20 Jahre nach Rabins Ermordung

"Die Rechte gibt sich als alleiniger Herrscher"

Junge israelische Nationalisten protestierten 2011 in der Nähe von Nablus im Westjordanland gegen die Forderung der Palästinenser nach einem eigenen Staat.
Junge israelische Nationalisten protestierten 2011 in der Nähe von Nablus im Westjordanland gegen die Forderung der Palästinenser nach einem eigenen Staat. © dpa / picture alliance / Oliver Weiken
Von Christian Wagner · 03.11.2015
Jitzchak Rabin kämpfte für eine Aussöhnung Israels mit den Palästinensern. Auch 20 Jahre nach seiner Ermordung bewegt die Erinnerung an seine Politik das Land. Doch der Traum vom Frieden ist geplatzt, die öffentliche Debatte wurde bitter und aggressiv.
"Hier siehst du Leute, die gerade vom Tod Jitzchack Rabins erfahren haben. Wie sehen sie aus? Ja genau, sehr traurig, sie sind entsetzt."
David ist mit seiner Tochter Emma in die Foto-Ausstellung am Habima-Platz in Tel Aviv gekommen. Emma geht in die erste Klasse. Und ihr Vater erklärt ihr, was passiert ist, vor 20 Jahren, als Jitzchak Rabin erschossen wurde.
"Schau, die Leute wissen nicht, was sie machen sollen. Weil sie ihren Anführer verloren haben."
Emma nickt. Und David sagt, dass ihn ein Bild vom aufgebahrten Sarg am meisten berührt, weil er damals selbst dort war.
Auch der alte Meir schaut die Fotos an, ihm steigen die Tränen in die Augen, wenn er über Rabin sprechen soll. Der alte Mann stockt immer wieder, reißt sich mit Mühe zusammen.

"Rabin war für mich wie ein Vater. Er wollte etwas tun, was sich bis dahin niemand getraut hatte. Sogar ich war entsetzt, als er Arafat die Hand geschüttelt hat. Aber manchmal muss man eben schwere Entscheidungen treffen."
"Wir hatten das Gefühl, wir seien bei Rabin gut aufgehoben, behütet. Und dann ist unser Ministerpräsident ermordet worden, von einem Juden! Das ist ein unverzeihlicher Bruch."
Die Trauer um Jitzchak Rabin und die Trauer um eine verpasste Chance sind geblieben. Die Linken sind weniger geworden - sie müssen sich als naive Verräter beschimpfen lassen, wenn sie Frieden fordern. Ganz verschwunden ist die Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Konflikt mit den Palästinensern.
Also, was ist geblieben von Rabin - außer der Anerkennung für einen, den zumindest die Demonstranten auf dem Rabin-Platz für aufrichtig und anständig hielten?
Der 4. November 1995 war ein Samstag: Großdemonstration für Frieden am Abend auf dem Platz vor dem Rathaus von Tel Aviv, damals noch nach den "Königen Israels" benannt. Jitzchak Rabin war gekommen, um seine Politik zu verteidigen: Zwei Jahre zuvor hat er die ersten in Oslo geheim ausgehandelten Vereinbarungen mit den Palästinensern unterzeichnet. Israel und die palästinensische Befreiungsorganisation PLO haben sich gegenseitig anerkannt. Die Palästinenser im Westjordanland bekommen schrittweise ein eng begrenztes Selbstbestimmungsrecht. Es ist ein Prozess: In ein paar Jahren soll ein echtes Abkommen den israelisch-palästinensischen Konflikt ein für allemal beenden. Dafür hat Rabin schon den Friedensnobelpreis bekommen - gemeinsam mit seinem Außenminister Shimon Peres und PLO-Chef Yassir Arafat.
Sie haben ihn einen "Verräter" und einen "Mörder" genannt
Aber Jitzchak Rabin wendet sich an diesem Abend an ein tief gespaltenes Land:
"Ich bin überzeugt: Eine Mehrheit des Volkes will Frieden - und will für einen Frieden auch Risiken in Kauf nehmen. Denn die Gewalt zerstört die Grundlage der israelischen Demokratie. Wir müssen Gewalt verurteilen und zurückdrängen. Sie gehört nicht zu Israel. In einer Demokratie gibt es Meinungsverschiedenheiten. Aber Entscheidungen werden in demokratischen Wahlen getroffen. Deshalb haben wir das Mandat, das zu tun, was wir tun. Und wir werden diesen Weg fortsetzen."
Eitan Haber: "Rabin war sehr unsicher, was die Stimmung in der Bevölkerung angeht. Er hat die Demonstrationen seiner Gegner gesehen. Er hat gehört, dass sie ihn einen 'Verräter' und einen 'Mörder' genannt haben. Deshalb wollte er zunächst auch gar nicht zu der Friedensdemo kommen, an deren Ende er dann erschossen wurde. Er hatte Sorge, dass kaum jemand kommen würde, dass es schlecht aussehen würde. Als dann hunderttausende da waren, war er vollkommen überrascht. Es war womöglich der glücklichste Moment seines Lebens."
Eitan Haber war damals Büroleiter Rabins. Er sitzt im Wohnzimmer tief versunken auf seinem Sofa und sagt, Freunde seien Rabin und er nicht gewesen, aber Rabin habe ihm vertraut. Auf einer Staffelei neben dem Sofa steht ein großes gerahmtes Foto: US-Präsident Clinton und Jitzchack Rabin im Außenministerium in Washington, Eitan Haber in der Mitte. Der US-Präsident bindet dem israelischen Ministerpräsidenten gerade eine schwarze Fliege um, es ist ein feierlicher Anlass, eine Preisverleihung Ende Oktober '95 - nur wenige Tage vor dem Attentat. Die beiden Staatsmänner lachen, Eitan Haber steht zwischen ihnen und lacht mit. Ein leichter Moment, während zuhause in Israel der erbitterte Streit um die Friedenspolitik tobte.
"Die Siedler, die Rechten haben in Rabins Politik einen Umsturz, eine Meuterei gegen den Willen Gottes gesehen, gegen ihre Weltanschauung. Sie haben alle möglichen Aktionen gestartet gegen Rabin und seine Regierung und vor allem gegen das Oslo-Abkommen. Am Abend sind sie an großen Kreuzungen mit Fackeln aufgezogen. Rabin bekam tote Katzen geschickt, mit Fäkalien beschmierte Briefe, Briefe mit Nazi-Symbolen oder wüsten Beschimpfungen. Das war schrecklich. Sie haben ihn 'Verräter' und 'Mörder' genannt und es gab schon vorher mindestens einen Attentatsversuch."
Da hatten mehrere Rabbiner den Ministerpräsidenten schon zum "Rodef" erklärt, zum Feind und Verfolger der Juden, der getötet werden muss.
Auf dem Zions-Platz in Jerusalem, Oktober '95. Wieder eine Demonstration, diesmal gegen die Regierung Rabin: Die aufgebrachte Menge verbrennt Plakate, auf denen Rabin in Nazi-Uniform zu sehen ist. Auf einem Balkon über dem Platz steht Benjamin Netanjahu, gemeinsam mit der Führungsriege der Likud-Opposition. Mit PLO-Chef Yassir Arafat dürfe man nicht verhandeln, sagt Netanjahu, damals Fraktionschef des Likud.
"Dieser niederträchtige Mörder wird von der Regierung hofiert. Diese israelische Regierung ist blind und erlaubt Arafat, seinen Plan zu verwirklichen: Die Vernichtung des jüdischen Staats!"
Yigal Amir, verurteilter Mörder des israelischen Premierministers Izchak Rabin, vor Gericht in Tel Aviv
Yigal Amir, verurteilter Mörder des israelischen Premierministers Izchak Rabin, am 11. September 1996 vor Gericht in Tel Aviv© dpa / picture alliance / EPA / AFP / Menahem_Kahana
Genau einen Monat später: Das Attentat. Yigal Amir schießt am Ende der Friedens-Kundgebung in Tel Aviv drei mal auf Jitzchack Rabin. Der Ministerpräsident stirbt wenig später im Krankenhaus. Der Attentäter ist Jura-Student, 26 Jahre alt. Yigal Amir bekennt sich zu dem politischen Attentat.
"Alle unsere Hoffnungen sind kaputt gemacht worden"
Ina Friedman: "Ja, das war ein Trauma. Aber es hat nicht lange angehalten. Es gab ein oder zwei Wochen ohne Verkehrsunfälle, die Leute waren nett zueinander, sie haben anderen die Tür aufgehalten. Alles hat sich beruhigt. Aber die extrem harte Auseinandersetzung, die Verleumdung Rabins als Verräter, das ist geblieben. Ich habe es auch nicht anders erwartet."
Ina Friedman hat zwei Jahre nach dem Attentat angefangen, ein Buch darüber zu schreiben. "Der Tod des Jitzchak Rabin. Anatomie einer Verschwörung". Heute sagt sie, das Land, in das sie Ende der 60er-Jahre eingewandert war, habe sich seit dem Attentat auf Rabin sehr verändert.
"Die Soldaten, die heute am Checkpoint stehen, sind im Jahr von Rabins Ermordung gerade mal auf die Welt gekommen, oder noch später. Die Israelis dieser Generation können sich nicht mal mehr an alltägliche Kontakte mit Palästinensern erinnern. Sie leben von ihnen getrennt. Deshalb ist es für beide Seiten so einfach, die anderen als Unmenschen darzustellen. Und das passiert leider auch."
Die Checkpoints, die israelischen Armee-Posten an den Übergängen zwischen Westjordanland und Israel, beschäftigen die pensionierte Journalistin in besonderer Weise: Mit anderen Frauen der Organisation Machsom Watch geht Ina Friedman immer wieder zum Checkpoint Kalandia zwischen Jerusalem und Ramallah: Sie beobachtet, vermittelt wenn möglich zwischen den Soldaten und den Palästinensern, die oft stundenlang hingehalten oder abgewiesen werden.
"Einmal die Woche ab fünf Uhr morgens meinen Checkpoint beobachten, das ist meine Buße dafür, dass meine Generation versagt hat. Ja, wir haben versagt. Als ich vor 50 Jahren nach Israel gekommen bin, da war alles möglich, auch Frieden. Aber alle unsere Hoffnungen sind auf die Seite geschoben oder kaputt gemacht worden. Alles ist schwarz-weiß geworden - gut oder schlecht, Jude oder Araber - und es gibt sehr viel Angst."
Am Institut für Design in Holon bei Tel Aviv wird immer noch gearbeitet. Sehr zum Leidwesen von Dana Arieli. In wenigen Tagen will sie dort ihre Ausstellung feierlich eröffnen: "20 Jahre danach - die Erinnerung an Rabin gestalten." Arieli hat Bilder, Plakate, Installationen und Videos von über 50 Künstlern bekommen und sie stellt fest:
"Erstaunlicherweise beschäftigt sich die Kunst noch immer mit der reinen Darstellung der Tat. Weniger als direkt nach dem Attentat und weniger als vor zehn Jahren. Aber die Suche nach Dokumentation ist immer noch da, weil es keinen eindeutigen Bild-Beweis gibt."
20 Jahre nach dem Attentat ist in Israel auch die Frage nach der Verantwortung noch immer wichtig. Der Grafiker David Tartakover hatte zu einem Jahrestag des Attentats ein Poster aus zwei Bildern gemacht: Oben Rabin mit dem Text: "Wir werden nicht vergessen." Und darunter Benjamin Netanjahu mit dem Text: "Wir werden nicht vergeben." Michael Sahar hat dieses politische Poster zum 20. Jahrestag weiterbearbeitet. Jetzt steht über Rabins Bild nur noch "vergessen", über Netanjahus Bild nur noch "vergeben".
"Dieses Poster ist eine Ikone, das kennt jeder. Netanjahu wird von der Kunst immer wieder verantwortlich gemacht für den Mord an Rabin. Mehr muss man also gar nicht sagen. Er ist immer noch dafür verantwortlich. Und das kann nicht vergeben werden."
Rabins Ideen wären in Israels Politik heute tabu
Erstaunlich sei ja, sagt Dana Arieli, wie sehr das Attentat auf Rabin Künstler und Grafiker beschäftigt. Alle großen Museen in Israel hätten allerdings ihr Angebot für eine Ausstellung ausgeschlagen. Das Thema sei ihnen zu politisch, zu heikel gewesen.
Was ist dann mit Rabins letzter Rede auf dem Platz in Tel Aviv? Es scheint, das was Rabin damals formuliert hat, ist heute ein Tabu. Undenkbar, dass ein israelischer Ministerpräsident heute Rabins Worte wiederholen würde.
"Ich war 27 Jahre lang Soldat. Solange es keine Aussicht auf Frieden gab, habe ich gekämpft. Aber jetzt glaube ich daran, dass es eine Chance auf Frieden gibt, eine große Chance. Wir müssen sie nutzen, in Verantwortung für die, die hier sind, und in Verantwortung für die, die nicht hier sind."
Yossi Beilin: "Rabin hat immer wieder gesagt: Wir brauchen ein Abkommen, bevor wir eine palästinensische Mehrheit unter der Herrschaft einer jüdischen Minderheit haben - und bevor die Iraner Atomwaffen haben. Rabin glaubte, er habe nicht allzu viel Zeit. Aber jetzt haben wir fast überhaupt keine Zeit mehr."
Yossi Beilin, in Rabins Regierung Anfang der 90er-Jahre war er Stellvertreter von Außenminister Shimon Peres. Beilin hatte die geheimen Verhandlungen zum ersten Oslo-Abkommen geführt. Am Esstisch in seinem Wohnzimmer im wohlhabenden Norden von Tel Aviv erklärt Beilin, dass Rabins Antrieb nicht ein Frieden an sich war. Es war vielmehr die Einsicht, dass Israel nur ohne Besatzung ein jüdischer und demokratischer Staat würde bleiben können. Heute ist Beilin überzeugt: Auf dem Weg zu einer Lösung ihres Konflikts hätten beide Fehler gemacht: Der vorsichtige Rabin, der nur schrittweise vorgehen wollte, genauso wie Arafat, der noch nicht bereit gewesen sei für einen eigenen Staat.
"Ich hatte Bedenken, dass Extremisten auf beiden Seiten ein endgültiges Abkommen mit Terror-Akten torpedieren würden. Auch wenn ich so etwas wie das Goldstein-Massaker in Hebron oder die Selbstmord-Bombenanschläge nicht erwartet hatte. Aber ich dachte schon an Terrorismus, dass es Tote geben würde. Wir hätten die Leute mit einem endgültigen Abkommen vor vollendete Tatsachen stellen sollen, dann hätten sie es schon akzeptiert."
Die bittere Realität für Beilin ist: Der gescheiterte Oslo-Prozess hat den Palästinensern bisher Autonomie-Inseln gebracht, Eigenverantwortung zum Beispiel für Schulen und Krankenhäuser, aber keine Selbstbestimmung. Die israelische Armee ist nach wie vor Besatzer, an einen Abzug der Soldaten ist nicht zu denken. Yossi Beilin beklagt diese Situation, in der die israelischen Siedlungen auf besetztem Gebiet weiter ausgebaut werden - denn es werden Tatsachen geschaffen, die ein Zurück zu Rabins Oslo-Politik immer unwahrscheinlicher machen.
Ina Friedman, die Journalistin im Ruhestand, geht noch weiter. Sie sagt, Israel sei heute, 20 Jahre nach Rabins Ermordung, in einer ausweglosen Lage:
"Wir erleben tägliche Gewalt. Wir gestalten unsere Zukunft nicht. Wir haben keinen Kontakt mit den Leuten auf der anderen Seite des Zauns. Unsere Besatzung war schon immer untragbar. Dieser Überzeugung sind jetzt nicht nur die wenigen Israelis, die Kontakt nach drüben haben. Die ganze Welt kritisiert die Besatzung, und das immer lauter. Und wir wissen nicht, wie wir da rauskommen sollen."
Diskutiert wird in Israel gern und ausgiebig. Aber Antworten erwartet auch Eitan Haber, Rabins damaliger Büroleiter, nicht mehr.
"Die politische Debatte hat sich verändert: Die Rechte gibt sich inzwischen als alleiniger Herrscher. Es gibt ja heute keinen wie Rabin, der sich gegen sie durchsetzen könnte. Und egal, über was diskutiert wird: Die öffentliche Auseinandersetzung in Israel ist sehr viel härter geworden, bitter und aggressiv."
Bei einer Demonstration am Rabin-Platz hält David ein großes Transparent hoch: "Ohne Frieden keine Sicherheit". Ihn hat das Attentat damals auch schockiert, als er selbst Soldat war. Aber ihm geht die Verklärung Rabins heute auf die Nerven:
"Man sollte nicht so tun, als ob Rabin ein Linker gewesen wäre. Er war ein knallharter Militär. In der ersten Intifada hat er zu den Soldaten gesagt: 'Brecht den Palästinensern Arme und Beine. Was anderes verstehen sie nicht.' Später hat er eingesehen, dass Gewalt nicht funktioniert. Daran hat sich nichts geändert."
Pedro: "Die Frage ist ja, ob du daran glauben willst, dass es besser werden kann, oder nicht. Mir ist es wichtig, meinen Söhnen und Töchtern zu sagen, dass wir an eine bessere Zukunft glauben können."
Deshalb demonstrieren Israelis wie Pedro weiter. Auch wenn aus ihrer Sicht in den 20 Jahren seit Rabins Ermordung nichts besser geworden ist.
Mehr zum Thema