20 Jahre nach dem Bosnien-Krieg

Im Schatten von Srebrenica

Im Marmor gemeißelte Namen der Opfer in der Gedenkstätte Potocari in der Nähe von Srebrenica
Im Marmor gemeißelte Namen der Opfer in der Gedenkstätte Potocari in der Nähe von Srebrenica © dpa / picture alliance / Thomas Brey
Von Karla Engelhard, Stephan Ozsváth und Susanne Glass · 09.07.2015
Serben und Bosniaken lebten friedlich Tür an Tür in dem Kurort Srebrenica, bis 1992 der Bosnien-Krieg ausbrach. Drei Jahre später umzingelten 15.000 serbische Soldaten einen Vorort und töteten 8000 muslimische Männer und Jungen. Das ist bis heute ein Trauma.
Srebrenica, die ostbosnische Kleinstadt, war im einstigen Jugoslawien ein Kurort mit heilenden Quellen. Kada Hotic war 17 Jahre, verliebt und sang oft:
Kada singt
Wenn die heute 70-Jährige singt, denkt sie an ihren Mann Zead, an ihre Kinder und an die glückliche Zeit in ihrer Neubauwohnung in der "Marschall Tito Straße". Serben und Bosniaken lebten dort friedlich Tür an Tür. Bis im April 1992 der Bosnienkrieg begann. Um Srebrenica wurde sofort gekämpft, drei Jahre dauerte die Belagerung.
Kada: "Meine serbischen Nachbarn waren vor dem Krieg nicht böse, sie wurden böse und fanatisch gemacht und halfen uns nicht mehr."
Die Vereinten Nationen erklärten das Gebiet um Srebrenica zur UN-Schutzzone und schickten holländische Soldaten. Im Vorort Potocari errichteten sie ihr Camp, in der leer stehenden Fabrik für Autobatterien.
1995, Anfang Juli, sollten knapp 400 Soldaten Tausenden Flüchtlingen Schutz bieten, gegen 15.000 serbische Militärs, die das Lager umzingelt hatten. Die Holländer übergaben die UN-Schutzzone kampflos. Busse für den Abtransport der Schutzbefohlenen standen bereit, darunter Kada Hotic:
"Ich habe zu meinem Mann gesagt, komm, gehen wir. Egal wohin, nur weg von hier. Auf dem Weg zu den Bussen waren so viele Menschen, dass man nicht mal fallen konnte. Wir hatten uns mühsam durchgedrängelt. Da drückte ein serbischer Tschetnik meinem Mann das Gewehr an den Hals. Vor Schreck konnte ich nichts sagen, schweigend stieg ich in den Bus und sah wie mein Mann abgeführt wurde. In seinem Rucksack trug er alle Familienfotos und Erinnerungen aus glücklichen Tagen - mit ihm verschwanden auch sie."
Mehr als 8000 muslimische Männer und Jungen, zwischen 13 und 78 Jahren, wurden von den serbischen Paramilitärs aussortiert und weggebracht. Die Frauen und Mädchen mussten in die Busse steigen:
Kada: "Es war sehr heiß an diesem Tag, wir hatten weder zu essen noch zu trinken und dazu die Angst aus dem Bus gezerrt und vergewaltigt zu werden. Zwei große Mädchen mit Kopftüchern redeten die ganze Fahrt über nicht. Hinterher stellte sich heraus, es waren zwei Jungen. Beide haben so überlebt."
Kada Hotic ging mit anderen Frauen aus Srebrenica auf die Straße. Sie hatten nur eine Frage: Wo sind unsere Männer? Kada bekam die Antwort schon 1998:
Kada: "Damals gab es noch keine DNA-Tests, aber es gab Organisationen die uns Frauen befragt haben, wie alt unsere Männer sind, wie groß und was sie anhatten, als wir sie zum letzten Mal gesehen haben. Mein Mann trug einen Trainingsanzug und in der Hosentasche seine Taschenuhr mit Springdeckel. Die haben sie mir gebracht. Sie hat einen Durchschuss und die Zeiger sind auf halb fünf stehengeblieben. Mein Mann wurde am Morgen abgeführt, er ist wohl am gleichen Tag um halb fünf erschossen worden."
Der Verein "Mütter von Srebrenica" kämpfte dafür, dass die mehr als 8000 Toten einen gemeinsamen Friedhof bekamen und zwar nicht irgendwo, sondern in Potocari, an dem Ort wo den Frauen ihre Männer, Söhne und Brüder für immer genommen wurden. Kada Hotic ließ dort ihren Mann, ihre beiden Brüder und schließlich, 2012, ihren Sohn begraben.
"Zwei Beinknochen von ihm wurden identifiziert, damit hatte ich meinen Sohn wieder. Er hat nun ein Grab mit seinem Namen."
Kada Hotic besucht regelmäßig die Gräber ihrer ermordeten Männer. Die gläubige Muslimin betet für uns die Worte, die am Eingang des Ehrenmals in Stein gehauen sind:
Kada: "Wir beten zum allmächtigen Gott. Möge Kummer zu Hoffnung werden. Möge Rache zu Gerechtigkeit werden. Mögen die Tränen der Mütter zu Gebeten werden - damit Srebrenica nie wieder passiert. Niemandem und nirgendwo!"
Kapitel 2: Sonja Karadzic
Es ist kein alltägliches Interview. Durch Tunnel, vorbei an einer tiefen Schlucht geht es in Richtung Pale – einer Kleinstadt 20 Kilometer östlich von Sarajevo. Von hier aus regierte während des Bosnien-Krieges der Serben-Führer Radovan Karadzic - der Psychiater gilt als Inspirator von Vertreibungen und Mord, der 44-monatigen Belagerung von Sarajevo mit 11.000 Toten – und auch des Massakers von Srebrenica.
Wir sind verabredet mit seiner Tochter. Wir treffen sie im Büro der SDS - der Partei, die auch ihr Vater geprägt hat. Die Ärztin ist Abgeordnete im Parlament der serbisch-bosnischen Teilrepublik. Gibt es ein Vermächtnis, das sie in Ehren hält ?
Sonja Karadzic: "Das Wichtigste für die SDS und warum sie Anfang der Neunzigerjahre zu einer Volksbewegung wurde, waren Schutz und Frieden für die Serben in diesem Gebiet. Im Wesentlichen gilt das noch heute. Niemand hat die Dinge geplant, die später geschehen sind."
In ihrem Partei-Büro erinnert nur eine Uhr mit seinem Konterfei an Radovan Karadzic, der in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt ist. Dieses Jahr wird ein Urteil erwartet. Die Uhr trägt eine kyrillische Aufschrift: "Die Zeit wird kommen".
Sie steht still. Sonja Karadzic war während des Krieges die Sprecherin ihres Vaters, des Präsidenten der bosnischen Serbenrepublik. Sie betrieb auch einen Propaganda-Sender. Und bis heute ist sie die Stimme ihres Vaters. Reue ? Keine Spur.
Karadzic: "Sehen Sie, meinen Vater und mich erschüttert all das, was passiert ist: Aber man kann uns nicht dafür verantwortlich machen. Kein Einzelner eines Volkes kann die Schuld tragen."
Dabei war ihr Vater Präsident der bosnischen Serbenrepublik und damit auch Oberbefehlshaber, wie die Anklageschrift vermerkt. Radovan Karadzic hat in Den Haag getönt, für seine angeblichen Verdienste müsse man ihm sogar einen Preis verleihen.
Seine Tochter glaubt, das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag sei ein Werkzeug der Nato - das Massaker von Srebrenica eine Inszenierung. Im ARD-Interview sagt die 48-Jährige Mutter von zwei Söhnen.
Karadzic: "Aufgrund der Beweise, die während des Prozesses vorgelegt wurden, bin ich mir dessen sicher. Sie wissen, dass Bill Clinton dem verstorbenen Alija Izetbegovic 1993 ein Angebot machte: Er solle 5000 Muslime in Srebrenica opfern, damit sie einen Grund haben die Serben zu bombardieren. Was in Srebrenica passiert ist, kann man nicht Völkermord nennen. Es passt nicht zu den Kriterien."
Das UN-Kriegsverbrechertribunal sah das anders.
Kapitel 3: Der Übersetzer der UN-Blauhelme
Das Industriegelände Potocari bei Srebrenica hat Hasan Nuhanovic unzählige Male überquert. Damals war er so stolz darauf, dass er hier arbeiten durfte – als Dolmetscher im Hauptquartier der niederländischen Blauhelmsoldaten. 27 Jahre alt war Hasan im Kriegssommer 1995.
Heute zuckt sein rechtes Augenlid unkontrolliert, wenn er sich erinnert: An die vielen verängstigten Menschen auf den Gelände und in den Hallen, halb verhungert und verdurstet. An die Hitze und den entsetzlichen Gestank. Auch seine Eltern und der jüngere Bruder waren hier. Hasan wähnte sie in Sicherheit vor den bosnisch-serbischen Truppen.
Hasan Nuhanovic: "Und dann stand ich plötzlich vor der Situation, dass sich sechs sogenannte Friedenshüter vor mir und meiner Familie aufbauten und sagten: Hasan übersetze Deinen Leuten, sie müssen das Gelände jetzt sofort verlassen."
Es ist der 12. Juli 1995. Die sogenannte "Schutzzone der Vereinten Nationen" ist gefallen. Die niederländischen Blauhelm-Soldaten sind in ihrem Hauptquartier umzingelt – mit ihnen tausende Muslime, die sich ihnen anvertraut hatten. Draußen vor dem Gelände steht Ratko Mladic, der berühmt-berüchtigte Armeechef der bosnischen Serben. Er wirbt um Vertrauen.
Seine Soldaten verteilen Süßigkeiten an die Kinder. Mladic verspricht den Menschen freien Abzug. Die Flüchtlinge müssten nur Ruhe bewahren: Frauen und Kinder zuerst – strikt getrennt von Söhnen, Ehemännern, Brüdern und Vätern.
Viele Männer ahnen, was das bedeuten kann. - Der Dolmetscher Hasan Nuhanovic versucht noch verzweifelt seine Vorgesetzten zu warnen. Aber Kommandant Tom Karremans ist nirgendwo zu sehen. Nuhanovic spricht daher mit dessen Stellvertreter, Major Robert Franken.
"Die Serben haben neun Männer getötet! Er sagte: 'Ich weiß nicht, von was Du sprichst. Und verbreite diesen Schwachsinn bloß nicht hier im Lager! Hörst Du: Verbreite diesen Schwachsinn nicht im Lager! Ich will nicht, dass die Menschen in Panik geraten.'"
Jahre später wird ein Richter in Den Haag bei einer Anhörung den stellvertretenden Blauhelm-Kommandanten, Major Franken, fragen, ob den niederländischen UN-Soldaten eigentlich klar war, was Mladic mit der Trennung von Frauen und Männern bezweckte.
Und dass die Niederländer, indem sie dies zuließen, die Männer von Srebrenica direkt an ihre Schlächter übergeben haben. Franken antwortet: "Das ist korrekt Sir, ich hatte diese Befürchtung."
"Don't forget Srebrenice" ("Vergeßt Srebrenica nicht") steht auf einer Hauswand in der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt Sarajevo.
"Don't forget Srebrenice" steht auf einer Hauswand in Sarajevo.© dpa / picture alliance / Matthias Schrader
Sie hatten also diese Befürchtungen. Aber bei Ratko Mladic kämpft Major Frankens Vorgesetzter, General Tom Karremans, ausschließlich ums eigene Überleben: "Ich bin Klavierspieler. Erschießt keinen Klavierspieler!"
Das verspricht Mladic und so übergeben die Niederländer ihre Schutzbefohlenen den serbischen Truppen. Frauen und Kinder, wie von Mladic gewünscht, getrennt von den Männern. Hasans Familie hätten sie als Angehörige eines Mitarbeiters nicht ausliefern müssen.
Nuhanovic: "Aber wissen Sie, was Major Franken damals zu mir gesagt hat? ‚Warum soll ich einer Person hier helfen, wenn ich den restlichen 6000 auch nicht helfen kann?' Das war tatsächlich eines seiner Argumente ..."
Beim Abzug der Niederländer ist Ratko Mladic auffallend gut gelaunt. Er bedankt sich ausdrücklich bei den Niederlanden. Übergibt Geschenke. "Ist das für meine Frau?" fragt Karremanns. Mladic meint, das könne er halten wie er wolle.
Dann trinken sie „auf das Leben und den Frieden". Schließlich nochmals der ausdrückliche Dank Mladics für "die Kooperation der Niederländer bei dieser Operation".
Nuhanovic: "Irgendwie ist es für mich leichter zu verstehen, dass die Serben meine Familie umgebracht haben. Denn das haben wir immer erwartet. Als zu verstehen wie es möglich ist, dass diese Herren aus dem demokratischen Westeuropa, die doch mit so hohen moralischen Ansprüchen gekommen sind, so etwas tun können. Und dann versuchen, alles unter den Teppich zu kehren."
Bereits im Dezember 2006 wurde Tom Karremanns, niederländischer General a. D. mit einem Orden für den "tapferen Einsatz" in Srebrenica ausgezeichnet.
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