merkt es anderweitig.
Das Zitat habe ich nicht gesucht, sondern willkürlich ausgewählt. Es ist typisch. Ich höre und bin ratlos. Will ich nach einer Linie regiert werden? Nö. Und wenn ich etwas nicht merke, wie kann ich es dann anderweitig merken? Sind es Sätze? Ist es Merkels Kampf gegen die deutsche Sprache? Sind es ihre Sprachgeheimnisse? Oder ist eine Kunstform, die einfach illustrieren will, dass Sprache keine Bedeutung hat? Reden wir gar alle so – Kommunikation als Wortschändung? Sprachimitation? Schlaftablettenersatz?
Merkel: "Und deshalb werden wir den Menschen sagen: Wir brauchen eine Politik, die unbedingte Vorfahrt für Arbeit hat. Wir wollen ein Deutschland, das selbstbewusst ist und das sein Licht nicht unter den Steffel, Schef, Scheffel stellt. Aber meine Damen und Herren, das sein Licht nicht unter den Scheffel stellt. Aber dieses selbstbewusste Deutschland werden wir nur bekommen, wenn wir ein verlässlicher Partner sind."
Eine Politik, die Vorfahrt für Arbeit hat? Selbstbewusstsein funktioniert nur, wenn man verlässlich ist und sein Licht nicht unter was auch immer stellt?
Merkel: "Nun muss ich Sie einfach fragen: Was ist es?"
Die Frage ist berechtigt: Was ist es – dieses Phänomen Merkel-Rhetorik? Merkel und Sprache – passt das überhaupt zusammen? Ich frage Evelyn Roll, Journalistin der Süddeutschen Zeitung und Merkel-Biografin:
"Ich glaube auch, dass sie über ihre hoffnungslose Talentlosigkeit weiß. Sie hat überhaupt kein Talent für Sprache."
Ich frage den CDU-Politiker Arnold Vaatz:
"Sie ist ein Naturtalent, das ist doch ganz klar." (Lachen)
Ich frage Jutta Ditfurth, Publizistin und Mitbegründerin der Grünen:
"Sie hat eine Sprache des Einlullens. Und das macht sie sehr gezielt, da ist sie höchst professionell. Sie ist eigentlich eine hochqualifizierte Technokratin."
Oder: Die Sprache von Angela Merkel besteht aus Wortwolken. Den Begriff lese ich in einer Veröffentlichung von Joachim Scharloth. Er ist Professor für Angewandte Linguistik an der Technischen Universität Dresden.
Scharloth: "Eine Wortwolke ist einfach eine Möglichkeit, Zusammenhänge in Daten zu visualisieren und zwar in sprachlichen Daten, sozusagen, dass man mit einem Blick viele Informationen aufnehmen kann. In Wortwolken wird dargestellt, je nachdem wie groß Wörter sind, wie bedeutend, wie wichtig oder wie häufig sie in Texten sind."
Joachim Scharloth greift nach einer Kaffeemühle, stellt sie auf den Schoß und dreht an einer Kurbel. Eigentlich müsse er langsamer drehen. Das würde sich auf das Aroma des Kaffees auswirken.
Die Japaner meinen das zumindest, sagt er und stellt die Kaffeemühle zur Seite. Dann enttäuscht er mich: Nein, der Begriff Wortwolke wurde nicht für Angela Merkel kreiert, erklärt Joachim Scharloth.
"Als Wissenschaftler hätte ich auch meine Mühe damit, die Konnotationen und die Wertungen, die mit dem Wort Wolke verbunden sind, zu formulieren. Ich versuche ja erst einmal zu beschreiben was da ist und auch erst einmal nicht zu bewerten und vor allem nicht im Sinne von einem gut-und-schlecht-Schema, sondern ich würde erst einmal versuchen, das einzuordnen. Das, was Sie als wolkig bezeichnen, könnte auch eine Qualität sein, die vielleicht auch mit den Besonderheiten der Mediengesellschaft, in der wir leben, sich daraus erklären lässt. Deswegen hätte ich Schwierigkeiten damit, dass als einen wolkigen Stil oder Angela Merkel selbst als Wortwolke zu bezeichnen. Denn alle Politiker sind dann vielleicht Wortwolken und wir selbst vielleicht auch."
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Ich zweifle. Kann man es einem Politiker, einer Politikerin zum Vorwurf machen, wenn die Sätze nicht elegant sind, der Inhalt nicht gut erkennbar ist? Vielleicht sprechen Politiker eben in Phrasen. Dann reden sie davon, dass sie nah bei den Menschen sein wollen – als wären sie selbst Außerirdische. Sie reichen uns Wortbrei, in den Sprachmüll wie „zielführend“ oder „zeitnah“ gerührt werden, Begriffe, die anschließend ganz kritiklos wieder von Journalisten verwendet und so in die Alltagssprache gebracht werden – und die nichts bedeuten. Vielleicht ist es eine Deformation, die der Beruf des Vielredners mit sich bringt. Kommt es nicht auf die Arbeit an, die Politiker leisten? Natürlich kommt es darauf an. Doch ...
Scharloth: "Zum anderen ist es so, dass Politik nicht nur darin besteht, dass Leute etwas tun, sondern zum ganz großen Teil Politik darin besteht, dass Leute etwas machen, ähm, etwas sprechen meine ich natürlich. Also Politik besteht in ganz hohem Maß auch darin, dass Leute sprechen. Und dieses Sprechen ist eben in der Politik auch ein Handeln."
Merkel: "Denn Politik hat in der Tat die Aufgabe, Weichen zu stellen, sie hat die Aufgabe, Veränderungen eine Richtung zu geben über den Tellerrand des Hier und Jetzt hinaus."
Roll: "Ich glaube, ich kann mir vorstellen, was mit Wortwolke gemeint ist, ich finde das auch, die - von fast allen Politikern gepflegte - Kunst, mit vielen Worten, möglichst nichts zu sagen, woraus wir wiederum eine Schlagzeile basteln könnten. Das hat sie perfektioniert."
Das Klavier steht gleich neben dem langen Esstisch. Evelyn Roll empfängt in ihrer Wohnung im alten Westberlin. Sie setzt sich an den Tisch und freut sich über die Sprache von Angela Merkel. Sie freut sich, darüber zu reden. Evelyn Roll hat sich mehrfach mit Angela Merkel getroffen, eine Biografie über sie geschrieben, und einen Film über sie gedreht – zu Zeiten, als sich andere noch an Merkels Äußerlichkeiten abarbeiteten.
Roll: "Sie hat gelernt, dass es für sie nur so funktioniert, wie sie es jetzt macht. Sie würde ja was ändern, das wird ja genug kritisiert, dass sie so nichtssagende Sätze sagt."
Merkel: "Die Latte der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen."
Roll: "Oft mäandern ihre Sätze ja auch so, ich sag' immer, die mäandern so merkelhaft dahin und man denkt, kommt noch ein Verb, ach ja, da ist es."
Merkel: "Das muss noch nicht … Und wie man jetzt Frauen in der Karriereleiter aufwärts hilft, da kann ich sagen, das ist vielleicht auch in vielen Fragen ein individuelles Problem, wo die Männer dann wirklich gefordert sind und dann auch bereit sind, ein Teil der Familienarbeit zu übernehmen."
Roll: "Und jetzt mal Band anhalten und Kinder sollen wiederholen, was hat sie gesagt – da ist gar nichts, solche Sätze gibt es auch. Aber, wenn sie nicht gelernt hätte, dass man damit ganz gut durchkommt, jedenfalls besser als mit mutigen, frechen witzigen Steinbrück-Sätzen, mit den man dann eben nicht Alpha eins wird, wird sie das auch nicht wieder rückkorrigieren, nur weil sie es vielleicht auch mal persönlicher lustig fände, wenn die da draußen auch mal wüssten, wie gescheit und wie lustig sie reden kann."
Merkel: "Sozusagen der Kennedy-Verschnitt aus Hannover."
Roll: "Da ist die Intelligenz höher als die Eitelkeit."
Merkel: "Aber im Allgemeinen kann sich das die Frau doch auch leisten."
Roll: "Ja, ich fand, dass sie früher, auch in öffentlichen Situationen, normales Deutsch gesprochen hat – mit starken Verben, mit Sätzen, die vielleicht auch gefährlich waren, also frech und lustig und unbekümmert und ein bisschen schnodderig, auch im leichten Berliner Dialekt. Und das ist ja ganz weg, dass sie die Augen nach oben drehen würde und sagen: Weeß ick jetzt ooch nich, während fünf Mikrofone auf sie gerichtet sind. Das kommt, glaube ich, nicht mehr vor."
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Früher. Das Früher ist schon lange her. Ich suche nach der alten Angela Merkel. Im Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg sind die ältesten Fundstücke zu ihr aus dem Sommer 1990. Da ist sie stellvertretende Regierungssprecherin.
Merkel: "Das was Herr Rau ..."
Sie spricht über den deutschen Einigungsprozess. Sie spricht über den Kauf von DDR-Produkten, um Arbeitsplätze zu sichern und darüber, dass die CSU die neuen DDR-Politiker als Konkurrenten fürchtet.
Merkel: "Bezüglich der Äußerung von Herrn Streibl, Hobbypolitiker sollten ihren erlernten Beruf nachgehen, entsteht der Verdacht, dass der Wettbewerb um Posten und Pöstchen für die CSU bereits begonnen hat. Vielleicht hat Herr Streibl Angst, dass DDR-Politiker wenigstens einen gelernten Beruf haben, in dem sie zurückkehren können. Wir gehen davon aus, dass Berufserfahrung für Politiker bei der Umsetzung ihrer Politik von großem Wert sein kann."
Angela Merkel äußert sich deutlich. Und sie wirkt als wäre sie einfach mal von der Straße weggeholt worden, um der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen. Und der gemeine Zuschauer weiß: In einer vergleichbaren Situation wäre er auch nicht schlechter. Oder besser. Da ist keine Medienerfahrung, nichts Antrainiertes. Da wechselt sich einfach das Vorsichtig-Tastende mit einer guten Portion Schnoddrigkeit ab. Und in ihrem Gesicht ist eine Frage zu lesen: Wie bin ich hier gelandet und was mache ich eigentlich gerade? Aber das ist lange her.
Merkel: "Soweit dazu."
Evelyn Roll hört Unterschiede zwischen der stellvertretenden Pressesprecherin, der Ministerin und der Kanzlerin. Nicht nur die Art zu sprechen sei anders geworden, sondern auch die Stimme.
Roll: "Ich habe sie danach mal gefragt, ob sie das eigentlich trainiert hat, oder ob sie irgendjemand hatte, der ihr das beigebracht hat, das eine Frau tiefer reden muss."
Merkel: "Im Reichstag habe ich mich eigentlich noch nicht so besonders viel umgeguckt, muss ich sagen. Ich habe immer noch Mühe, das Fraktionszimmer zu finden und zurzeit im Sitzungssaal zu sein. Aber ich denke, beim zweiten Mal wird es dann besser gehen."
Roll: "Und dann hat sie, erstens konnte man sehen, dass sie sich gefreut hat, dass ich gemerkt habe, dass ihre Stimme tiefer ist, ihre Augen haben so ein bisschen geleuchtet. Dann hat sie gesagt, nein, nicht trainiert. Aber es hat die Schauspielerin Rosemarie Fendel, die hat ihr immer Kärtchen geschrieben: Jetzt haben Sie aber wieder zu hoch gesprochen. Und gestern hab ich Sie gesehen, da haben sie tief genug gesprochen. Sie hat also daran auch gearbeitet, an dieser tiefer gelegten Stimme."
Merkel: "Ich habe ja versucht, in meinem Statement zu sagen, wofür ich denke, dass ich selber gut kann – und das ist, dass ich gerne mich, ich sage es jetzt mal in einer Basis aufhalte mit den normalen Menschen spreche, umherfahren würde und mir die Dinge wirklich von unten auch versuchen würde, dass die Partei aufzubauen. Und ich denke, dass ich ein integrativer Typ bin, dass ich auch Streitigkeiten, die hier doch auch zahlreich vorhanden sind, vermitteln könnte und dass ich in der Lage bin, Leute zu motivieren und Spaß an der Arbeit zu finden. Und das halte ich jetzt erstmal für wichtig."
Zweimal Merkel – zwei Jahrzehnte liegen dazwischen.
"In erster Linie ist es das gemeinsam geteilte Verständnis von Grundwerten, die Europa im Innersten zusammenhält. Dieses Fundament, das gibt uns auch die Kraft, die Gemeinschaftsaufgabe da trotz aller Widrigkeiten, trotz aller unterschiedlichen Meinungen als eine solche Gemeinschaftsaufgabe anzusehen. Ich bin überzeugt, nur wenn Europa mit einer Stimme spricht, dann hat es die besten Chancen, Politik nach unseren Wertvorstellungen zu gestalten. Eine Politik, von der die Bürgerinnen und Bürger dann auch sagen, dass sie davon profitieren. Und dieses mit einer Stimme sprechen ist etwas, was im Einzelfall natürlich schwer zu erreichen ist."
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Vaatz: "Was sie schon immer konnte war, eine sehr starke Überzeugungskraft in ihre Worte zu legen. Was sie auch konnte und was sie wohltuend auch von anderen unterschieden hat, schon immer, das ist, dass sie reagieren konnte. Sie ist eine sehr schlagfertige Politikerin. Es ist nicht einfach, sie irgendwie aus dem Tritt zu bringen und wenn man ihr irgendetwas zuruft, um ihr ein Bein zu stellen, dann zieht man meistens den Kürzeren."
Arnold Vaatz empfängt mich in seinem Bundestagsbüro in der Berliner Wilhelmstraße. Er hat Wasser und Kaffee bringen lassen. Er bietet nichts davon an. Er will über Angela Merkel reden.
Vaatz: "Was sich verändert hat ist: Sie hat nicht mehr die Spontanität, die sie in den ersten Jahren hatte, sondern es ist meines Erachtens merkt man jedem Wort an, dass hinter der Wortwahl eine konzentrierte analytische Überlegung steckt. Das war in den ersten Jahren noch etwas mehr Augenmaß, das ist jetzt wesentlich mehr analytische Konsequenz. Und es ist auch gar nicht anders denkbar. Was bei ihr auffällt ist, dass sie keine von den Politikern ist, die sich am laufenden Band revidieren müssen, sondern, was sie gesagt hat, das steht dann auch. Ich will nicht sagen, dass sie sich nicht korrigieren müsste, das kann man wahrscheinlich von keinem Menschen sagen. Aber sie hat eine sehr, sehr hohe Bestandsrate bei dem, was sie sagt."
Arnold Vaatz war Staatsminister in Sachsen. Und er ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Angela Merkel kennt er seit Anfang der 1990er Jahre. Sie haben ihre Differenzen. Aber Angela Merkel kennt sich aus, sagt Arnold Vaatz:
Vaatz: "Es gibt meines Erachtens kaum jemand, der die Strecke vom Gesagten bis zur Materie selbst so durchdrungen hat, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und das ist eine Angelegenheit, die hoffentlich auch Schule macht. Das sollte in die politische Kultur in Deutschland auch stärker Eingang finden, das man sich nicht von Referenten und von Redenschreibern usw. führen lässt, sondern das immer ganz die Gewissheit beim Hörer ist, die Zügel hat jetzt nicht ein Referent oder ein Büroleiter oder was in der Hand, sondern die Zügel hat der Chef, in dem Fall die Kanzlerin selber in der Hand."
Merkel: "Und lasse hier mal alle Details weg."
Auf die Rhetorik seiner Parteichefin lässt Arnold Vaatz nichts kommen. Das Ungefähre in ihrer Sprache sei eine Qualität:
Merkel: "Ich sage wieder jenseits aller Details."
Vaatz: "Es ist meistens auch so, dass sie sich in ihren Vorbereitungen auf politische Entscheidungen sich so ausdrückt, dass in bestimmten Streitfragen auch noch Korrekturen möglich sind. Das ist eine ganz große Kunst. Ich beherrsche diese Kunst überhaupt nicht, muss ich auch dazu sagen, dass man sich in seiner Ausdrucksweise nicht zu abschließend ist, nicht zu kategorisch ist, sondern immer einrechnet, dass man möglicherweise die Dinge noch nicht bis zum allerletzten Punkt entscheiden kann im Augenblick, weil es noch eine ganze Menge an Einträgen anderer gibt, die berücksichtigt werden müssen. Und das ist eine Angelegenheit, die sie beherrscht, da gibt es gar keine Frage."
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Die Reden von Angela Merkel. Sie redet viel, das bringt ihr Beruf so mit sich. Sie verheddert sich – das passiert. Oder sie verheddert sich gar nicht, sondern liest die merkwürdigsten Formulierungen vom Blatt. Oder sie redet frei – und es wird auch nicht besser. Ist es eine unbeholfene Sprache? Oder klingt so die Sprache der Macht?
Ditfurth: "Ach ja, sie ist eine weibliche Politikerin, die mit ihrer DDR-Sozialisation und mit ihrer Ausbildung als Naturwissenschaftlerin eine rationale Art hat, ihre Herrschaftssprache rüberzubringen und nicht so süßlich oder pathetisch oder sülzend oder schäumend sein muss, wie das andere in diesem Job sind oder meinen sein zu müssen."
Jutta Ditfurth empfängt in einem Feinkostladen mit angeschlossener Sitzgelegenheit. Mal hämmert es, mal rumpelt es. Und manchmal fächert sich Jutta Ditfurth frische Luft zu. Das Beste, was sie über die Sprache von Angela Merkel sagen kann ist: Sie redet wenigstens nicht so wie Joachim Gauck:
Ditfurth: "Gauck – wenn der redet habe ich immer das Gefühl, der Mann ist unsäglich verliebt in sich selber, genießt jedes Wort, was von seinen Lippen fällt, hebt es auf, guckt es noch mal mit glänzenden Augen an und glaubt, weil es ihm gut geht, ist das der Inbegriff davon, dass jeder Mensch, wenn er sich nur anstrengt, frei und erfolgreich sein kann. Diese ganze Attitüde hat sie nicht. Aber das macht die Tatsache, wessen Interessen sie vertritt, eigentlich nur noch geschickter."
Angela Merkel – da sind sich alle einig – wurde lange unterschätzt. Ihre ersten öffentlichen Auftritte machten das leicht. Doch – sie hat schneller gelernt, als es die Öffentlichkeit bemerkte:
Ditfurth: "Wenn man sich alte Bilder von ihr anguckt, gerade im Verhältnis zu Menschen, die damals in ihrer Partei mächtiger waren, also Kohl z.B., dann hat sie eine weibchenhafte Unterwürfigkeit in der Körpersprache, dann guckt sie von unten, der Kopf ist leicht gebückt, die Augen von links oben – das ist die Position, die ich immer spöttisch als Feministin eine Haltung nenne, wo die Frau zwar weiß, dass sie mindestens so viel drauf hat wie das männliche Gegenüber und genauso intelligent ist, vielleicht intelligenter, hängt von der Konstellation ab, aber dass sie erstmal eine unterwürfige Geste macht um zu sagen, ich erkenne an, dass du als Mann der Stärkere bist. Das hatte sie ziemlich drauf. Und das ist komplett weg. Und da muss sie eine gute Ausbildung gehabt haben."
Vielleicht gehen die Veränderungen der Körpersprache mit den Veränderungen der Sprache einher. Angela Merkel schmeißt mit sprachlichen Versatzstücken, je abgedroschener, desto besser. Es ist etwas, was es nicht gibt – die Sprache von Angela Merkel. Es ist keine Sprache. Es ist Merkel-Sprech. Und: Es ist knallharte Politik.
Scharloth: "Kommunikation in der Politik ist eigentlich Herstellung von Wirklichkeit. Wenn wir sprechen, dann versuchen wir die Welt auf eine bestimmte Weise zu zeichnen. Und wenn man das so geschickt macht, wie die Angela Merkel das macht, und sagt, wir leben in einer Welt, die so ist und sehr blumig spricht und macht das auch noch sehr geschickt, wenn sie über Dinge spricht, wie sie sind, nicht, sie sind natürlich nicht so, sondern so, wie sie sie halt gerne haben möchte, dann sagt sie halt solche Sachen: Wir erleben das, wir wissen das und so weiter. Sie sagt es immer als wir."
Merkel: "Wir brauchen endlich wieder eine Politik, die die Kräfte der Menschen in diesem Lande ernst nimmt, denn es ist doch kein Zweifel, dass es ein großes Potenzial an Begabungen gibt, die sich entfalten wollen, dass es starke Kräfte gibt, die wir mobilisieren können in diesem Land, dass es soviel gesunden Menschenverstand gibt, der mit den Realitäten richtumgehen kann. Und genau das heißt, die Prioritäten richtig zu setzen."
Prioritäten richtig setzen? Ich überlege, was damit gemeint sein könnte. Es ist wie immer. Es bedeutet alles und nichts.
Scharloth: "Wenn man vergleicht, wie Angela Merkel in Reden spricht im Vergleich zu anderen Politikern, dann fällt auf, nur mal berechnet, welche Wörter, welche Adjektive verwendet werden, dann kann man sehen, dass Angela Merkel vor allem Adjektive benutzt, die vor allem formaler Natur sind, die transportieren wenig qualitative Inhalte, sondern das sind Worte wie interessant, spannend, toll, die auch interessanterweise emotional sind. Auch wunderschön, wunderbar findet sich bei ihr signifikant häufiger. Dazu auch intensivierende Adjektive: unglaublich, vollkommen, völlig, allergrößt, riesig. Aber auch Adjektive, die Dinge im Vagen lassen, also relativ, ungefähr, wahrscheinlich und sowas. Das findet man bei ihr sehr häufig, während man bei anderen Politikern tatsächlich programmatische Adjektive findet."
So funktioniert es eben: Angela Merkel spricht. Und sie spricht doch nicht. Sie verkündet. Sie zielt mit Worten. Sie trifft dabei nie den Verstand, nie das Lustzentrum, das sich über gelungene Formulierungen freut. Ich frage Joachim Scharloth, den Professor für Angewandte Linguistik, wie eine Merkel-Rede entstehen könnte:
Scharloth: "Also Redenschreiber denke ich, haben auch ein semantisches Programm und ein Wording, das sie immer wieder einbauen müssen in die Reden. Ein Wording, sozusagen feste sprachliche Lösungen für bestimmte Dinge und vor allem auch Wörter, die den Markenkern in irgendeiner Art und Weise immer ausdrücken sollen."
Merkel: "Die Sorgen und Nöte, auch bestimmte Reaktionen und eine bestimmte Art der Sprache, die kann ich vielleicht besser als jemand, der aus einem anderen Landstrich kommt."
Scharloth: "Man kann sich das so vorstellen: Am Bildschirm kleben Zettel auf denen steht: sicher, stabil, Solidarität, gemeinsam, stark, erfolgreich und so. Und man versucht, diese Wörter wann immer möglich, in den Text einzubauen oder möglichst häufig fallenzulassen, um subkutane Botschaften zu platzieren: Deutschland ist stark, der Euro ist sicher, gemeinsam schaffen wir es, und so weiter."
Merkel: "Und wir wollen ein Deutschland, das Sicherheit im umfassenden Sinne garantiert: Soziale Sicherheit, Sicherheit des Verbrauchers, Sicherheit im Inneren, genauso wie im Äußeren."
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Angela Merkel – die Unaufgeregte, die Bescheidene, die Skandalfreie. Ach ja, manchmal sogar die Witzige. Sie ist so unprätentiös – die Mutti. Und ihre Sprache – sie ist doch nett. Bei der Betrachtung von Angela Merkel hat sich die Oberfläche durchgesetzt. Waren es früher Frisur und Kleidung, ist es heute das scheinbar Nette und die Würdigung ihrer tatsächlich erstaunlichen Karriere. Doch ist das eine fundierte Beschreibung jener Kanzlerin, die mehrfach zur mächtigsten Frau der Welt erklärt wurde? Und der Frau, die es fertigbrachte, von „marktkonformer Demokratie“ von sprechen?
Scharloth: "Natürlich haben wir andere Vorstellungen davon, wie Demokratie funktioniert, nämlich wie ein Streiten um Lösungen, um Inhalte, ja auch sozusagen eine Diskussion darüber, was die richtige Lösung ist. Und wenn wir Angela Merkels Sprache hören, dann finden wir all das nicht. Was wir finden ist, ist eine semantisch sehr geschickt konstruierten Versuch, die Welt als etwas Positives erscheinen zu lassen, durchzogen von Werten, die es eigentlich schwer machen, das abzulehnen, was Angela Merkel sagt. Und ich glaube, das kann man wirklich bedauern. Es ist aus einer Marken- oder PR-Perspektive kommuniziert sie sehr, sehr gut. Aus der Perspektive von dem, wie wir uns Politik vorstellen oder imaginieren, kommuniziert sie vielleicht nicht so gut."
Ist Politik nur noch Marketing? Müssen politische Entscheidungen nur noch "verkauft" werden, müssen sie nur noch "richtig erklärt" werden?
Merkel: "Und ich halte dieses Vorgehen für alternativlos."
Gibt es überhaupt nur noch richtig und falsch in der Politik oder gar die vielbeschworene Alternativlosigkeit? Evelyn Roll von der Süddeutschen Zeitung sieht genau das kritisch – nicht nur sprachlich, sondern politisch:
Roll: "Alternativlos – das ist ja nahezu schon demokratietheoretisch interessant, wenn jemand sagt, dieses oder jenes ist alternativlos und das in vielen Zusammenhängen immer wieder sagt, heißt das ja im Grunde genommen: Ich habe lange nachgedacht, ich bin zu diesem Schluss gekommen, eine bessere Lösung gibt es nicht. Aber ich sage gar nicht mehr dazu, aus meiner Sicht, sondern ich erkläre das für alternativlos."
Merkel (Atmo): "Das ist die Wahrheit."
Roll: "Dann steht jeder, der dagegen ist, was ja in einer Demokratie was ganz normales wäre, dass der Oppositionsführer sagt, wir haben aber eine bessere Lösung, steht irgendwie außerhalb von diesem alternativlos. Das ist kritisiert worden, das gibt sie auch wieder auf. Ich finde, das hat sie jetzt sehr lange nicht mehr. Aber als rhetorische Figur hat sie es beibehalten in dem Moment, wenn sie sagt: Fällt der Euro, fällt Europa. Das ist im Grunde auch so was. Was heißt das? Stimmt das? Das soll eigentlich heißen, was wir hier machen, um den Euro zu stützen, ist alternativlos. Man kann an der Sprache dieser Bundeskanzlerin auch sehr gut erkennen, wie sie regiert."
Merkel: "Und das sage ich jetzt in totalem Ernst."
Roll: "Darum macht sie es auch so gerne in einer Großen Koalition, dann ist kein Nennenswerter mehr da, der sich meldet und sagt, was Sie da alternativlos nennen, da haben wir ganz andere Lösungen."
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Merkel: "Gerade, weil Sie das mit dem Ungeschminktsein und den Kleidern ansprechen, muss schon sagen, das sind Kriterien, die in Bonn vielleicht eine größere Rolle spielen, als man das von zu Hause her gewöhnt ist."
Merkel: "Ich wäre noch eher in jede andere Partei gegangen, aber niemals in die CDU."
Merkel: "Die staatliche Einheit ist schön, aber ich hätte da auch noch ein halbes Jahr drauf warten können."
Merkel: "Wenn man öfter auftritt in der Öffentlichkeit, gewinnt man auch selber Freude daran, sich ab und zu mal etwas anderes anzuziehen, weil man es selber dann auch nicht so toll findet, wenn auf dem zehnten Bild immer noch dasselbe Kleid ist."
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