25 Jahre später

Kein Osten mehr!

Junge Touristinnen stehen in kurzen Hosen am Brandenburger Tor in Berlin und posieren mit als Soldaten verkleideten Darstellern für ein Erinnerungsfoto. Die beiden Männer lassen sich in ihrer Verkleidung als US-Soldat und ostdeutscher Soldat mit der bundesdeutschen Flagge und der DDR-Fahne gegen Geld fotografieren. Foto: Wolfram Steinberg dpa
Junge Touristinnen stehen in kurzen Hosen am Brandenburger Tor in Berlin und posieren mit als Soldaten verkleideten Darstellern für ein Erinnerungsfoto. © dpa / picture alliance / Wolfram Steinberg
Von Sergej Lochthofen · 02.10.2015
In der Generation der unter 35-Jährigen spielten Ost und West keine Rolle mehr, sagt der Journalist Sergej Lochthofen. Nur das Prekariat aus den östlichen Bundesländern sei noch nicht im wiedervereinigten Deutschland angekommen.
Sie sind angekommen.
Wenn nicht alle, so doch die meisten.
Gemeint sind nicht die jüngsten Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten oder Nordafrika, sondern die 16 Millionen der letzten großen Völkerwanderung vor 25 Jahren. Mit wenigen Ausnahmen ein Heer von Wirtschaftsflüchtlingen, das an der Tür zur Bundesrepublik seine Forderung aufmachte:
"Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr."
Aus "Wir sind das Volk!" wurde "Wir sind ein Volk!"
Der leise Einwand aus dem Westen "Wir auch!" - wurde einfach übertönt.
Es ist allzu verständlich, wenn in diesen feierlichen Tagen der Ereignisse von damals mit weit romantischerem Blick gedacht wird.
Jede Nation hat ihre Mythen.
Jede Nation braucht ihre Mythen.
Auch wenn denen in der Regel ganz handfeste Eigeninteressen zu Grunde liegen. Von Alters her. Die Griechen wollten Troja plündern. Nicht mehr und nicht weniger. Und was ist daraus für eine tolle Propaganda-Story geworden?!
So wäre es sicher unfair, den Protest auf den Leipziger Straßen im legendären Herbst ’89 als eine überlange Schlange nach Bananen zu denunzieren. Doch, ganz frei vom Streben nach materiellem Vorteil war die Veranstaltung nicht.
Auch wenn man jetzt genau das den Neuankömmlingen der vergangenen Wochen und Monate lauthals aus allen den Heidenaus und Tröglitz' entgegen schreit. Denn waren erst die Peiniger hinweg gefegt, ging es um ziemlich profane Dinge:
Gebrauchte Autos, hundert Prozent Westlohn und so etwas Langweiliges wie Finanzausgleich.
Eine Generation später ist das Nicht-Angekommen-Sein zum alleinigen Problem der Unterschicht geworden. Höchstens 20 Prozent. Wer möchte schon in dieser Welt dauernd zu den Verlierern gehören?
Auto, Westlohn, Finanzausgleich: Vielen ging es um profane Dinge
Schöne Erinnerungen an "damals" mögen zwar noch den altersheim-affinen Teil der ostdeutschen Population beschäftigen, die unter 35-Jährigen haben das triste Terrain längst verlassen. In Kleidung, Habitus und selbstbewusstem Auftreten unterscheiden sie sich längst nicht mehr von Gleichaltrigen aus dem Süden oder Norden. Selbst das Sächsische als eigene Mundart stirbt aus. Kein sonderlicher Verlust. Das Bayerische und das Schwäbische übrigens auch.
Wer jetzt noch immer auf irgendetwas wartet, ist ein Träumer, oder vielleicht doch einfach nur ein Trottel? Das Thema "Deutsche Einheit" ist eingetütet. Es findet sich nicht ein Mal mehr auf Seite eins oder zwei der politischen Agenda. Ein Unterpunkt im politischen Tagesgeschäft.
Was nicht heißt, dass es sich in Anklam oder Pasewalk inzwischen genauso schön und reich leben lässt wie in Freiburg oder Konstanz. Das war noch nie so. Das wird auch nie so sein. Selbst wenn man eines Tages mehr als die bekannten drei Tropfen Öl in dieser Gegend findet. Vorpommern wir sich damit abfinden müssen, dass es kein Breisgau ist.
Inzwischen sind die Unterschiede innerhalb der neuen Länder fast so krass wie einst im Verhältnis zum Westen. Und im Ruhrgebiet sind heute flächendeckend mehr Menschen arbeitslos als in Thüringen. In Gelsenkirchen suchen dreimal so viele Arbeit wie in Jena. Trotzdem halten Thüringer wie Sachsen fröhlich die Hand auf, wenn die bundesweite Soli-Kollekte ausgeschüttet wird.
Das kann so nicht bleiben.
Das wird so nicht bleiben.
Im Grunde gibt es den Osten nicht mehr.
Doch will man wirklich auf Augenhöhe mit denen von "drüben" aufschließen, wird man lernen müssen, nicht nur die gleichen Autos zu fahren, sondern vor allem großherziger zu sein, und Menschen die aus Gegenden kommen, wo Krieg und Hunger herrschen, von der Tür nicht abzuweisen. Sie nicht als Konkurrenten, sondern als Gewinn zu betrachten.
So wie es der Westen vor 25 Jahren vorgelebt hat.
Nicht wenige haben das begriffen.
Zu viele noch nicht.
Sergej Lochthofen ist Journalist. Geboren 1953 in Workuta / Russland, kam er als Fünfjähriger mit den Eltern in die DDR, wo er eine russische Schule besuchte; er studierte Kunst auf der Krim und Journalistik in Leipzig. Von 1990 bis Ende 2009 verantwortete er die Zeitung Thüringer Allgemeine. das Medium-Magazin wählte ihn zum regionalen "Chefredakteur des Jahres"; Fernsehzuschauer kennen ihn als Stimme des Ostens im ARD-Presseclub oder in der Phoenix-Runde.
Der Schriftsteller und Journalist Sergej Lochthofen; Aufnahme vom Oktober 2014
Sergej Lochthofen© picture alliance / dpa-Zentralbild / Arno Burgi
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