"1984" reloaded

Xbox ist "erst in zweiter Linie ein Überwachungsding"

Marcus Richter im Gespräch mit Ulrike Timm · 26.11.2013
Die mit einer Kamera bestückte Spielekonsole sei "nicht mit einem repressiven Hintergedanken in unser Wohnzimmer gestellt worden", glaubt Netzexperte Marcus Richter. Er sieht die Xbox als Unterhaltungselektronik.
Ulrike Timm: Eine Million mal verkaufte Microsoft seine Xbox am ersten Tag, an dem die Spielkonsole zu haben war. Weltweit wurde das Gerät mit großen Partys begrüßt, auch in Deutschland, und wer heute so ein Ding erwerben will, der hört meistens "leider ausverkauft". Die neue Konsole kann eigentlich alles, hören, sprechen, filmen und speichern. Speichern sowieso. Datenschützer wie Marketingfachleute bescheinigen der Xbox beide faszinierende Möglichkeiten mit großer Bequemlichkeit, nur sehen beide Seiten die Konsequenzen dieser vielfältigen Möglichkeiten naturgemäß sehr verschieden. Wir wollen mit unserem Netzexperten Marcus Richter über die Xbox sprechen, über ein technisches Wunderwerk, das uns staunen und womöglich auch gruseln macht. Schönen guten Morgen, Herr Richter.
Marcus Richter: Hallo und guten Morgen.
Timm: Sie hört, sie sieht, sie weiß, wie viele Menschen im Raum sind. Sie erfährt, wie einem die Filme gefallen, die man sieht, wie man darauf reagiert. Das Ding kann man sich eigentlich glatt zum elektronischen Hausfreund machen. Welche wundersamen Fähigkeiten hat sie noch?
Richter: Na ja, man muss es trennen. Es gibt einerseits die technischen Möglichkeiten und dann das, was damit gemacht wird. Und die technische Möglichkeit, also dieses Kernstück dessen, dass die Xbox sehen und hören kann, ist die Kinect 2, also eine Kamera, die mitgeliefert wird für die Konsole. Die macht ein hochaufgelöstes Bild, das ist HD, also so wie ein aktueller Fernseher quasi aussieht, so scharf kann die filmen. Macht außerdem Infrarotbilder, kann also im Dunkeln sehen, weil ja oft im Dunkeln gespielt wird, und erstellt auch mithilfe einer zweiten Kamera ein 3D-Abbild eines Raumes, das aber so fein aufgelöst ist, dass man Leute daran unterscheiden kann.
Also, es kann die Finger einer Hand erkennen und wie die Hand gerade sich bewegt – all das kann die Kamera sozusagen ganz genau erfassen und verarbeiten. Und was will man damit machen? Also einerseits tatsächlich Leute erkennen, das heißt, bis zu sechs unterschiedliche Personen kann die Xbox unterscheiden, und kann auch Gesichtsausdrücke unterscheiden, das soll halt später noch eine Rolle spielen. Und es gibt sogar Berichte, dass die Herzschlagrate da erkannt wird. Aber ob das wirklich in der Praxis anwendbar ist, das ist noch unklar.
Timm: Na toll. Mir wird ein bisschen kalt. Sie sieht sogar im Dunkeln. Ich zumindest möchte im Dunkeln nicht gesehen werden. Nun heißt es immer so schön, wer das alles nicht will, der kann ja auf den Aus-Knopf drücken. Aber wenn ich das nicht will, den Aus-Knopf – abgesehen davon, dass man wahrscheinlich ein technisches Abi braucht, um den zu installieren –, der war eigentlich gar nicht vorgesehen. Stimmt das?
Richter: Man muss einfach sagen, einen Aus-Knopf gibt es tatsächlich gar nicht, sondern es gibt die Möglichkeit, in der Konsole, also in der Software der Konsole "aus" zu sagen, also der Konsole zu sagen, dass sie ausmachen soll. Wenn man aber wirklich sichergehen will, dann muss man einfach die Kamera ausstecken. Das geht aber relativ einfach, braucht man kein Abitur für. Und das war aber tatsächlich am Anfang nicht vorgesehen. Weil die Kinect halt viele Sprachbefehle verarbeiten kann, war halt vorgesehen, dass die halt immer da ist und auch immer an ist, damit der Benutzer ins Zimmer kommen und sagen kann: Xbox, jetzt soll's losgehen, und dann wird sofort reagiert. Also die Idee, oder so wurde es zumindest verkauft, war die einer ganz einfachen Konsole, die immer hinhört, wann man sie benutzen will. Aber das hat dann doch für Aufregung gesorgt.
"In Europa war der Aufschrei viel größer als in den USA"
Timm: Das heißt, die Tatsache, dass man eventuell doch für sich privat bleiben will und den elektronischen Hausfreund auch mal abschalten, die musste man erst durchsetzen?
Richter: Die musste erst durchgesetzt werden. Das ist vor allem – also in Europa war der Aufschrei viel größer als in den USA, und es war auch sehr interessant, auf der Gamescom, der Spielemesse dieses Jahr, war ich bei einer Präsentation von der Xbox, und da war ein Entwickler von der Kinect, der war so: Ja ja, man kann das ausschalten, aber das würde ja doch sowieso keine machen. Also das ist tatsächlich nicht so inhärent, dass Leute Privatsphäre wollen.
Timm: Das will ja sowieso keiner machen – da möchte ich noch mal später wirklich drauf einhaken. Eine Million Käufer, das ist wirklich erschlagend, und andererseits fragt man sich: Wissen die, worauf sie sich eingelassen haben. Aber lassen Sie uns erst mal klären, was macht Microsoft mit den Daten, die die Xbox ja frei Wohnzimmer liefert?
Richter: Man muss auch da erst mal sagen, es gibt einen Unterschied zwischen Daten, die die Xbox verarbeitet und Daten, die die Xbox tatsächlich an Microsoft liefert. Und eine Sache, die man schon unter Benutzerfreundlichkeit auch verbuchen kann, ist halt diese Sprachsteuerung. Also, es ist zumindest so gedacht, dass man die Konsole halt steuern kann, ohne einen Controller in die Hand nehmen zu müssen. In der Praxis funktioniert das nicht so gut, aber es war zumindest die Idee.
Dann ist es auch so, dass die Konsole erkennen kann, wie viel Spaß man an einem Spiel hat, das ist zumindest so Zukunftsmusik, dass man das machen kann. Aber es geht natürlich auch, da gibt es auch schon Patente für, darum, zum Beispiel zu erkennen, ob ein bestimmtes Produkt gerade im Bild ist, und den Spieler möglicherweise zu belohnen, wenn Getränkemarkedose XY da gerade in die Kamera gehalten wird. All das ist da so ein bisschen im Hintergrund als Idee mit dabei.
Timm: Also letztlich doch Marketing und Werbung. Geniale Strategie, die einen auch sehr unterläuft als Benutzer.
Richter: Also, ich tue mich immer schwer damit, sozusagen eine generelle und ausschließliche böse Absicht zu unterstellen, aber das ist sicherlich ein wesentlicher Teil dessen, warum man so was macht und wie man vielleicht auch damit Geld verdienen kann in Zukunft.
Timm: Nun gab es mal den berühmten Roman von George Orwell, "1984", den gibt es immer noch, klar, und da gibt es so ein fieses, kleines, feines Ding, den Televisor, der Menschen auskundschaftet. Gibt es jetzt dieses feine, fiese Ding mit der Xbox wirklich?
Richter: Möchte ich auch zwei Antworten drauf geben: also technisch ja. Wenn man sich das anguckt, was der Televisor in dem Buch konnte, der kann sozusagen hören, was im Raum passiert, der kann es auch sehen, der kann sich auch reinschalten. Das ist auch alles denkbar mit der Kinect 2 von der Xbox One, aber inhaltlich würde ich da doch noch einen Unterschied ziehen, denn es ist – auch, wenn es für Werbung und so was gebraucht werden soll, doch noch Unterhaltungselektronik, also es ist nicht mit einem repressiven Hintergedanken in unser Wohnzimmer gestellt worden, sondern es ist die Ausreizung einer neuen Technologie, bei der meinem Empfinden nach ein bisschen zu wenig drüber nachgedacht wurde, wie uns das beeinflussen kann. Oder beziehungsweise, es wurde billigend in Kauf genommen, dass es diese Effekte auch gibt.
Timm: Da habe ich so ein bisschen Zweifel, dass das ohne jeden Hintergedanken gemacht wurde. Der Techniker ist mit Sicherheit ein Spielkind. Der versucht, auszureizen, was geht. Der Marketingmensch dahinter ist mit Sicherheit kein Spielkind und weiß genau, was er da ausreizt.
Richter: Also wie gesagt, nicht ohne Hintergedanken, aber nicht ausschließlich mit dem Hintergedanken.
Timm: Okay. Wir sprechen mit Markus Richter über die neue Xbox, die Sie sich jetzt ins Wohnzimmer stellen können oder eben auch nicht. Und für Millionen Käufer scheint der Zauber der Möglichkeit so anziehend, dass sie diesen Aspekt, die Xbox untergräbt letztlich auch im Standby-Modus letztlich meine Privatheit ... Wie schafft das so ein Ding, und auch der dahinter stehende Konzern eigentlich, so viel Faszination zu erzeugen?
Richter: Man muss das, glaube ich – das ist eine Perspektivfrage, wie man das sieht. Also wenn man sich gar nicht mit Spielen beschäftigt, dann sieht man, glaube ich, jetzt die Xbox one, wenn man das so, wenn man hört, was wir auch gerade hier erzählen, vielleicht als, um Gottes willen, als dieses Überwachungsding. Man muss aber auch sehen, dass das technische Medium Spielekonsole seit 1975 auf dem Markt ist. Das heißt, wir haben mittlerweile zweieinhalb Generationen, die selber schon Kinder haben, für die die Spielekonsole ein genauso selbstverständliches Unterhaltungsmedium ist wie ein Fernseher. Und die sehen dann natürlich in der neuen Konsole in erster Linie ein Spielgerät und erst in zweiter Linie ein Überwachungsding, das möglicherweise Konsequenzen haben könnte. Und dann …
Timm: Also doch eine Generationenfrage, denn vor 20 Jahren hat man sich ja noch überlegt, ob man den Volkszähler an der Haustür abwimmeln sollte, ob man ihn gleich weg schickt – und der wollte bloß wissen, wie viele Leute dort wohnen. Und dieses kleine Ding erkennt, wie viele Leute man eingeladen hat. Also, ich meine, das ist schon eine andere Welt.
"Allgemeine Überforderung mit dem Thema Privatsphäre"
Richter: Na ja, ich glaube tatsächlich, dass das sozusagen, dass da die allgemeine Überforderung mit dem Thema Privatsphäre zum Tragen kommt. Weil, wenn man sich das zum Beispiel anguckt, Smartphones oder Smart TVs, die haben ja auch Kameras. Die haben auch Mikrofone, die im Prinzip ständig an sein könnten, und wir kriegen das gar nicht mit. Aber es beschäftigt sich keiner damit, weil die so sehr zum Lebensmittelpunkt geworden sind, dass man sich denkt, na ja, also möglicherweise gibt es das Problem, aber so genau will ich mich damit nicht beschäftigen. Und genau diese selbe Sache ist jetzt auch bei der Spielekonsole. Viele Leute sehen halt, da ist eine neue Spielekonsole, die will ich haben, und dieses Privatsphäre-Ding, das ist halt so, da machen sich Leute Gedanken drum, aber mich persönlich betrifft das ja nicht. Das ist so das allgemeine Problem.
Timm: Aber reicht das als Grund "es gehört jetzt zum Leben"? Ich meine, eine Badewanne oder ein Herd gehört auch zum Leben, und trotzdem, es hat mich immer wieder erstaunt: Die NSA-Spionage zum Beispiel, es wurde berichtet, berichtet, berichtet, aber es war kein allgegenwärtiges Thema, es gab keine wirklich großen Demonstrationen, es gab auch kein allgemeines Diskutieren über Freiheit und Privatheit, bis wir erfuhren, dass Angela Merkels Handy abgehört wurde. Dann war es plötzlich ein Thema.
Jetzt gibt es diese Box, die uns ja gar nicht heimlich abhören muss. Sie wird ja so eingestellt, sie liefert die Daten ganz offen weiter. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass das letztlich, jenseits prominenter Datenschützer, nicht viel stärker für Wirbel sorgt, dass ich, die jetzt sagt "das kommt mir nicht ins Haus", mich fast schon ein bisschen wie so ein moralinsaurer Miesepeter fühlen kann?
Richter: Man muss es ja gar nicht so negativ sehen, weil tatsächlich, und das haben wir ja am Anfang schon erzählt, ist es ja so, dass der öffentliche Druck dazu geführt hat, dass die Kinect tatsächlich ausschaltbar ist. Und das ist ja schon, könnte man ein bisschen optimistisch ein kleiner Erfolg sagen. Generell halte ich, wie gesagt, das für ein großes Problem bei der ganzen Privatsphärendiskussion, dass es für viele Menschen nicht greifbar ist, was der Effekt ist, und dass sie es deswegen eher so wegignorieren, weil ein negatives Ergebnis kann gar nicht so vorhergesehen werden. Was betrifft es mich persönlich? Ja, die Kanzlerin, die ist wichtig, aber ich persönlich, wenn ich überwacht werde, das ist nicht so schlimm. Das ist eine vorherrschende Meinung, und die ist halt auch bei diesem Thema nicht anders.
Timm: Marcus Richter, das Wort wegignorieren, das klaue ich Ihnen irgendwann mal, und wir halten fest: Man kann sie auch ausschalten, auch wenn man wahrscheinlich erst lernen muss, wie es geht. Die neue Xbox von Microsoft, der Verkaufserfolg ist ihr sicher. Die Strategie dahinter, damit sollte man sich womöglich mal doch etwas ausführlicher befassen. Das haben wir eben getan, gemeinsam mit Marcus Richter.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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