120 Jahre Pädiatrie

Paul Grosser und die Kinderheilkunde

Mauern der alten Gebäude der Berliner Charité, des ältesten Berliner Krankenhauses
Paul Grosser lernte bei Otto Heubner an der Charité, dem ersten ordentlichen Professor für Kinderheilkunde. © picture-alliance / ZB / Kalaene Jens
Von Peter Kaiser · 27.02.2015
Jahrhunderte wurden Kinder als "kleine Erwachsene" behandelt, doch seit 120 Jahren gibt es eine fundierte Kindermedizin, die Pädiatrie. Die meisten Kinderärzte waren jüdischen Glaubens, so auch Paul Grosser, der als erster Pädiater 1919 habilitierte.
"Diese Ausstellung widmet sich der Geschichte der Medizin in Jerusalem. Wir schauen besonders darauf, wie sich die Medizin hier entwickelt hat, noch immer entwickelt, und dass es eine Kontinuität zwischen Medizin und Glauben gibt. Wir haben Hunderte von Artefakte hier, von überall her."
Die Ausstellung "A Medical Diagnosis", die 2014 in der Jerusalemer Davidszitadelle zu sehen war, stellte ärztliche Gerätschaften aus den Urzeiten der Medizin aus. In einem Extraraum widmete sich die Ausstellung bis zum April 2015 aber auch dem Gründer des Jerusalemer Shà are Zedek-Hospitals, dem Kölner Kinderarzt Moshe Wallach. Und berichtet die schöne Geschichte von den Steiff-Tieren aus dem Jahr 1906...
"Bei den Recherchen für die Ausstellung fand der Kurator, Dr. Nerid Shalev-Khalifa, einen Brief von Dr. Wallach an Margarete Steiff mit der Bitte, Kuscheltiere für die kranken Kinder des Zedek-Hospitals zu senden. Margarete Steiff schickte Kuscheltiere zu den armen Kindern nach Jerusalem. Und nun, im Rahmen der Ausstellung schickte die Firma Steiff erneut die gleichen Kuscheltiere von 1906."
Moshe Wallach, der eigentlich Moritz Wallach hieß, kam 1890 nach Palästina und eröffnete zunächst eine kleine Arztpraxis. Zuvor hatte der in Köln geborene Mediziner in Würzburg und in Berlin studiert, unter anderem bei Otto Heubner an der Charité. Dass Moshe Wallach hier viel für die jüdischen Kinder lernte, war kein Zufall. Denn Otto Heubner war der erste ordentliche Professor für Kinderheilkunde, Pädiatrie. Das ist 120 Jahre her."
"Anlass der heutigen Festveranstaltung ist das 120-jährige Bestehen des 1. Lehrstuhls der Kinderheilkunde in der Charité. Dieser war zugleich der 1. Lehrstuhl seiner Art in Deutschland. Damit verbunden und trennbar ist da Wirken von Otto Heubner. Seine Berufung gilt als Geburtsstunde der modernen Kinder- und Jugendmedizin."
Kinderheilkunde kommt aus der inneren Medizin - und dem Sozialen
Wenn die Berliner Staatsekretärin Emine Demirbüken-Wegner bei einem Festsymposium im November 2014 Otto Heubners gedenkt, so ehrt sie auch die anderen Ärzte, die bei dem charismatischen Kindermediziner Heubner arbeiteten. Zumeist waren diese Assistenzärzte jüdischen Glaubens, sagt Prof. Volker Hesse, ehemaliger Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Lindenhof.
"Also es ist so, dass es ganz erstaunlich ist, in welchem Umfang sich jüdische Ärzte gerade in der Kinderheilkunde eingebracht haben. Und es für sie ein Bereich war, in dem sie sich besonders engagieren konnten. Und die Kinderheilkunde war ein sehr sozialer Bereich, der ihnen besonders am Herzen lag, und möglicherweise auch, ich kann das nicht genau definieren, aus religiösen Gründen standen sie der Säuglingssterblichkeit in anderer Art und Weise gegenüber als frühere, vielleicht christliche Generationen, die doch in einer Verzweiflung, in einer Demut waren: 'Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen.' Und es ist wirklich erstaunlich, wenn man mal nachschaut, wie viele namhafte Schüler Otto Heubners jüdischen Glaubens waren."
So auch der Berliner Paul Grosser. Er war der erste Arzt, der sich im neuen medizinischen Fach "Pädiatrie" an der Frankfurter Universität habilitierte. Doch zuvor...
"Zu Paul Grosser wissen wir aus den Unterlagen, dass er 1907 und 1908, als er im Kinderasyl unter Finkelstein arbeitete, dass er in dieser Zeit auch an der Charité unter Heubner tätig war. 1908 ist er dann nach Frankfurt am Main gegangen."
Paul Grosser wurde am 4. Februar 1880 in Berlin als Sohn des Verlagsbuchhändlers Eugen Grosser und dessen aus Straßburg stammenden Frau Cécilie geboren. 1898 legte er die Reifeprüfung ab und studierte Medizin. Schon früh galt sein Interesse der Heilung der Kleinsten, der Kinder. So promovierte er zu "Lungentuberkulose und Trauma", ein damals hochaktuelles Thema, sagt Thomas Beddies, stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin an der Charité.
"Die Kinderheilkunde sagt man kommt aus der inneren Medizin. Aber das Umgehen mit kranken Kindern kommt eigentlich noch aus einem anderen Bereich, nämlich des Sozialen. Die Frage des Umgangs mit unehelichen Kindern, mit Waisen, mit armen Kindern usw. spielt hier auch mit rein. Das führte dann wiederum dazu, dass in diesen neuen Fächern eine Infrastruktur aufgebaut wird in Bezug auf Privatanstalten, also jüdische Privatdozenten, die nicht Professor werden dürfen an einer deutschen Universität, gehen in die Peripherie und gründen dort Privatanstalten als außerordentliche Professoren, und haben da bemerkenswerte Erfolge."
Hygiene-Neuerungen zur Senkung der Kindersterblichkeit
Die Kindersterblichkeit dieser Zeit war enorm hoch, bis zu 70 Prozent der Säuglinge starben stationär meist an Infektionen.
"Für die Kinderheilkunde der Zeit ist es dann die Diphterie, die ein großes Forschungsfeld in dieser Zeit darstellt, und die sehr sehr vielen Kindern das Leben gekostet hat."
Paul Grosser arbeitete mit den medizinischen Größen seiner Zeit. Er assistierte 1904 in der Physikalisch-Chemischen Abteilung von Rudolf Virchow, dann war er Assistenzarzt am Städtischen Krankenhaus am Urban bei Berlin. Seine Hauptarbeit sah er in der Heilung von Stoffwechselkrankheiten in der Kinderwachstumsphase. Die Rachitis, eine meist durch Vitamin-D-Mangel hervorgerufene Knochenerkrankung, ist dafür beispielhaft. Im Frankfurter Clementine- Kinderhospital setzte Paul Grosser viele der vor allem hygienischen Neuerungen, die er in Berlin an der Charité gelernt hatte, strikt um. Mit dem Resultat, dass die Kinder in seinem Krankenhaus häufiger als anderswo überlebten.
1921 heiratete Paul Grosser die aus einer jüdischen Frankfurter Familie stammende Lily Emilie Rosenthal. 1922 kam die Tochter Margarethe zur Welt. Inzwischen hatte sich in der Kinderheilkunde viel gewandelt. Die Entdeckung der antibiotischen Therapie, Impfungen, auch die Einführung von pasteurisierter Milch und verstärkter Beobachtung von Hygienemaßnahmen hatten die Kindersterblichkeit weiter zum Sinken gebracht. Und es gab jetzt weibliche Ärzte in den Krankenhäusern.
"In dieses Fach streben dann relativ viele junge Frauen auch, die nach 1900 in Deutschland studieren durften, es sind sehr viele sozial Engagierte. Es sind besonders viele jüdische Frauen, die im politischen Spektrum eher links stehen."
Am 1. Februar 1925 kam das zweite Kind des Paares, Sohn Alfred zur Welt. Und Paul Grosser übernahm die Leitung des Clementine Kinderhospitals. Bis 1933.
"Sie können davon ausgehen, dass die Emigration, bzw. die Vertreibung nach 1933, die ja in verschiedenen Zielländer erfolgte, und viele Ärzte sind ja zunächst nach Österreich gegangen, nach Frankreich gegangen, nach England gegangen, mussten dann aber im Verlauf des Krieges aus verschiedenen Gründen unter Umständen weitergehen, dass diese Emigration, die dann auch nach Palästina erfolgte, zum Aufbau des Gesundheitssystem in Palästina und dem späteren Staat Israel maßgeblich beigetragen hat. Da kann man davon ausgehen, dass die frühe Medizin in Israel wesentlich deutschsprachig gewesen ist, weil sie von den deutschen Emigranten bedient wurde."
1933 kam das Lehrverbot, dann die Entlassung
Judenboykott am 1. April 1933 überall, auch vor dem Clementine-Hospital postieren sich die SA-Angehörigen. Noch im selben Monat wird Paul Grosser erst Lehrverbot erteilt, dann wird er entlassen. Als sein 8-jähriger Sohn Alfred so heftig von "arischen" Mitschülern verprügelt wird, dass er im Krankenhaus behandelt werden muss, emigriert am 16. Dezember 1933 die Familie Grosser nach Frank-reich in die ehemalige königliche Residenzstadt Saint-Germain-en-laye. Hier plante Paul Grosser den Aufbau eines Kindersanatoriums. Doch nur sieben Wochen nach dem Umzug erleidet er einen Herzinfarkt, an dem er 54-jährig stirbt. Jahre später erinnert sich sein Sohn Alfred, inzwischen ein hochgeachteter Publizist und Politikwissenschaftler...
"Mit dem Tod lebe ich jeden Tag seit mein Vater gestorben ist, als ich gerade neun war. Und meine Schwester ist gestorben, weil wir vor den Deutschen geflüchtet sind und sie sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Ich habe das unwahrscheinliche Glück gehabt nicht verhaftet zu werden, nicht deportiert zu werden, nicht gefoltert zu werden."
Als 1940 Paul Grossers Witwe Lily mit den Kindern Alfred und Margarethe vor der Wehrmacht flieht, zieht sich Margarethe eine Blutvergiftung zu, an der sie stirbt. Mutter und Sohn überleben die Shoa in getrennten Verstecken. Später sollte der französische Staatsbürger Alfred Grosser zu einem glühenden Verfechter der Versöhnung mit Deutschland werden. Und die Kinderheilkunde heute? Anlässlich des Festsymposium stellt die Dekanin der Charité, Frau Prof. Annette Grüter-Kieslich fest...
"Die großen Herausforderungen der Infektionskrankheiten und Hygiene sind weitestgehend bewältigt, dafür haben wir neue Krankheiten, wenn man so will Zivilisationskrankheiten: Übergewicht, Diabetes schon bei Kindern, aber eben auch Verhaltensstörungen, psychische Auffälligkeiten, Mediensucht, also ganz neue Erkrankungen, mit denen sich die Kinder- und Jugendmedizin auseinandersetzen muss."
Es gibt also genug zu tun, für die neuen Paul Grossers, egal ob in Berlin oder Jerusalem, oder anderswo. Die Kinder überall auf der Welt brauchen solche Ärzte.
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