25 Jahre Mauerfall in Thüringen

Frauen führten ersten Sturm gegen Stasi-Zentrale an

Eine nachgebaute Verhörzelle der Stasi im DDR-Museum in Berlin.
Eine nachgebaute Verhörzelle der Stasi im DDR-Museum in Berlin. © Wolf-Sören Treusch
Von Henry Bernhard  · 06.01.2015
Die erste Besetzung einer Stasi-Zentrale in der DDR fand im Herbst '89 in Erfurt statt. Dort tauschten sich nun bei einer Podiumsdiskussion Zeitzeuginnen wie die Künstlerin Gabi Stötzer mit dem Publikum über den Stand der Aufarbeitung aus.
Die Stasi-Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt, gleich am Domplatz gelegen, empfängt den Besucher hallig, aber dennoch freundlich. Gleich nebenan befand sich bis Ende 1989 die Stasi-Bezirksverwaltung. Es war die erste, die von mutigen Bürgern besetzt wurde, um die Vernichtung der Akten zu stoppen. Allen voran an diesem 4. Dezember 1989 gingen fünf Frauen, die so mutig waren wie wohl nie wieder in ihrem Leben.
Heute sollte diesem Ereignis in einer Podiumsdiskussion gedacht werden. "Nach dem Sturm" hieß die Veranstaltung, und es ging eben um die Zeit, die 25 Jahre, danach. Wie sind wir mit dem Erbe der Revolution umgegangen? Wie haben wir aufgearbeitet? Wie gehen wir heute mit Schuld von damals und mit Verantwortung heute um? Im Podium saßen Thüringer Bürgerbewegte von 1989, der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, und der Thüringer Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Christian Dietrich.
Christian Dietrich: "Es ging ja in Erfurt los, Fundamentales, nicht nur für Thüringen. Wenn man es genau nimmt, war das ein Weltereignis. Wir nennen das jetzt Zivilcourage. Aber wer sich in diese Situation hineinbegibt, wird sich bewusstmachen müssen, was es heißt, die eigene Furcht zu überwinden."
Dem Major die Maske abgezogen
Eine der fünf Frauen, die damals vorangingen, war Gabriele Stötzer. Die Erfurter Künstlerin und Frauenrechtlerin hatte 1976 genau in diesem Gebäude in Stasi-Haft gesessen, später im Frauen-Zuchthaus Hoheneck. Sie erinnerte daran, dass sie damals die Stasi-Bezirksverwaltung nicht nur besetzt haben, sondern dass sie die ganze Machtstruktur der SED mit einbezogen haben: Bürgermeister, Polizei, Staatsanwaltschaft.
Gabi Stötzer: "Und die haben alle mit Herrn Generalmajor Schwarz von der Stasi ein Telefongespräch gemacht. Das heißt, wir haben diesen Major isoliert und ihn zu einem Individuum gemacht. Und wir haben ihm praktisch Schild und Schwert und die Maske von der Nase gezogen. Und dann musste er sich entscheiden: Schießt er oder schießt er nicht?"
In den Tagen und Wochen darauf wurden überall in der DDR Kreis- und Bezirksverwaltungen der Stasi, im Januar 1990 auch die Berliner Hauptverwaltung besetzt, um die Aktenvernichtung zu stoppen und die Macht der immer noch bewaffneten Stasi zu brechen. Der Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde Roland Jahn warf dagegen ein:
"Haben wir uns nicht zu sehr auf diese Stasi konzentriert? Hätten wir uns nicht mehr mit dieser Partei beschäftigen müssen?"
Aber Gabriele Stötzer widersprach:
"Dadurch, dass wir die Stasi, die ja ein bewaffnetes Organ waren, eingenommen haben, das war nämlich ne Art Selbstbefreiung der DDR!"
Dennoch, und da waren sich alle im Podium einig: Heute muss die Stasi-Hinterlassenschaft weiter bearbeitet werden, aber nur als ein Aspekt der Vergangenheit. Was ist, fragte Roland Jahn, mit Journalisten, die Jahrzehnte parteitreu geschrieben haben, mit Mitarbeitern der Jugendämter, die Familien die Kinder weggenommen haben? Und was ist mit uns selbst – damals und heute?
Roland Jahn: "Wo haben wir selber uns bewegt in den vorgeschriebenen Bahnen, wo hätten wir vielleicht auch mal Nein sagen können? Es ist für manches jetzt zu spät, aber vielleicht auch, weil es so spät ist, eine große Chance: Dass diejenigen, die Verantwortung getragen haben, vielleicht mitwirken, weil sie jetzt in Rente sind und nicht mehr Angst haben, den Job zu verlieren."
Noch immer ist es sehr schwer und oft unmöglich, Täter und Opfer an einen Tisch zu bekommen. Brigitta Wurschi, selbst in der Opferberatung in Suhl tätig, sprach aus Erfahrung:
"Wenn es gelingt tatsächlich, von der Täterseite auf die Opfer zuzugehen, bereit zu sein, die Hände auszustrecken, ihnen ihre Wut zu erlauben, ihre Trauer zu erlauben, dann kann was gelingen. Wenn wir immer sagen: War ja nicht so schlimm!, dann kann nie ein Opfer wieder ankommen."
Der linke Ministerpräsident im Publikum
In der ersten Reihe der Zuhörer saß Bodo Ramelow, der Ministerpräsident Thüringens. Er weiß, dass auf ihn und seine Partei, die Linke, sehr genau geschaut wird, wenn es um die DDR-Aufarbeitung geht.
Bodo Ramelow: "Wo sind wir hier? Wir sind hier im Stasi-Gefängnis! Das heißt, dass hier im Namen der SED Leid begangen worden, und hier sitzen Menschen, die das Leid erlebt haben und erdulden mussten und die haben natürlich auch indirekt einen Blick darauf: Da sitzt der linke Ministerpräsident."
Auch Ramelow plädierte am Rande der Veranstaltung dafür, weniger pauschal zu urteilen und vielmehr mit dem Abstand der 25 Jahre Gespräche über Leid, Verantwortung und Schuld zu führen – ohne Stigmatisierung, mit dem Vorbild der Wahrheitskommissionen in Südafrika.
Bodo Ramelow: "Es gibt keine Alternative, als Orte zu finden, wo wir anfangen, miteinander reden zu können, und trotzdem weiter Gedenkstättenarbeit zu betreiben. Und wenn ich dann sehe, dass da oben mehr westdeutsche Schüler als Thüringer Schüler sind, dann haben wir Grund, darüber nachzudenken. Deswegen steht das auch so im Koalitionsvertrag."
Wohl in keinem Bundesland wird in den kommenden fünf Jahren genauer auf die Aufarbeitung der SED-Diktatur geschaut werden. Die Beteiligten könnten das als Chance begreifen.
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