200. Todestag von Matthias Claudius

Spöttisch und fromm

Eine 1900 entstandene Profil-Silhouette des Dichters und Schriftstellers Matthias Claudius
Mann trägt Zopf: Silhouette des Dichters und Schriftstellers Matthias Claudius © Imago
Moderation: Kirsten Dietrich · 25.01.2015
Das "Abendlied" des Lyrikers Matthias Claudius zählt zu den bekanntesten Gedichten der deutschen Literatur. Dabei war Claudius nicht nur verträumt. Er konnte auch ziemlich rebellisch sein, sagt der Musikhistoriker Martin Geck.
Kirsten Dietrich: Das muss man in einem Bewerbungsschreiben erst einmal bringen – offen zu sagen, dass man zwar willig sei, aber nicht genau wisse, was man könne, nur eins sei sicher: Zum Rädchen im Getriebe tauge man nicht. Matthias Claudius hat einen solchen Bewerbungsbrief verfasst vor über 200 Jahren. Auch 1775 war das nicht unbedingt der Schlüssel zum Erfolg. Ein ausreichendes und stetiges Einkommen hatte Claudius fast nie, er war zeitlebens von adligen Patronen abhängig. Aber seine Unabhängigkeit war Claudius wichtiger: die Freiheit zu dichten und als selbsternannter "Wandsbecker Bothe" das Zeitgeschehen zu dokumentieren. Claudius war spöttisch und humorvoll, aber auch von Grund auf fromm. Einen Roman hat er nie geschrieben, aber seine Lieder sind bis heute im Gedächtnis geblieben. "Der Tod und das Mädchen" oder das Erntelied "Wie pflügen und wir streuen" und natürlich am bekanntesten "Der Mond ist aufgegangen".
In dieser Woche jährte sich der Todestag von Matthias Claudius zum 200. Mal. Ich habe deshalb mit Martin Geck gesprochen – Musikhistoriker an der Universität Dortmund und Autor einer Biografie über Matthias Claudius. Ich wollte von Martin Geck wissen, ob "Der Mond ist aufgegangen" so etwas ist wie die Zusammenfassung all dessen, was den frommen Dichter Matthias Claudius ausmacht.
Martin Geck: Jedenfalls ist es ein schönes christliches Lied, weil Claudius die christlichen Grundwahrheiten so schön auf die Reihe kriegt. Das fängt bei der Natur an, beim Mond, und es schließt "mit dem kranken Nachbarn auch", dazwischen so eine kleine Theologie. Und diese Schlusszeile, "der kranke Nachbar auch", das ist mir immer so vorgekommen, als wenn da das kleinste Kind in die Predigt vom Vater auch noch hineinkräht: "Und unseren kranken Nachbarn auch." Und da sieht man auch schon, wie der Claudius ins Leben hineinschreibt und vom Leben herkommt. Und sogleich ist natürlich das ein Lied, was jeden anspricht, ob gläubig oder nicht, ob klein oder groß, reich oder arm – da fühlt sich jeder ein wenig in den Arm genommen, weil das um menschliche Existenzialen geht, Natur, Geburt, Tod, Unsicherheit, Glück.
Dietrich: Wobei die Strophen, in denen es wirklich ... vor allen Dingen die vorletzte Strophe, wo es dann wirklich darum geht, dass auch sozusagen der Übergang in den Tod ein sanfter sein möge, die wird ja ganz oft unterschlagen eigentlich.
Geck: Ja – hier ist man offenbar da doch sehr vorsichtig und will doch nicht zu christlich erscheinen, zumal das bei Claudius ja gar nicht nur der sanfte Tod ist, den er nun erwartet, sondern er wünscht ihn sich sehr. Ich glaube, es war ihm sehr daran gelegen, dass er einen sanften Tod hätte, und er war doch sehr gegenüber dem Tod ängstlich. Es gibt ja da auch ein berühmtes Gedicht von ihm, wo er von der finstern Kammer spricht des Todes, in die er nur ungern eingehen möchte, doch dann ist da doch so eine Sehnsucht da, die immer wieder in Glaubensgewissheit umschwenkt, obwohl er sich den Himmel nicht plastisch vorgestellt hat. Er hat das auf sich beruhen lassen und nur gehofft, er wird in die Ewigkeit aufgenommen werden.
Getrieben von der Angst vor dem Tod
Dietrich: Den Tod hat er sich aber ganz plastisch vorgestellt, das zieht sich ja immer wieder durch sein Werk, dass der da wirklich auch auftaucht als der Sensenmann, der sogar den Buchtitel ziert.
Geck: Ja, so ist das, sogleich hat er dann geschrieben, das berühmte Gedicht von Schubert vertont, "Der Tod und das Mädchen": "Vorüber! Ach vorüber! Geh, wilder Knochenmann", worauf dieser Knochenmann aber antwortet: "Bin sanft." Das ist doch wieder dann ein gewisser Widerspruch. Er versucht schon, das Knochenmännische und das Sanfte miteinander in Verbindung zu bringen.
Dietrich: Ist er da noch so ganz Kind vielleicht des Barock, der ja so dieses ganz merkwürdig innige und ängstliche Verhältnis zum Tod hatte?
Geck: Ja, das ist natürlich wahr. Das war die Barockzeit, die das ängstliche Verhältnis hatte. Es war genauso die Zeit der Aufklärung, da haben nur die Intellektuellen versucht, die Angst vor dem Tode hinweg zu diskutieren. Sie haben da die Friedhöfe auch plötzlich wegverlegt aus den Städten aufs Land, um ja nicht an den Tod erinnert zu werden. Aber die Bevölkerung, die hatte unverändert Schiss vor dem Tod – und so auch Claudius.
Dietrich: Drei seiner Kinder immerhin hat er begraben müssen, noch bevor sie wirklich groß geworden sind.
Geck: Ja, das hat ihn schwer bewegt.
Dietrich: Matthias Claudius kam aus einem Pfarrerhaushalt, in der fünften Generation waren die Eltern beziehungsweise waren die Väter Pfarrer. Er hat selber auch Theologie angefangen zu studieren, aber dann hat er's abgebrochen, er ist zu Jura gewechselt, er war aber trotzdem natürlich zeitlebens fromm und sehr, sehr engagiert in Glaubensfragen. Warum ist er eigentlich nicht Pfarrer geworden?
Geck: Ja, es ist überliefert, das hätte er wegen seiner Gesundheit nicht gemacht. Er hat wohl Blut gespuckt – so wird es jedenfalls in der Biografie erzählt –, aber ich glaube, die Ursachen dafür sind tieferer Natur. Ihm lag es schon nicht im Studium, sich von einem Professor vom Katheder her belehren zu lassen. Er sprach mal in einer sehr schönen Glosse von Universitäten als den Unverstäten, und er war in erster Linie Dichter, er liebte speziell das Johannesevangelium wegen vieler schöner lyrischer Stellen. "Der Wind weht, wo er will", so ist ja in dem Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus die Rede, und Claudius liebte diese Lyrik. Dagegen war er wissenschaftlicher Bibelexegese doch sehr fremd gegenüber. Er kommentierte sie, um es so zu sagen, mit ehrfürchtigem Spott.
Dietrich: Das heißt, er wollte sich seinen Glauben nicht kaputt machen lassen dadurch, dass er ihn noch mal kritisch hinterfragte?
Geck: Ja, so kann man das durchaus sagen, obwohl er ja ein Philologe war, der sowohl Latein wie auch Griechisch und Hebräisch beherrschte und dem auch irgendwie zugänglich war, aber was zu viel ist, ist zu viel, hätte er gesagt.
Dietrich: Es ist eigentlich erstaunlich, weil er hatte ja viele andere Dinge sehr kritisch durchaus und sehr wach kommentiert. Ist dann der Glaube sozusagen die Grenze gewesen, wo er sagte, und das rührt mir jetzt keiner an?
Geck: Er war ein freundlicher und oft auch spöttischer, gelegentlich sogar sarkastischer Mensch, aber dann gab es für ihn Werte, die sollte man nicht anrühren. Und dazu zählt schon im Wesentlichen die Bibel, obwohl es ist nicht viel die Rede bei ihm von Wundergläubigkeit, also er war nicht in diesem Sinne, wie man vielleicht sagen würde, fundamentalistisch, aber es lag ihm daran, dass die Bibel das Wort Gottes ist.
Auf der Suche nach einem innerlichen Christentum
Dietrich: Was war denn das für eine Form von Frömmigkeit, die Claudius gelebt hat, kann man das noch ein bisschen genauer fassen? Sie sagen, wundergläubig war er nicht, er misstraute auch so Bekehrungsgeschichten, aber er suchte – ja, was suchte er dann?
Geck: Er suchte nach einem auf der einen Seite innerlichen Christentum, das sich aber auf der anderen Seite auch in einem christlich-sinnvollen Lebenswandel zeigte, wo man seinen Nächsten nicht zu nahe trat. Er verpflichtete die Obrigkeit, obwohl sie sich nicht daran gehalten hat oder selten dran gehalten hat, zur Gerechtigkeit, und verpflichtete die Untertanen zum Gehorsam. Also da war er auch konservativ, das schließt aber dieses innere Erleben von Glauben nicht aus. Da wurde er auch mehr und mehr ein wenig zum Mystiker, was allerdings dann auch zur Zeitströmung der Romantik gehört, in die er ja auch noch hineingewachsen ist. Und so ist er vielfältig in seinem Glauben, das lässt sich für mich nicht auf Flaschen ziehen. Er ist ja auch dann noch sehr stark im 19. und im 20. Jahrhundert rezipiert worden, bis hin zu Dietrich Bonhoeffer, welcher viel auf ihn gesetzt hat. Ich würde das nicht zu definieren wagen im Sinne von Orthodoxie oder Pietismus und dergleichen, er war ein Kopf sui generis.
Dietrich: Dieses ganz Eigene, drückt sich das auch dadurch aus, dass er ja lange, lange Zeit auch engagiert als Freimaurer war und das ganz selbstverständlich mit seinem Glauben zusammenhing, oder war das was Zeittypisches?
Geck: Das war in gewissem Sinne zeittypisch, was die Intellektuellen und die Künstler betraf. Zwar wurde das vom Klerus nicht so gern gesehen, dass man als Christ Freimaurer war, jedoch ist etwa darauf hinzuweisen, dass sein Freund Johann Gottfried Herder, der ja nicht nur Theologe und Philosoph, sondern auch späterer Weimarer Generalsuperintendent war, ebenso Freimaurer war. Es ging den Freimaurern um ein edles Menschentum, das sich mit christlichen Werten durchaus vereinbaren ließ.
Dietrich: Matthias Claudius lebte mitten in der Zeit der Aufklärung, in der die Aufklärung ihren Siegeszug auch auf politischem Gebiet hatte – die Französische Revolution 1789 war das zentrale Ereignis der Epoche. Wie hat Claudius das empfunden, war das ein Bruch in seinem Leben?
Geck: Ja, das war ein ungeheurer Bruch für ihn. Er war zwar damals erst 49 Jahre alt, doch die restlichen 25 Jahre seines Lebens waren von diesem Bruch überschattet und in vielem verdüstert. Wenn er nicht seine Familie gehabt hätte, dann würde ihn das schwerstens beeinträchtigt haben. Er sah in der Französischen Revolution nur Unrecht und Gräuel, und ich glaube, er hat es seinem Herrgott nicht verziehen, dass er dieses Unrecht zugelassen hat. Aber wenn er auch der Meinung war, gemäß Luthers Auffassung, jeglicher sei der Obrigkeit untertan, so war er absolut kein Fürstenknecht, er redete der Obrigkeit mit Zivilcourage ins Gewissen. Und da gibt es so ein bewegendes Gedicht von dem Schwarzen auf der Zuckerplantage, welcher über sein schweres Los klagt, und das hat er in der Zeitung, dem "Wandsbecker Bothen" veröffentlicht, deren Besitzer der fast wohlhabendste Mann Europas war, nämlich der Graf Schimmelmann, der auch Sklavenhalter war. Also das in dieser Zeitung zu veröffentlichen, dieses Gedicht, das hat schon gewisse Zivilcourage erfordert.
Ein Lyriker mit Zivilcourage
Dietrich: Und trotzdem konnte sich Claudius aber ein Leben ohne fürstliche Patronage auch nicht richtig vorstellen.
Geck: Ja, er hätte sich das sehr gut vorstellen können, es war ihm nur nicht klar, wie er das realisieren wollte. Er sah sich schon als Freak, und es war ihm schon früh klar, er war für eine geregelte Tätigkeit am Schreibtisch, wo auch immer, nicht geeignet. Und deshalb war er darauf angewiesen, sich irgendwie auf sonstigem Wege den Lebensunterhalt zu sichern. Und dazu zählte, dass er Zöglinge in seine Familie nahm, die er dann auch unterrichtete, und er hat viel Übersetzungen gemacht, und er hat versucht, auch etwas in seiner Literatur zu verdienen. Aber das hat nicht gereicht alles, es war schon nötig, dass er dann – es ist auch geglückt – kleine Stipendien von seiner fürstlichen Obrigkeit bekam.
Dietrich: Wie zeitgemäß ist Claudius heute, oder was kann uns Matthias Claudius heute noch sagen, was kann er uns bedeuten heute noch?
Geck: Muss man zeitgemäß sein, um etwas zu sagen zu haben? Die einfachen christlichen Wahrheiten waren immer zeitgemäß, aber wie es im von Claudius so geliebten Johannesevangelium ja heißt, "das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen" – das ist für mich zum Stichwort zeitgemäß zu sagen. Die Frage ist für mich mehr, ist er noch heutzutage aktuell. Und da sind viele Punkte für mich, da ist er unverändert aktuell. Da gibt es zum Beispiel einen Zug zur Entschleunigung des Lebens, der unseren jetzigen Machern sicher nicht sehr ins Konzept passen wird. Und da gibt es eine Liebe zur Schöpfung und das Vertrauen in das Werk des Schöpfers, die wieder von neuer Bedeutung werden. Dann gibt es dieses Wehgedicht über den Krieg, das ist ja an sich ein Friedensgebet, was mit den Worten anfängt, "'s ist Krieg", und da ist auch Claudius fast ein Pazifist, nur gegenüber der Französischen Revolution, da war er es allerdings nicht. Und da sind viele Werte, die man noch sehr gut nehmen kann.
Dietrich: Der Musikhistoriker Martin Geck über den Liederdichter Matthias Claudius.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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