150 Jahre Abschaffung der Sklaverei in den USA

"In vielen Produkten, die wir kaufen, kann Sklaverei stecken"

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Ein asiatischer Arbeiter mit Schutzhelm steht auf einer Baustelle in Katar © dpa/picture-alliance/Arno Burgi
Martin Schneider im Gespräch mit Ute Welty · 05.12.2015
Sklaverei ist weltweit verboten. Doch noch immer leben Millionen Menschen unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen. In vielen Produkten, die wir kaufen, kann Sklaverei und Zwangsarbeit stecken, sagt der Historiker Martin Schneider.
Auch 150 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei in den USA im Dezember 1865 leben heute Millionen Menschen weltweit als moderne Sklaven, kritisiert der Historiker Martin Schneider. Moderne Sklaverei sei jedoch nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Der Grund sei, dass es im Unterschied zur historischen Sklaverei keine Kaufvertrags-Dokumente mehr gebe, die das heute strafbare Delikt dokumentieren könnten. Menschen, die unter Sklaverei-ähnlichen Zuständen lebten, würden auch beispielsweise bei Betriebskontrollen unter Verschluss gehalten oder weggesperrt.
Persönliche, soziale und vollständige wirtschaftlich Abhängigkeit
Vielen Menschen sei daher nicht klar, dass in zahlreichen Produkten, die wir kaufen, auch "irgendwo Sklavenarbeit, Zwangsarbeit drin stecken könnte", so der Autor des im März erschienenen Buches "Die Geschichte der Sklaverei: Von den Anfängen bis zur Gegenwart".
Sklaverei-ähnliche Bedingungen zeichneten sich durch Entrechtung und Ausbeutung und die Negierung der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1948 aus. Sklaverei sei gekennzeichnet durch eine persönliche, soziale und wirtschaftlich vollständige Abhängigkeit "im Grunde in jedem Atemzug (...) von ihrem Besitzer", sagte Schneider. Der Grund für moderne Sklaverei sei wie in früheren Zeiten der wirtschaftliche Gewinn, der damit erzielt werden könne.
Bis zu 35 Millionen Menschen leben heute unter Sklaverei-ähnlichen Bedingungen
Die Angaben der Menschenrechtsorganisationen zur Zahl der Menschen, die heute unter Sklaverei-ähnlichen Verhältnissen lebten, schwankten zwischen 21 Millionen und 35 Millionen. Obwohl beispielsweise die Walk Free Foundation dabei mit statistische Hochrechnungen arbeite, sei dies aber ein "fundierter statistischer Ansatz", so Schneider. Letztlich mache der Blick auf die Lebensbedingungen die Situation erkennbar, dazu zähle beispielsweise die Einschränkung der Mobilität und Abhängigkeit von nur einem Arbeitgeber.
Problematisch sei beispielsweise das für Gastarbeiter in Katar verbreitete sogenannte "Kafala-System", bei dem der Arbeitgeber auch rechtlich eine Aufsichtspflicht für den Arbeitnehmer habe, Mobilität eingeschränkt sei und ein Arbeitgeberwechsel nicht möglich. "Und das wird teilweise sehr strikt ausgelegt, dass diese Leute auch eingesperrt werden", so der Historiker und Politologe.
Offiziell ist Sklaverei verboten. Spätestens seit die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen 1948 dies ausdrücklich besagt. Der Wiener Kongress erließ 1815 ein Reglement zur Ächtung der Sklaverei, 1865 wurde Sklaverei in den USA abgeschafft, 1926 wurde sie vom Völkerbund vertraglich verboten, Mauretanien war 1981 der letzte Staat, der ihr auf dem Papier ein Ende bereitete.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Am Ende lag alles bei Georgia. Als 27. von damals 36 Staaten der Vereinigten Staaten von Amerika sorgt Georgia für die erforderliche Mehrheit. Mit einem Verfassungszusatz schaffen die USA vor 150 Jahren die Sklaverei ab. Am Vorabend dieses 6. Dezembers 1865 dürfte aber noch lange nicht klar gewesen sein, wie schmerzhaft und wie schwierig dieser Schritt werden sollte. Es fehlt, um es neudeutsch auszudrücken, eine Exit-Strategie, denn zur Freiheit gehören auch die Möglichkeiten, diese wahrzunehmen. Die Geschichte der Sklaverei hat aufgeschrieben der Historiker und Dozent Martin Schneider, und zwar die Geschichte von den Anfängen bis hin zur Gegenwart. Guten Morgen, Herr Schneider!
Martin Schneider: Guten Morgen!
Welty: Wenn wir uns jetzt mit dem offiziellen Ende der Sklaverei in den USA beschäftigen, müssen wir uns gleichzeitig eingestehen, dass sich so viel gar nicht geändert hat?
Sklaverei gehört heute zu den ganz geächteten Menschenrechtsverletzungen
Schneider: Es hat sich natürlich schon eine ganze Menge verändert, weil letzten Endes die Sklaverei nicht nur in den USA ab 1865 dann, spätestens nach diesem Verfassungszusatz, den Sie gerade erwähnt hatten, abgeschafft ist, sondern sie gehört natürlich jetzt auch vor dem Hintergrund der modernen Menschenrechte absolut zu den ganz geächteten Menschenrechtsverletzungen, wo es auch ganz viele Abkommen und Zusatzabkommen gibt, die international eingehalten werden müssen. Von daher hat sich natürlich schon eine ganze Menge geändert, was, ich sage mal, die offizielle Institution, die anerkannte Institution der Sklaverei angeht.
Welty: Aber nichtsdestotrotz gehen Menschenrechtsorganisationen ja immerhin von 30 Millionen modernen Sklaven aus. Was macht diese Menschen zu Sklaven, und inwieweit ist das mit der Situation von vor 150 Jahren nach wie vor vergleichbar?
"In jedem Atemzug persönlich, wirtschaftlich, sozial abhängig von ihrem Besitzer"
Schneider: Da gibt es natürlich völlig verschiedene Schätzungen, wie viele Menschen heute noch als Sklaven auf der Welt existieren. Eine der höchsten Schätzungen, die mir bekannt ist, das ist von der Walk Free Foundation, die geben jährlich so einen Global Slavery Index heraus, wo das statistisch hochgerechnet wird. Und da kommen wir dann 2014 für das Berichtsjahr 2013 auf 35,8 Millionen. Es gibt allerdings durchaus auch Schätzungen, wenn Sie, sagen wir mal, die Lage der Zwangsarbeiter sehen, dann kommen Sie ungefähr bei 21 Millionen heraus. Das ist von der International Labour Organisation, eine Zahl, die beispielsweise auch von der britischen Menschenrechtsorganisation Anti Slavery International übernommen wird. Und das, was diese Sklaven heute noch zu Sklaven macht, das ist jetzt nicht unbedingt, dass wir eine offizielle Institution haben, die sowohl juristisch als auch gesellschaftlich akzeptiert ist, sondern das ist halt die Geschichte, dass man sich eigentlich nicht an diese Menschenrechte, die wir, spätestens jetzt in der modernen Zeit, seit 1948 haben, hält. Das, was Sklaven ausmacht, das ist eigentlich, dass sie wirklich in jedem Ding, was sie tun, im Grunde in jedem Atemzug, persönlich, wirtschaftlich, sozial abhängig sind von ihrem Besitzer. Früher sind sie quasi, konnten Sie auf einen Sklavenmarkt gehen, bis ins 19. Jahrhundert, konnten sich Sklaven kaufen in den Ländern, in denen Sklaverei halt ganz offiziell existiert hat. Normalerweise haben Sie dann auch einen Kaufvertrag bekommen, um das wirklich abzusichern, dass dieser Sklave jetzt dem Käufer gehört. Und heute läuft das natürlich mit einem Kaufvertrag nicht mehr so, das wäre ja im Grunde auch so das Corpus Delicti, wo man es dann auch nachweisen könnte.
Welty: Und wo man dann auch wahrscheinlich was dagegen unternehmen könnte.
Schneider: Genau.
Problematisches "Kafala-System" in Katar
Welty: Moderne Sklaverei, da fällt einem ja vor allen Dingen Katar ein, wo an den Stadien für die WM 2022 gebaut wird. Und unvergessen in diesem Zusammenhang Franz Beckenbauer, der in Katar keine Sklaven gesehen haben will. Was mich zu einer ernst gemeinten Frage führt: Woran erkenne ich denn moderne Formen der Sklaverei, wenn ich dann nicht dieses Papier habe, was das belegt?
Schneider: Das ist natürlich schon eine schwierige Frage. Deswegen stehen auch sehr viele Menschenrechtsorganisationen, die zu diesem Thema arbeiten, natürlich schon vor dem Problem, dass man sie nicht so einfach zählen kann. Diese Walk Free Foundation, die ich gerade erwähnt habe, die geht beispielsweise von statistischen Hochrechnungen aus. Das ist also ein ganz fundierter statistischer Ansatz, der hier vertreten wird. Ansonsten muss man natürlich schon schauen, welche Lebensbedingungen diese Leute haben. Sind sie beispielsweise in ihrer Mobilität eingeschränkt, oder sind sie, sagen wir mal, nur von einem, wenn es zum Beispiel Gastarbeiter sind im arabischen Bereich, Katar jetzt als Beispiel, sind sie jetzt nur von einem Arbeitgeber abhängig, der beispielsweise auch darüber entscheiden darf, ob dieser Arbeitnehmer tatsächlich den Arbeitsplatz wechseln darf oder nicht. Hier, in unseren Ländern, in Deutschland, da haben Sie, wenn Sie einen Arbeitsplatz kündigen wollen, da schreiben Sie quasi eine Kündigung, und dann haben Sie normalerweise eine Kündigungsfrist, und da können Sie dann den Arbeitsplatz halt wechseln, das ist Ihre Entscheidung. In manchen Ländern, dazu zählt unter anderem dann eben auch Katar, da gibt es dieses sogenannte Kafala-System, das letzten Endes eigentlich ein System ist, wo Arbeitgeber, die vor allen Dingen ausländische Arbeitnehmer beschäftigen, letzten Endes auch für die verantwortlich sind, also auch rechtlich verantwortlich sind und insofern auch eine Aufsichtspflicht haben. Und das wird teilweise, nicht bei allen natürlich, aber teilweise auch sehr strikt ausgelegt, dass diese Leute durchaus auch eingesperrt werden.
Welty: Ist es deswegen auch so schwierig, Sklaverei tatsächlich abzuschaffen, weil eben Sklaverei auch die wirtschaftliche Grundlage für ein bestimmtes System darstellt?
Schneider: Ja. Sklaverei war natürlich, wenn Sie sich in die Geschichte zurückbegeben, eigentlich bis in die Antike, schon immer irgendwo ja natürlich ein Besitzrecht, was letzten Endes aber auch ganz fundamentale wirtschaftliche Auswirkungen hatte. Und das ist natürlich bis heute, also wenn Sie von dieser modernen Sklaverei oder von den sogenannten Sklaverei-ähnlichen Zuständen reden, das ist durchaus heute noch so etwas, wo es eben wirtschaftliche Auswirkungen gibt, die vielen Leuten vielleicht auch gar nicht so klar sind, wo vielleicht überall in den Produkten, die wir so kaufen, auch irgendwo Sklavenarbeit, Zwangsarbeit drin stecken könnte. Und das macht es aber natürlich auch relativ schwierig, nicht zuletzt natürlich auch, wenn Leute letzten Endes wirklich in ihrer Bewegungsfreiheit gehindert werden, wenn sie quasi auch unter Verschluss gehalten werden, wenn vielleicht in Betrieben mal Kontrollen kommen, wenn irgendwo der Verdacht aufgekommen ist, dann werden sie vielleicht weggesperrt, sodass man sie nicht sieht. Das ist halt nicht so einfach, dass man dann sagt, ich habe hier keine Sklaven gesehen. Diese Leute sind nicht unbedingt vielleicht als Sklaven erkennbar.
Welty: Aber genaue hingucken lohnt sich. Martin Schneider hat sich mit antiken und modernen Formen von Sklaverei beschäftigt und viele Parallelen festgestellt, die uns nachdenklich machen sollten. Ich danke für dieses Gespräch hier in "Studio 9"!
Schneider: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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