50 Jahre "Voting Rights Act"

"Eindeutige Rückschritte" bei der Integration der Schwarzen

Ein handgeschriebener Zettel hängt an einem Maschendrahtzaun. Aufschrift: "Justice for Walter Scott - black lives matter"
"Auch schwarze Leben zählen" - nahe der Stelle, an der der Schwarze Walter Scott in Charleston starb, fordern Menschen Gerechtigkeit © AFP / Jim Watson
Christian Lammert im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 06.08.2015
Vor 50 Jahren wurde den Schwarzen in den USA mit dem "Voting Rights Act" volle politische Teilhabe gewährt. Verbessert habe sich seitdem wenig, meint Christian Lammert. Vor allem seit der Finanzkrise 2008 seien die Schwarzen "wirklich abgehängt worden".
50 Jahre nach Inkrafttreten des Voting Rights Act, der die volle politische Teilhabe der Schwarzen in den USA gewährleisten sollte, hat sich nach Ansicht des USA-Experten Christian Lammert (FU Berlin) die Situation der afroamerikanischen Bevölkerung sogar verschlechtert.
"Ich sehe eindeutige Rückschritte", sagt Lammert. Insbesondere nach der Wirtschafts- und Finanzkrise habe sich die Situation für die breite Masse der Schwarzen verschlechtert. "Sie sind wirklich abgehängt worden." Nach wie vor lebten Schwarze viel häufiger in Armut und hätten niedrigere Durchschnittseinkommen als Weiße. "Von Polizeigewalt wollen wir gar nicht sprechen", so der Politikwissenschaftler. "Hier formiert sich momentan ein wirklich großes gesellschaftliches Integrationsproblem, was den USA in den nächsten zehn, zwanzig Jahren noch erhebliche Probleme machen wird."
Afroamerikanische Wähler unerwünscht?
Auch nähmen die Versuche wieder zu, die politische Teilhabe der afroamerikanischen Bevölkerung wieder zu beschränken. Zum Beispiel, indem man beim Wahlgang einen Ausweis mit Foto verlange, die Briefwahlfristen oder die Registrierungsperioden verkürze. "Und Statistiken zeigen eindeutig, dass überproportional Schwarze davon betroffen sind."
Nicht immer seien solche Maßnahmen allerdings rassistisch motiviert, räumt Lammert ein, manchmal stecke auch schlichtes Machtkalkül dahinter. Denn mindestens 80 Prozent der Schwarzen wählten die Demokraten. "Und da ist es dann aus einer politischen Perspektive verständlich, dass die Republikaner versuchen, es dieser Wählergruppe so schwierig wie möglich zu machen."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Barack Obama hatte am Abend seinen großen Auftritt, eine Rede, in der er nachdrücklich für einen diplomatischen Weg im Umgang mit dem Iran geworben hat. Das war Thema bei uns schon heute Morgen, aber ich erwähne es an dieser Stelle aus einem anderen Grund: Heute ist der 50. Jahrestag eines Gesetzes, das möglicherweise überhaupt erst möglich gemacht hat, dass es einen schwarzen Präsidenten in den USA geben kann, der Voting Rights Act. Am 6. August 1965 unterschrieb Präsident Johnson dieses Bürgerrechtsgesetz, das auch den schwarzen Amerikanern endlich das Wahlrecht garantierte. Das wollen wir würdigen, nicht ohne auf das Heute zu schauen und neue und alte Probleme. Am Telefon ist Christian Lammert, Professor für Nordamerikanische Politik an der Freien Universität Berlin. Guten Morgen!
Christian Lammert: Guten Morgen!
Frenzel: Wie wichtig war dieses Gesetz für das schwarze Amerika?
Lammert: Das war absolut wichtig. Man hatte zwar schon nach dem Bürgerkrieg mit dem 13., 14., 15. Verfassungszusatz formal das Wahlrecht für Schwarze eingeführt, also schon sehr, sehr früh, aber vor allem in den Südstaaten der USA hat sich dann das sogenannte Jim-Crow-System etabliert, wo man ziemlich erfolgreich verhindert hat, dass Schwarze wählen gehen konnten, indem man Lese- und Schreibetests eingeführt hat oder eine Wahlsteuer erhoben hat und so erfolgreich die Schwarzen von den Wahlurnen ferngehalten hat. Und das wurde erst 1965 mit diesem Voting Rights Act beseitigt, sodass auch diese Hürden für die Integration, die politische Integration der Schwarzen verschwunden sind. Und somit ist dieses Gesetz oder war dieses Gesetz eines der wichtigsten Gesetze der Bürgerrechtsbewegung.
Verschiedene Mechanismen sollen bestimmte Bevölkerungsgruppen von den Wahlen fernhalten
Frenzel: Würden Sie sagen, es gibt heute noch ganz praktische formale Hürden für Afroamerikaner, sich politisch einzubringen, zu wählen, oder ist das damals wirklich damit alles abgeräumt worden?
Lammert: Rein formal, laut Gesetz, hat das schon sehr gut funktioniert mit dem Voting Rights Act, weil vor allem auch die Bundesregierung eine starke Kontrollfunktion durch dieses Gesetz hatte. Wenn Einzelstaaten ihre Wahlgesetze ändern, dann musste die Bundesregierung, also Washington, zustimmen. Und dieser Part, dieser Teil des Voting Rights Act ist leider vor zwei Jahren vom Supreme Court gekippt worden. Das heißt, jetzt dürfen die Einzelstaaten, vor allem die aus dem Süden, wieder ihre Wahlgesetze ändern, auch ihre Gesetze zur Registrierung von Wählern. Und wir sehen jetzt wieder stärkere Versuche, durch bestimmte Mechanismen, dass man eine Foto-ID, also einen Ausweis mit Foto verlangt, oder auch, dass man Briefwahl verkürzt oder auch die Registrierungsperioden kürzt, hier bestimmte Bevölkerungsgruppen wieder von der Wahl auszuschließen. Und Statistiken zeigen eindeutig, dass überproportional Schwarze davon betroffen sind.
Frenzel: Das passt ja in gewisser Weise in ein Bild, und ich muss folgende Frage eigentlich gar nicht offen stellen, ob denn Schwarze in Amerika wirklich auch de facto, nicht nur formal gleichberechtigt sind. Wir müssen uns nur die Nachrichten anschauen vom strukturellen Rassismus, von Polizeigewalt, aber auch von täglichen sozialen Realitäten. Wenn man heute so einen Tag feiert – eigentlich zu Recht?
Lammert: Ja, man sollte ihn schon feiern, aber man muss auch vorsichtig sein, weil einiges wieder durch diese Entscheidung des Supreme Court zurückgenommen worden ist. Und Sie haben ja schon den strukturellen Rassismus genannt in den USA, also hier auch allein, dass Schwarze viel häufiger in Armut leben, immer noch geringere Durchschnittseinkommen haben als Weiße. Von Polizeigewalt wollen wir gar nicht sprechen. Und wenn man jetzt natürlich hier noch versucht, systematisch in einzelnen Bundesstaaten, wie Texas das momentan macht, wie North Carolina das versucht hat, bestimmte Bevölkerungsgruppen gezielt von der politischen Teilhabe auszuschließen, lässt sich das natürlich sehr leicht in diesem Rahmen von Rassismus interpretieren, obwohl das auch als politische Aktion natürlich ganz wichtig ist. Weil die Schwarzen sind ein wichtiger Teil der demokratischen Wählerkoalition. Wenn Sie sich angucken, mindestens 80 Prozent der Schwarzen wählen demokratisch, und da ist es dann aus einer politischen Perspektive verständlich, dass die Republikaner versuchen, es dieser Wählergruppe so schwierig wie möglich zu machen, nicht an die Wahlurnen zu gehen. Also es muss nicht immer nur kruder Rassismus sein, es ist natürlich auch ein Machtkalkül dabei.
"Starke Anzeichen von Rassismus und struktureller Benachteiligung"
Frenzel: Auch politische Strategie. Man könnte natürlich auch sagen, wir haben einen schwarzen Kandidaten bei der nächsten Präsidentschaftswahl zeichnet sich das ja ab, dass es wohl keinen Bewerber mit dunkler Hautfarbe geben wird. Ist das für Sie ein Problem, oder muss man auch sagen, nach so vielen Jahren, Jahrzehnten ist es eigentlich auch egal, welche Hautfarbe ein Präsidentschaftsanwärter hat?
Lammert: Ja, das war die Hoffnung, die man ja 2008 hatte, und das wurde ja immer breit diskutiert, dass wir jetzt in einem postrassistischen Zeitalter in den USA angekommen sind. Und dass das nicht der Fall ist, das hat man frühzeitig gesehen. Ich glaube nicht, dass das jetzt ein Problem ist, dass jetzt kein Schwarzer auf beiden Seiten – ich meine, bei den Republikanern ist noch ein schwarzer Kandidat dabei, Ben Carson, aber der hat wohl keine Aussichten, weiter erfolgreich zu sein –, ich glaube, da hat sich mit der Wahl von Obama auf dieser politischen Elitenebene schon im Diskurs etwas verändert, dass das nicht mehr so ein Problem ist. Aber das geht eben nicht durch die ganze Gesellschaft durch. Und wir haben gerade eben in der Mittelklasse, in der Unterklasse, der Arbeiterklasse in den USA noch starke Anzeichen von Rassismus und struktureller Benachteiligung.
Frenzel: Aber hat Barack Obama da möglicherweise weniger aus seinen bisher sieben Jahren Amtszeit als erster schwarzer Präsident gemacht, als er hätte machen können? Er hat das Thema seiner eigenen Herkunft ja fast schon demonstrativ ignoriert bis vor Kurzem.
Lammert: Der Vorwurf wird ihm ja auch vor allem von schwarzen Bürgerrechtsbewegungen gemacht. Er konnte vielleicht nicht anders, weil er war oder ist Präsident aller Amerikaner, und es wäre vielleicht kontraproduktiv gewesen, wenn er zu stark einen schwarzen Präsidenten gemacht hätte. Was wir jetzt sehen seit der Wiederwahl, ist, dass er jetzt eigentlich stärker als schwarzer Präsident auftritt und hier vielleicht nötige Impulse in dieser Debatte liefert, um einen langsamen Veränderungsprozess in Gang zu setzen. Wenn man sieht, seine Rede bei der Beerdigung in South Carolina, da hat er sich wirklich als schwarzer Präsident präsentiert. Und das sind auch wichtige Teile einer Debatte in den USA, die jetzt einsetzen müssen.
Den USA droht ein großes Integrationsproblem
Frenzel: Haben denn eigentlich, andersherum gefragt, die politischen Gegner daraus jemals ein großes Thema gemacht, dass er schwarz ist. Haben sie damit, wenn sie es getan haben, hätten sie damit punkten können in der Öffentlichkeit?
Lammert: Sie haben es versucht, immer wieder, das hat man in der Gesundheitsreform gesehen. Da wurde immer wieder das Rassismusthema gebracht in Bildern, die man dann auf Demonstrationen der Tea-Party gesehen hat, oder in seiner Sozialpolitik. Er wurde dann als Food-Stamp-Präsident präsentiert. Er war immer sehr unter dem Fokus, macht der wirklich eine Politik als Schwarzer oder ist er ein Präsident aller Amerikaner. Und ich glaube, das ist auch ein Grund, warum er so vorsichtig war, hier keine klare Position zu beziehen. Er hat es immer eher schon akademisch aufgefasst. Er hat ja auch schon 2008 im Wahlkampf eine sehr wichtige Rede zum Thema Race gehalten, die auch sehr viel Beachtung fand. Aber das war eher analytisch und nicht als Aktivist.
Frenzel: Haben Sie denn den Eindruck, dass wir uns da auf einem guten Pfad insgesamt in der Frage der Gleichberechtigung bewegen, wo man sagen kann, es braucht halt einfach noch ein paar Jahre, Jahrzehnte, bis es eine volle Gleichberechtigung gibt? Oder haben wir da auch gesellschaftlich, jenseits der Entscheidung des Verfassungsgerichts, Rückschritte?
Lammert: Ich sehe eindeutige Rückschritte. Wenn man sich die Zeit anguckt seit der Bürgerrechtsgesetzgebung, hat sich am sozioökonomischen Status der Schwarzen nur ganz, ganz wenig verändert. Da ist nicht viel verändert worden. Das ist ein bisschen durchlässiger geworden für manche Eliten, aber für die breite Masse der schwarzen Bevölkerung ist es nicht besser geworden, und nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 sogar noch schlechter. Sie sind wirklich abgehängt worden. Und hier formiert sich momentan ein wirklich großes gesellschaftliches Integrationsproblem, was den USA in den nächsten zehn, zwanzig Jahren noch erhebliche Probleme machen wird.
Frenzel: Das sagt Christian Lammert, Professor für Nordamerikanische Politik an der Freien Universität Berlin. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Lammert: Sehr gerne doch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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