1989/90

Der wahre Fall der Mauer

Trümmer der Geschichte - Teile der Betonmauer, Stacheldraht, Gitterzaun und Betonreste der Berliner Mauer liegen im Ortsteil Steinstücken bei Potsdam auf einem Gelände, aufgenommen im August 1990.
Trümmer der Geschichte - Teile der Berliner Mauer im Ortsteil Steinstücken bei Potsdam, aufgenommen 1990 © picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild
Von Wolf-Sören Treusch · 12.06.2015
Die Berliner Mauer hatte erst ein Loch, da verbreitete sich bereits die Rede vom "Mauerfall". Doch der Abriss der Grenzanlage begann erst sieben Monate nach dem berühmten Datum 9. November '89. Dass fast die ganze Mauer dabei verschwand, beklagen heute viele.
Reporterin: "Ungefähr zwei Meter von mir entfernt geht jetzt das erste Mauerstück dahin."
Morgens um zehn beginnen am 13. Juni 1990 die Abrissarbeiten. Langsam, aber bestimmt kippt ein Bagger das erste L-förmige Mauersegment in West-Berliner Richtung. Dann hebt ein Kran einen Teil der Hinterland-Mauer auf Ost-Berliner Gebiet aus seiner Verankerung und stellt es zur Seite.
Etwas unbeholfen kommentiert der Ost-Berliner Baustadtrat Eckhard Kraft den Durchbruch.
Kraft: "Dieses Bauwerk habe ich mit Wonne symbolisch hier den Abrissakt vorgenommen."
West-Berlins Bausenator Wolfgang Nagel erklärt, warum es mit dem endgültigen Abriss der Mauer genau hier, in der Bernauer Straße losgeht.
Nagel: "An keiner anderen Stelle in Berlin sind so viele Menschen an der Mauer gestorben wie eben hier an der Bernauer Straße."
Der Ort ist das Symbol der deutschen Teilung. Bis heute. Die Häuser gehörten zum Osten, der Bürgersteig zum Westen. In den ersten Tagen nach dem Mauerbau 1961 versuchten viele, den Sprung in den Westen zu schaffen. Manche vergeblich.
Immer mehr Mauersegmente werden am Vormittag des 13. Juni beiseite geräumt. Und obwohl sie an Mauerdurchbrüche dieser Art gewöhnt sind, ist der Jubel groß unter den Hunderten von Schaulustigen. Es fließen Sekt und Tränen.
Eine Bescheinigung über den "Originalabbau Bernauer Straße"
Frau: "Es ist herrlich, bloß man denkt an das alles, was dazwischen passiert ist. Die vielen Menschen, die umgekommen sind. Ja, ich habe für meine Bekannte, die wohnte früher hier drüben, und sie ist aus dem Fenster gesprungen, ins Sprungtuch, zuerst der Junge, dann sie, und dann bin hierher gefahren, hole ihr ein paar Steine, und die gebe ich ihr."
Auch Karl-Heinz Goldschmidt holt sich zwei Erinnerungsstücke ab. Ein paar Tage später, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hat. Er kommt mit dem Lkw.
Goldschmidt: "Ich habe zwei Mauerteile aus der Bernauer Straße mitgenommen, da war ich dann mit den Grenztruppen, die dort abgebaut haben. Ich habe extra noch eine Bescheinigung von denen bekommen: 'Das ist Originalabbau Bernauer Straße'. Und die habe ich heute noch. Die stehen auf meinem ehemaligen Betriebsgrundstück in Müncheberg. Ich hatte sie erst in meinem Privatgrundstück zu stehen, da waren aber Anwohner nicht sehr darüber erfreut und meinten, man kann sich so was nicht in den Garten stellen, wo Blut dran klebt."
Karl-Heinz Goldschmidt ist Technischer Leiter beim VEB Baukombinat Modernisierung in Berlin-Pankow, als am 9. November 1989 die Mauer fällt. Am Tag danach ruft der Ost-Berliner Magistrat die Baukombinate der Stadt auf, beim Eröffnen neuer Grenzübergänge mitzuhelfen. Karl-Heinz Goldschmidt meldet sich sofort. Am 13. November 1989 um 8 Uhr ist er dabei, als in der Berliner Wollankstraße die Mauer geöffnet wird.
Goldschmidt: "Die Elemente waren drei Meter hoch, die waren 1,20 Meter breit und hatten so 150 Kilo Stahlinhalt. Die mussten erstmal bewegt werden und waren auch nicht so handlich. Also man musste dort mit Seilen und zusätzlichen Haken arbeiten, um die erstmal wegzukriegen. Sie waren ja vom Bereich Osten unten noch einbetoniert. Ja, und dann haben wir den mit einem Krupphammer, den wir schon in unserer Firma hatten, freigeklopft und haben den dann weggezogen."
Handel mit Mauerresten wird zum Millionengeschäft
Am 29. Dezember 1989 beschließt die Übergangsregierung der DDR unter Hans Modrow, die Mauer komplett abzureißen. Eine zeitliche Vorgabe trifft sie nicht. Die Zahl der Mauersegmente in und um Berlin schätzt man auf 45.000. Dazu kommen 154 Kilometer Grenzzäune, 144 Kilometer Signal- und Sperrzäune und 87 Kilometer Sperrgräben.
Erste Rückbaumaßnahmen beginnen willkürlich und unkoordiniert. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion im Januar 1990 transportieren NVA-Pioniere 50 besonders schön bemalte Mauerteile aus dem Grenzgebiet zu Kreuzberg ab. Die DDR-Außenhandelsfirma Limex will sie vermarkten. Ein Millionengeschäft, wie sich später herausstellen wird. Fachleute gehen aber auch davon aus, dass viele der Verkaufserlöse in privaten Taschen gelandet sind.
Bewegung in den schleppend vorankommenden Abbau der Grenzanlagen bringt ein Brief, geschrieben am 27. April 1990 vom Chef der DDR-Grenztruppen, Generalmajor Dieter Teichmann, an den Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR, Rainer Eppelmann. Teichmann listet darin präzise auf, was alles abgebaut werden muss und dass die Arbeit in Berlin und an der gesamten innerdeutschen Grenze vier bis fünf Jahre dauern wird. Ein ideales Betätigungsfeld für die Pioniereinheiten der Grenztruppen. Damit, so Teichmann, 'würden für 800 Berufskader und 110 Zivilbeschäftigte Arbeitsplätze für die nächsten Jahre gesichert sein.' Minister Eppelmann kann sich an den Brief nicht erinnern, ist sich der damaligen Grundproblematik aber bewusst.
Eppelmann:"Deswegen ist ja eben unser Bemühen auch gewesen, zumindest einem relativ unbelasteten – was Stasi angeht –, einem unbelasteten Teil von Berufssoldaten und Offizieren der Nationalen Volksarmee eine neue Chance zu geben. Was macht ein Mensch, wenn er verzweifelt ist und keine Perspektive mehr sieht, dann wird er unberechenbar. Das sind 165.000 gewesen. Ich hatte genug Phantasie, mir vorzustellen, was da passieren würde, wenn davon bloß 15.000 mit der Kalaschnikow an der Hüfte durch die Straßen der sich wandelnden Deutschen Demokratischen Republik ziehen. Auch das musste verhindert werden."
Im Sommer 1990 nimmt der Abriss der Mauer Fahrt auf. In Berlin werden zwischen 13. Juni und 1. Juli statt der ursprünglich geplanten 39 mehr als hundert Ost-West-Verbindungen von den Grenzanlagen befreit und dem Verkehr zurückgegeben.
Klemke: "Ich vergleiche es immer mit der Situation eines Häftlings, der aus dem Zuchthaus entlassen ist: der möchte möglichst schnell seine Zuchthauskleidung loswerden, und so wollte man auch die Berliner Mauer loswerden."
Zeitungen und Hörfunk feiern jeden abgerissenen Abschnitt
Rainer Klemke war viele Jahre lang Museums- und Gedenkstättenreferent des Berliner Senats. Unter seiner Regie entstand auch das Gesamtkonzept Berliner Mauer. Teile der Mauer als Geschichtsdenkmal für die Nachwelt erhalten? 1990, sagt Rainer Klemke, war daran nicht zu denken.
Klemke: "Die politische Debatte lief so wie in der gesamten öffentlichen Meinung: 'Die Mauer muss weg.' Und die Politiker sahen gar keinen Grund daran, irgendwas zu ändern. Jede Berliner Zeitung und der Hörfunk feierten jede Straßenöffnung und jeden Abschnitt der Mauer, der abgerissen worden ist. Und die Mahnung von Willy Brandt, die ja sehr frühzeitig kam: 'Wir müssen auch sehen, dass wir ein Zeichen davon bewahren für die Zukunft', die blieb nur in den Hirnen von Denkmalschützern und einigen wenigen engagierten Bürgern, die ja dann letztendlich doch was erreichten, aber wesentlich weniger als uns lieb ist. Wir sehen auch an diesem Fall, dass das öffentliche Bewusstsein – ich kann mich davon auch nicht ausschließen – eben lange braucht, um den Wert von solchen historischen Situationen zu erkennen und dann auch für die Zukunft zu bewahren."
Goldschmidt: "Ja, deswegen habe ich ja meine zwei Stückchen mitgenommen."
Karl-Heinz Goldschmidt hat die historische Situation damals erkannt und zwei originale Mauerteile aus der Bernauer Straße gesichert.
Goldschmidt: "Und habe daran gedacht, dass ich vielleicht mal meinen Enkelkindern sagen kann: 'Ich habe die Mauer recycelt, und diese hässliche Mauer stand in Berlin und hat vielen Menschen den Weg abgeschnitten.'"
Im November 1990 werden die letzten innerstädtischen Mauerteile abmontiert
Ein Jahr nach der Maueröffnung ist vom Ring um West-Berlin fast nichts mehr übrig. Die Mauer selbst, der Kontrollstreifen dazwischen, die Zäune aus Streckmetallgitter, Scheinwerfer, Wachtürme, Durchfahrtssperren: fast alles weg. Im November 1990 werden die letzten innerstädtischen Mauerteile abmontiert. Sie landen auf zentralen Sammelplätzen.
Goldschmidt: "Puh, gar nicht wieder zu erkennen hier. Alles neu bebaut, hier waren Lagerflächen, bis dort hinten lag hier alles voll mit Mauerelementen, kann man sich nicht mehr vorstellen. Ja, jetzt ist es eine grüne Oase geworden hier."
Karl-Heinz Goldschmidt steht auf einem solchen Sammelplatz, einer großen, dreieckigen Freifläche zwischen den S-Bahn-Gleisen, an der Bezirksgrenze zwischen Wedding und Pankow. 1991 ist er Chef der Arbeitsgemeinschaft 'Recycling Grenzanlagen', das ist ein Zusammenschluss von drei Bauschuttfirmen aus Ost und West, die sich im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums um die Wiederverwertung der Berliner Mauer kümmern.
Goldschmidt:"Wir haben hier im März angefangen und sind dann im, ich glaube, Oktober muss es gewesen sein, hier wieder weg und haben circa 80.000 Tonnen gemacht."
Zerschreddert und zu Straßenbelag gemacht
Laut und schmutzig geht es damals zu auf dem Mauerfriedhof. Das sogenannte grüne Ungeheuer, ein Schlagwalzenbrecher von enormem Ausmaß, hilft beim Recyceln.
Goldschmidt: "Wir haben ja auch diesen Brecher speziell herstellen lassen für diese Mauerelemente, sodass wir komplett ein Mauerelement in diesen Brecher packen konnten."
25 Sekunden braucht der Brecher, um die 2,75 Tonnen Beton zu zermalmen. Dann wartete schon die nächste Maschine.
Goldschmidt: "Der erste war ja ein Schlagwalzenbrecher, der so ein Mauerteil insgesamt zerschreddert hat, da kam eine Körnung von 0-150 raus. Der hat auch großflächig das Eisen raus gezogen, und dann wurde es in einen zweiten Brecher verbracht, der das dann runter gebrochen hat auf 0-32, und dann kam das Fertigprodukt raus."
Granulat, Split und grauer Schotter: Baumaterial, mit dem anschließend Straßen und Autobahnen der neuen Republik gebaut werden. Abnehmer für die geschredderte Mauer finden sich reichlich, zudem erhält die Arbeitsgemeinschaft 'Recycling Grenzanlagen' einen Zuschuss vom Bundesverteidigungsministerium.
Goldschmidt:"Es war ja eine politische Entscheidung, und jeder wollte doch mit dieser Mauer nichts mehr zu tun haben. Ost sowie auch West nicht. Überall stand: 'Die Mauer muss weg. Koste es, was es wolle.' Ja, es war wirklich so: Man hat dort nicht lange rumgestritten. Es gab pro Kubikmeter eine Summe dazu vom Bund, und wir haben ja noch von dem Erlös des Fertigmaterials noch mal was dazu bekommen, sodass es sich eigentlich zum Schluss hat rechnen lassen. Konkret kann man heute sagen: Wir haben 25 D-Mark pro Kubikmeter dazu bekommen und haben das Material im Schnitt hier für 10 bis 15 D-Mark pro Tonne verkauft."
Ein Schwarzmarkt für Mauersegmente entsteht
Manches Mauerteil habe man auch als Ganzes verkauft, gibt Karl-Heinz Goldschmidt zu. Besonders die bunt bemalten seien begehrt gewesen. Dafür zahlten die Kunden noch immer bis zu 150 D-Mark pro Stück. Kein Vergleich allerdings zum Jahr nach dem Mauerfall: 1990 werden einzelne Segmente auf dem Schwarzmarkt für Summen bis zu 10.000 D-Mark gehandelt.
Gerhard Lindner: "Ja, wir haben hier alles noch original, seitdem die Mauer 89 gefallen ist, es gibt immer noch einen Vorrat von so ungefähr 15 Jahren."
Gerhard Lindner verkauft Mauer-Souvenirs. Seit 25 Jahren. Am Brandenburger Tor betreibt er einen kleinen Kiosk. Richtig gut gehen die Mauer-Postkarten, sagt er. Ein Mini-Mauerstück, das in einer kleinen Dose liegt, die in die Ansichtskarte eingelassen ist.
Lindner: "… dann gibt es Mauer-Tütchen, und dann gibt es sogar Mauer-Fläschchen, wo die Mauerkrümel dann auch noch reinkommen.“
Die größeren Bruchstücke der Mauer verkauft er mit Echtheitszertifikat. 'A piece of German history' ist darauf zu lesen. Und wie gesagt: Der Vorrat ist groß.
Lindner: "Mauerelemente sind eingelagert, richtig feste Mauerelemente. 100 Prozent, ich schwöre es, sind das Originalteile, und auch original bemalt, die einen standen Checkpoint Charlie, die anderen standen… War ja sehr viele Kilometer lang, und wo jetzt genau, von welcher Straße das war, weiß ich natürlich auch nicht mehr."
"Ich war froh, dass das weg war. Definitiv"
Mauersteine als Souvenir für die Ewigkeit? Manchem Berliner ist diese Vorstellung ein Gräuel.
Kausmann: "Ich war froh, dass das weg war. Definitiv. Ich hätte auch, wegen des speziell für mich negativ belasteten Denkens an diese Mauer, ich hätte kein Vergnügen daran gehabt. Weg, okay. Je weniger desto besser."
Ben Wagin: "Man muss ja davon ausgehen, dass es nur ganz wenige sind, die gezielt hierher kommen."
Schräg gegenüber vom Reichstag hat der Künstler Ben Wagin einen Gedenkort für die Toten an der Berliner Mauer eingerichtet. "Parlament der Bäume" nennt er ihn. Er liegt etwas versteckt zwischen dem Gebäude der Bundespressekonferenz und der Bundestagsbibliothek im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Zu DDR-Zeiten war hier der Todesstreifen. Die Entstehungsgeschichte des Gedenkortes steht beispielhaft für den hier und da etwas ungeordneten Umgang mit den Resten der Berliner Mauer.
Im Frühjahr 1990 schwatzt Ben Wagin dem obersten Grenztruppenoffizier der DDR, Generalmajor Teichmann, das Gelände ab.
Wagin: "Nicht so, dass ich dem das abgequatscht habe, ich habe sogar eine Gebühr gezahlt für die Baugenehmigung. Ich habe 275 damals für die Baugenehmigung zahlen müssen, für die Fläche, die ja jetzt nur ein Teil ist, das ist ja nur noch ein Drittel von der Gesamtheit. Als Gegenleistung habe ich dann von Ost und West 30 Lindenbäume bekommen."
Mit dem Gelände erwirbt Ben Wagin auch mehrere Dutzend Segmente der originalen Hinterlandmauer und bewahrt sie damit vor dem Abriss.
Die Rufe, die wenigen Originalreste zu schützen, werden lauter
Heute ist der Ort ein Unikum: Nirgendwo sonst im Regierungsviertel stehen noch Originalmauerstücke. Dennoch ist der Gedenkort in Gefahr: Das Gelände gehört zur Baulandreserve des Bundestages, nach den nächsten Wahlen 2017 kann es jederzeit zur Bebauung freigegeben werden. Der frühere Berliner Gedenkstättenreferent Rainer Klemke hofft, dass es so weit nicht kommt.
Klemke:"Praktisch müsste der Bundestag einen Beschluss fassen, dass er auf dieses Gelände verzichtet. Nur dann kann das Land Berlin diesen Bereich unter Denkmalschutz stellen, was jetzt durch den Hauptstadtvertrag ausgeschlossen ist, und dann kann man auf Dauer dieses Gelände sichern. Egal in welcher Form es künftig betrieben wird, die Stiftung Berliner Mauer steht bereit, es sofort zu übernehmen und zu bespielen. Aber Voraussetzung ist natürlich, dass nach Ablauf des Moratoriums, was 2017 ablaufen wird, vielleicht ein neues Moratorium kommt oder wenn bis dahin ein Bundestagsbeschluss vorliegt."
Die Rufe, die wenigen Originalreste der Berliner Mauer zu schützen, werden lauter. Vor allem, seit Berlin die Mauer auch touristisch vermarktet. Die East Side Gallery ist ein gutes Beispiel dafür. Am 13. Juni 1990, als der systematische Abriss der Mauer beginnt, denkt darüber kaum jemand nach. Die Grenztruppen der DDR – ab dem 3. Oktober auch Hunderte von Bundeswehrsoldaten – arbeiten so gründlich, dass die Erinnerungen an die 155 Kilometer lange Grenzanlage bald verblassen.
Wolfgang Paul: "Wenn ich also die Bilder hier sehe mit dem Turm, wo ich da ruff geklettert bin, muss det …, war det Sommer? Das muss Sommer, weil: Es war alles richtig grün, man konnte ja nichts mehr sehen."
Nachdenklich betrachtet Wolfgang Paul alte Fotos aus dem Jahr 1990. Mit seiner Frau wohnt er im Süden Berlins, im Stadtteil Lichterfelde, direkt an der Grenze zu Brandenburg. Früher war gleich hinterm Gartenzaun die Mauer. Nicht aus Beton, sondern ein drei Meter hoher Sperrzaun aus Streckmetallgitter.
Paul: "Na, die sind hier mit großen Maschinen gekommen, haben die Metallgitterzäune rausgenommen, die Pfähle rausgezogen, haben den Turm, den haben sie umgekippt. Bumms, da lag der da und haben sie abgefahren, und dann war die ganze Sache fertig. Und die ganze Strecke, weeß ich nicht, mehrere Wochen wird es gedauert haben, aber ich kann Ihnen det nicht sagen, weiß ich nicht."
Andere Erinnerungen haben sich eingebrannt: zum Beispiel an ein Gespräch, dass er 1991 bei einer Geburtstagsfeier im sächsischen Freyberg mit einem ihm bis dahin unbekannten Mann führte.
Paul: "Es stellte sich heraus, dass dieser Mann – der Schwager von unserem Freund – anderthalb Jahre auf diesem Turm gesessen hat. Im ersten Moment, als der das so ganz normal erzählte, war ich doch irgendwo merkwürdig betroffen, dass hier ein Feind, der möglicherweise geschossen hätte, plötzlich neben einem sitzt. Na ja."
Wieder Frontenbildung am Mauerstreifen
Heute hat der Feind einen neuen Namen: die Pappel. Seit Jahren kämpft das Ehepaar gegen den zunehmenden Wildwuchs auf dem ehemaligen Mauerstreifen.
Paul: "Das sind die Pappelwurzeln. Da hinten, da. Booh. Da auch, und bis hin zum Kirschbaum liegen die hier unterm Rasen, an der Tanne vorbei und treiben dann kräftig aus. Ich habe nachher Bilder, da sind sie größer als meine Frau."
Viele Meter weit haben sich die Wurzeln der Pappeln in den Garten der Pauls gebohrt. Als der Metallgitterzaun noch stand, gab es das Problem nicht. Die Grenzpatrouillen mähten den Kontrollstreifen regelmäßig und hielten ihn frei von Spontanvegetation. Das war vor 25 Jahren. Mittlerweile stehen direkt vor dem Grundstück des Ehepaars sechs Pappeln, alle etwa zwanzig Meter hoch. Sie treiben nicht nur kräftig aus, sie wachsen auch und verschatten das Grundstück.
Ein Nachbarschaftsstreit ist entbrannt: Wolfgang Paul will, dass die Pappeln gefällt werden. Die Stadt Teltow, auf deren Grundstück sie stehen, fühlt sich nicht zuständig.
Paul: "Die Teltower sind nicht bereit, mit uns als Grundstücksnachbarn zu reden. Da mauern die. Wir sind für die immer noch, weeß ick, Kapitalisten oder West-Berliner Agenten oder weeß ick wat. Schlimm."
Seit vier Jahren kämpft Wolfgang Paul um sein Recht. In erster Instanz hat das Amtsgericht Potsdam seine Klage abgewiesen. Jetzt hofft er, mithilfe eines Mediators sich gütlich einigen zu können.
Der Fall Paul ist kein Einzelfall. Insgesamt 71 Pappeln stehen in direkter Nachbarschaft auf dem ehemaligen Mauerstreifen. Sollte die Stadt Teltow die ersten sechs Pappeln beseitigen, würden vielleicht weitere Anrainer auf die gleiche Idee kommen. Und das könnte teuer werden für die Stadt. Und führt zur überraschenden Erkenntnis: Der freigeräumte Mauerstreifen bietet Konfliktpotenzial, mit dem vor 25 Jahren, als der Abriss der Mauer begann, bestimmt niemand gerechnet hat.
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