1945 und 1989

Gründungsmythos eines wiedervereinigten Deutschlands

Eine schwarz-rot-goldene Fahne an einem Rathaus
Eine schwarz-rot-goldene Fahne an einem Rathaus © picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Von Jürgen Rüttgers · 26.05.2015
Nicht '45 und auch nicht '49, sondern '89: Erst mit der Wiedervereinigung in einem ebenfalls vereinten Europa hat sich Deutschland einen demokratischen Gründungsmythos geschaffen, meint Jürgen Rüttgers.
"Im Anfang war Adenauer." Dieser Satz beschreibt in einfacher Klarheit das, was Deutschen durch den Kopf geht, wenn sie an den demokratischen Neuanfang nach Krieg und Nazi-Barbarei vor 70 Jahren denken. So tief hat sich das Bild des "Alten" in das kollektive Gedächtnis eingeprägt, dass bei Umfragen nach dem größten Deutschen noch heute Konrad Adenauer an der Spitze liegt.
Der Wiederaufbau des zerstörten Landes, die Integration von Millionen Flüchtlingen, das neue Grundgesetz und die Einführung der D-Mark, die soziale Marktwirtschaft, der Rechtsstaat, die Westbindung, die Aussöhnung mit Israel und die deutsch-französische Freundschaft waren revolutionäre Neuanfänge und damit ein Bruch mit der Politik und den Mythen von Kaiserreich und Drittem Reich.
Auf der Suche nach einem Gründungsmythos
Dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Geschichte angenommen hat, die für Millionen Ermordete und Verfolgte so leidvoll war, dass sie den Einsatz für die Menschenrechte und das Existenzrecht Israels sowie die Vereinigung Europas zum Teil ihrer Staatsräson erklärt hat, wird überall auf der Welt mit großer Hochachtung gewürdigt.
Alle Versuche, daneben einen Gründungsmythos zu entwickeln, erwiesen sich aber als nicht tragfähig: Sowohl der Vorschlag von Dolf Sternberger, die Bundesrepublik auf einen "Verfassungspatriotismus" zu gründen, als auch der Versuch von Herfried Münkler, "Währungsreform und Wirtschaftswunder" nach dem Krieg zum Mythos zu erklären.
Das Gleiche gilt für die "diskurstheoretischen Interpretationen" des Verfassungspatriotismus durch Jürgen Habermas. Auch die eher ridiküle Idee, das Jahr 1968 als zweite Staatsgründung der Bundesrepublik zu bezeichnen, konnte sich nicht durchsetzen. Der alte deutsche Versuch, die eigenen biografischen Erlebnisse zu überhöhen, war in allen Fällen überdeutlich.
Weil aber die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit kein datierbares Ereignis ist, sondern dauernde Aufgabe war, ist und bleibt, mussten erst Jahre vergehen - von der "Stunde Null" 1945 bis zur "Wende" 1989 -, um den Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschlands herauszubilden.
Die zwei Seiten der Medaille
Weil Adenauers revolutionäre Neuverortung des besiegten Deutschlands in Europa und im Westen von allen Bundesregierungen bis zur Wiedervereinigung getragen und fortentwickelt sowie durch freie Wahlen immer wieder demokratisch legitimiert wurde, konnten die osteuropäischen Revolutionen der Solidarność in Polen, der Charta 77 in der Tschechoslowakei, der Menschenrechtsketten in den baltischen Ländern und der Öffnung des Eisernen Vorhangs durch die Ungarn sowie den vielen Menschen, die mit Kerzen in den Händen die Mauer zum Einsturz brachten, Deutschlands Einheit in Freiheit ermöglichen und gleichzeitig Deutschland in das Vereinte Europa integrieren.
Insoweit sind die Befreiung Deutschlands von der Nazi-Diktatur und der demokratische Neubeginn zusammen mit der Wiedervereinigung zwei Seiten einer Medaille. Sie finden ihre Vollendung in der Schaffung eines Vereinten Europas. Deshalb bleiben der Einsatz für die universalen Menschenrechte, das Vereinte Europa ebenso wie das Existenzrecht Israels eine unverzichtbare Aufgabe für Deutschland.
Jürgen Rüttgers, Jahrgang 1951, studierte Geschichte und Rechtswissenschaft in Köln. Er war Bundestagsabgeordneter, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Landesvorsitzender der CDU und Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens. Derzeit arbeitet er als Rechtsanwalt in Düsseldorf.
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