150 Jahre Neue Synagoge Berlin

Ausdruck eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins

Von Carsten Dippel · 09.09.2016
Vor 150 Jahren wurde die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße von Berlin eingeweiht. Kaum ein anderer Bau trägt die Spuren und Brüche der wechselvollen jüdischen Geschichte so unvermittelt in sich.
"Tuet auf die Pforten, dass einziehe ein gerechtes Volk, das bewahret die Treue."
Mit goldenen, hebräischen Lettern schmückte die jüdische Gemeinde in Berlin voller Stolz das Eingangsportal ihrer neuen Synagoge, ein Prachtbau, wie ihn Europa noch nicht gesehen hatte. Es war ein angenehmer Spätsommertag, dieser 5. September 1866. Tausende strömten zur Einweihung in die Oranienburger Straße, Pferdefuhrwerke, die Herren mit Zylinder. Die Neue Synagoge war Ausdruck eines neuen jüdischen Selbstbewusstseins. In ihrem maurischen Stil knüpfte sie ganz bewusst an das Goldene Zeitalter in Spanien an.
Gesa Ederberg: "Die wunderschöne große Fassade und die goldene Kuppel sind natürlich auch ein Stück Zeichen einer enttäuschten Hoffnung, weil man damals, als man das so baute, wirklich dachte, wir sind angekommen, wir sind hier zu Hause. Schaut mal, wir brauchen uns nicht mehr im Hinterhof verstecken, wir können an die Straßenfront, unsere Kuppel darf groß und sichtbar sein und doch kurz danach, keine hundert Jahre später kam dann die große Katastrophe. Und das ist schon was, was schmerzt. Also auch, wenn man zum Gottesdienst geht und das Treppenhaus lässt ja sehr bewusst in der Rekonstruktion die Spuren der Zerstörung sichtbar, das ist schon nicht einfach."

Neue Synagoge steht für eine Geschichte vieler Bruchlinien

Heute leuchtet die goldene Kuppel der Neuen Synagoge wieder weithin. Sie erhebt sich in alter Pracht über das orientalisierte Gemäuer ihres Architekten Eduard Knoblauch. Sie ist ein Wahrzeichen Berlins. Und doch steht diese Neue Synagoge in der Oranienburger Straße als Stiftung und "Centrum Judaicum", mit Museum, Forschungsinstitut und Archiv, für eine Geschichte der vielen Bruchlinien, sagt Anja Siegemund, Direktorin des Centrum Judaicum:
Anja Siegemund: "Die Brüchigkeit besteht dann wieder darin, dass, sobald die Besucher hereinkommen, manchmal dann erst wahrnehmen, oh, diese Synagoge besteht ja eigentlich gar nicht mehr."
Über Jahrzehnte war die Neue Synagoge als Ruine im bedauernswerten Zustand. In der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde sie noch von einem mutigen Polizeivorsteher gerettet. Im Krieg setzten Bomben dem einstigen Stolz der jüdischen Gemeinde zu.
Doch ausgerechnet die SED unter Erich Honecker nahm das Anliegen der Jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin auf und begann 1988 einen Wiederaufbau als Zeichen, als Mahnmal. Freilich nur eines Teils der Synagoge, die vordere Straßenfront mit den beiden Türmchen und der imposanten Kuppel, die vollkommen neu aufgesetzt werden musste. Das Hauptschiff mit seinen Emporen, das einmal Platz für 3.000 Menschen bot, hatte die selbe SED 1958 sprengen lassen. Hermann Simon war von Anfang an dabei. Er hat als Gründungsdirektor des Centrum Judaicum die Arbeit des Hauses über Jahrzehnte geprägt.

Kaum Mittel für einen Wiederaufbau

Hermann Simon: "Ich denke, das fiel einfach mal politisch diese Bemühungen auf fruchtbaren Boden. Die Zeit war reif und alle Seiten wollten das. Die, die das innerhalb des SED-Politbüros wollten, mussten sich gegenüber den Hardlinern irgendwo durchsetzen und haben das auf diese Tour dann, glaube ich, intern durchgekriegt."
Zu DDR-Zeiten war die kleine jüdische Gemeinde Ost-Berlins für Gebäudeschäden verantwortlich, für abfallende Fassadenteile, hatte selbst jedoch kaum Mittel, an eine Restaurierung, gar an einen Wiederaufbau zu denken. Die Pläne für einen Wiederaufbau, als Mahnmal wie es eine 1966 angebrachte Gedenktafel zum Ausdruck brachte, lagen schon lange zurück, erinnert sich Hermann Simon:
"Es war Ruine und es verfiel immer mehr. Aber es gab dann eben plötzlich Mitte der 80er Jahre so erste Artikel, das Bewusstsein für diese Dinge entwickelte sich, langsam, spät, aber."
Zu dieser Zeit hatte sich der Wind plötzlich gedreht. Im Fahrwasser einer neuen sowjetischen Außenpolitik unter Gorbatschow, die auch das bis dahin schwer belastete Verhältnis zum einst verhassten jüdischen Staat bessern sollte, sahen manche Genossen in Ost-Berlin eine Chance gekommen, der maroden DDR auf die Sprünge zu helfen. Könne man nicht mit einem spektakulären Wiederaufbau der Neuen Synagoge ein Zeichen setzen und die USA für einen Kredit gewinnen? Der Wiederaufbau der Neuen Synagoge verknüpft sich somit eng mit der außenpolitischen Agenda Honeckers.

"Es gab immer Leute, die den Bau nicht wollten"

Simon: "Es hat immer in der Stadt Leute gegeben, die diesen Bau nicht wollten, die die Ruine schleifen wollten. Aber es hat auf der anderen Seite auch immer Menschen gegeben, die sich dann am Ende ja durchgesetzt haben, dieses Ensemble in der Oranienburger Straße, wiederaufzubauen und die Kuppel wieder auf das Gebäude zu setzen und der Stadt ein Stück seiner Silhouette zurückzugeben."
Als 1866 die Synagoge eingeweiht wurde, hatte das durchaus zu Kontroversen geführt, bei manchen schlicht zu Spott. Eine Synagoge mit einer Orgel? Mit einer Bimah platziert wie in einem christlichen Altarraum? Ein Gottesdienst auf Deutsch gehalten? Immerhin spalteten sich konservative Gemeindemitglieder ab und gründeten mit Adass Jisroel ihre eigene Synagogengemeinde.
Ederberg: "Wenn man zurückschaut in die Geschichte, dann ist die damalige Neue Synagoge 1866 klar angetreten: hier findet ein ordentlicher, preußisch-deutscher Gottesdienst statt. Sehr frontal, Kantor, Rabbiner vorne, mit Talar, mit entsprechenden Zeremoniell drumherum und das ist sicher ein Aspekt, den wir heute in unserer Synagoge so nicht praktizieren."
Gesa Ederberg ist Rabbinerin hier in der Oranienburger Straße. Denn es gibt sie ja doch, die Synagoge in der Synagoge. Es ist ein kleiner Gebetsraum mit Bimah in der Mitte, gleich neben dem großen Saal, der alten Frauenempore, in dem heute viele Veranstaltungen stattfinden.

Partizipatorische Betergemeinschaft

Ederberg: "Wir sind eine familienorientierte, sehr partizipatorische Betergemeinschaft, viele Leute die sich aktiv am Gottesdienst beteiligen, Frauen und Männer gleichberechtigt und rechnen uns der Masorti-Richtung im Judentum zu."
Zur Gemeinde von Rabbinerin Ederberg kommen Leute aus ganz unterschiedlichem Hintergrund. Eine bunte Gemeinschaft. Anfangs war der Gebetsraum für eine orthodox ausgerichtete Gemeinde gedacht. Überlegungen, das alte, prächtige Hauptschiff wiederaufzubauen, gab es im Grunde nicht, erinnert sich Hermann Simon:
"Niemand hat damit gerechnet, dass die Welt sich wenige Monate später komplett verändert, so dass ein Neubau einer Synagoge im Bereich des Möglichen gelegen hätte. Das war außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Also es war nie die Idee, hier diesen großen sakralen Raum wiederaufzubauen. Aber klar war für alle Beteiligten: Eine Synagoge ohne Synagoge geht nicht."
Doch jahrelang blieb dieser Gebetsraum ungenutzt. Erst 1998 wurde der kleine Betraum mit Gesa Ederbergs geführter Masorti-Gemeinde wieder mit Leben gefüllt. Lange Zeit war dies die einzige Synagoge in Berlin, in der Frauen aus der Torah lesen konnten.
Ederberg: "Wir sehen uns einerseits ja und andererseits nein in der Tradition der Neuen Synagoge. In der Weiterentwicklung stehen wir in der Tradition des Hauses. Musikalisch, was die Inhalte und die Liturgie angeht, ist das sicher auch der Fall. Wahrscheinlich gab's damals mehr 'pomp and circumstances', wir sind, denke ich, sehr viel weniger formal, bei uns gibt's Kinderlachen und auch Geschrei, auch während des Gottesdienstes. Aber dass das Judentum relevant sein soll für den Alltag und für's Zusammenleben, das halte ich für sehr wichtig und das wird bei uns auch praktiziert."

"Wir sind hier und wir bleiben hier"

Die Stiftung Neue Synagoge/Centrum Judacium war von Anfang als Forschungsinstitut angedacht, aber die Ost-Berliner Juden sahen darin auch eine Aufwertung des jüdischen Lebens in der DDR.
Simon: "Ich glaube, dass sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinden sehr, also mindestens für Ostberlin kann ich sagen, mit diesem Vorhaben identifiziert haben und dass das für viele wichtig war."
Heute steht die Neue Synagoge, als Stiftung und Centrum Judaicum ein Haus mit vielen Gesichtern, vor neuen Herausforderungen. Vor allem was die Basisfinanzierung angeht, die längst nicht auf sicheren Füßen stehe, so Direktorin Anja Siegemund. Für Rabbinerin Gesa Ederberg war und ist die Neue Synagoge, dieses Wahrzeichen Berlins und Sinnbild der deutsch-jüdischen Geschichte mit all seinen Brüchen auch ein Auftrag, was jüdisches Leben hier heute bedeuten kann.
Ederberg: "Ich finde es schon auch wichtig zu sagen, es ist nicht nur eine Fassade und dahinter ist weniger, als man denkt. Und wenn wir das mit Leben füllen, mit einer gewissen Daffke auch mit Leben füllen, zu sagen, hier ist zwar jetzt die große Fassade und was wir dahinter tun, ist ein paar Nummern kleiner, aber wir sind hier und wir blieben hier."