1965

Deutschland - 20 Jahre nach dem Krieg

Flagge Deutschland
1965 - ein deutsches Jahr © picture alliance / ZB / Jens Kalaene
Ann-Kathrin Büüsker · 19.08.2015
Freddy Quinn schimpft auf "Gammler", die Rolling Stones erobern Berlin und der Judenhass hat noch immer viele Gesichter. Deutschland im Jahr 1965 - ein Stimmungsbild.
"Verehrte Hörerinnen und Hörer. Zwanzig Jahre sind seit jenem 8. Mai 1945 vergangen."
Ludwig Erhard, der Bundeskanzler. Was 20 Jahre zuvor zu Ende gegangen war, ist zum Jahrestag notgedrungen ein Thema in deutschen Landen. Theo Sommer, der spätere Chefredakteur, vermisst in der "Zeit", dass die Niederlage nicht als gerecht und notwendig wahrgenommen wird:
"Stattdessen regierte vielerorts das weinerliche Selbstmitleid jener, die vergessen möchten, dass unser Volk einen Krieg verloren hat, und die sich an der Seite der Westmächte schon so lange als nachträgliche Gastsieger fühlen, dass sie wähnen, die Geschichte um die Zeche der Jahre 1933 bis 1945 prellen zu können."
Die Deutschen - Zechpreller der Geschichte. Während die Erinnerung an den Krieg in den Köpfen der Erwachsenen fest haftet, wird 1965 die erste Generation langsam erwachsen, die nach dem Krieg geboren wurde. Ihre Vorstellung vom Leben verändert sich.
"Fünf junge Männer, die die Haare länger tragen als Mädchen und eine erbärmlich einfallslose primitive Musik zum Besten geben", schreibt die "FAZ" voller Verachtung vor einem Konzert der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne. 22.000 junge Zuschauer sind außer Rand und Band. Das Konzert endet in einer Schlacht zwischen Fans und Polizisten. Ein Skandal.
Beatmusik, aufkeimende Hippiekultur - ein Angriff auf das Selbstbild des Deutschen. Unbescholten, sittsam, tugendhaft soll er sein.
Peggy Marchs Lied "Mit 17 hat man noch Träume" wird zum Schlager des Jahres gewählt. Mit 17 - da ist man nach dem Krieg geboren, da klebt nicht der Lehm der Geschichte an den Stiefeln. 1965 mit 17: So unbelastet möchte man ins Leben gehen können. Aber die Älteren haben halt ihre Geschichte.
"Auschwitz wird ein Menetekel bleiben"
Als die Bundesrepublik Deutschland und Israel 1965 diplomatische Beziehungen aufnehmen, wird Rolf Pauls erster deutscher Botschafter in Tel Aviv - ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier im Russlandfeldzug. Als er am Flughafen Ben Gurion eintrifft, fliegen Steine gegen ihn, es gibt tagelange Proteste. Und in Deutschland flammt nach erneuten Hakenkreuzschmierereien die Debatte über den Umgang mit Juden wieder auf. In der "Zeit" kommentiert Dietrich Strothmann:
"Abneigung gegen die Juden und Judenhass haben bei uns viele Gesichter. Und solange es noch Lehrer gibt, die nicht den Mut aufbringen, ihren Schülern zu erklären, was damals geschah, solange sich Väter weigern, ihren Söhnen Rede und Antwort zu stehen, solange in der Öffentlichkeit antisemitische Pamphlete vertrieben werden können - solange wird Auschwitz ein Menetekel bleiben."
"Wir" singt derweil Freddy Quinn. Eine Kampfansage an die so genannten Gammler, die in den Städten herumlungern und die Normalbürger in Rage bringen.
"Meine Privatüberzeugung ist weiter nichts, als dass ich ganz einfach vom ganz Primitiven her gesehen lediglich faul bin und ich interessier mich leider nur für Literatur und male nebenbei."
"Was sind Sie, wovon leben sie eigentlich?"
"Und wenn die jungen Leute so viel Zeit haben, sollen sie arbeiten gehen."
"Alle ins Arbeitshaus sollen sie sie schicken."
"Einen radikaleren Vorschlag, ich hab gesagt, wenn das mein Sohn wäre, den würd ich totschlagen."
Wir und Ihr – eine deutsche Sicht auf die Welt. Aber die ändert sich. Die Langhaarigen haben 1965 noch vergleichsweise kurze Haare. Aber sie werden immer länger. Und die Zweifel an der tugendhaften Wir-Gesellschaft immer lauter.