1000 Jahre Leipzig

In der Gründerzeit kam der Größenwahn

Blick auf den Hauptbahnhof von Leipzig vom Turm der Reformierten Kirche aus
Größern schneller, weiter - bei seiner Eröffnung war der Leipziger Hauptbahnhof mit 26 Bahnsteigen der größte Europas. © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Von Nadine Lindner und Ronny Arnold · 15.06.2015
Am ältesten Punkt Leipzigs steht ein grauer, großer Plattenbau. Der Bauboom im 15. Jahrhundert und die Gründerzeit haben dagegen deutliche Spuren hinterlassen. Wer im Jubiläumsjahr durch die Museen tingelt, entdeckt in der Stadtgeschichte immer wieder auch Größenwahn.
Wer sich wirklich auf die 1000-jährige Stadtgeschichte Leipzigs einlassen will, dem sei in diesen Tagen ein sogenanntes Museums-Ping-Pong empfohlen. Das funktioniert wie folgt: In vielen verschiedenen Museen gibt es gerade Ausstellungen zur Stadtgeschichte. Nach der Vitrinenschau in den Museen kann man sich prima auf den Weg machen, um die beschriebenen Orte in der Innenstadt zu wieder zu finden.
Erste Station – das Stadtgeschichtliche Museum. Hier gibt es eine Sonderausstellung zu den Anfängen der westsächsischen Metropole. Und der Beginn der Stadt liegt hier hinter dickem Glas in einer Vitrine:
"Ich denke, wir stehen gleich zu Beginn vor einem der wichtigsten Exponate hier in dieser Vitrine."
Es ist ein altes Buch, es ist die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg. Bischof Tietmar von Merseburg berichtet über den Tod des Bischofs Eido von Meißen in einem Ort, den er "Libzi" nennt.
Maike Günther, Kuratorin, führt durch die Ausstellung:
"Wir haben ihnen auch die Seite aufgeschlagen. Auf der rechten Seite, in der rechten Spalte steht in der zweiten Zeile … Da können sie lesen: 'In Urbe Libizi vocata'."
Es ist die erste schriftliche Erwähnung – Leipzig ist also mindestens 1000 Jahre alt.
"Das ist ja der Anlass, um die Geschichte der Stadt zu feiern."
Aber Moment, wer ein bisschen in den Archiven gräbt nach dem Stichwort Stadtjubiläum Leipzig, der stößt relativ schnell auf Berichte aus dem Jahr 1965. Da hat die Stadt ihr 800-Jähriges gefeiert.
150 Jahre mehr Stadtgeschichte
Ein Grund, stutzig zu werden: Wo kommen denn jetzt auf einmal diese vielen Jahre Stadtgeschichte zusätzlich her?
Maike Günther vom Stadtgeschichtlichen Museum klärt es gleich selbst auf:
"Der Stadtbrief wird auf das Jahr 1165 datiert. Das erklärt, warum wir vor 50 Jahren schon mal gefeiert haben und zwar 800 Jahre Leipzig. Und die Chronik Tietmars erklärt, warum wir 1000 Jahre Stadtgeschichte feiern.
Viele Leipziger haben uns das gefragt, woher auf einmal diese 150 Jahre kommen. Aber es ist die Frage, was nimmt man als Anhaltspunkt, worauf bezieht man sich."
Wie so oft, es erscheint nur eine Frage der Perspektive. Und merke: kein Stadtjubiläum kommt ohne Kuriosum aus …
Nach den Vitrinen im Stadtmuseum, geht die Spurensuche draußen weiter. Was hat Tietmar damals gesehen, was er als den Ort Leipzig bezeichnet hat und wie viel ist davon noch übrig? Zusammen mit Thomas Westphalen, Archäologe und ebenfalls Kurator der Ausstellung bin ich auf Spurensuche nach den Ursprüngen der Stadt:
"Wir befinden uns im Stadtkern von Leipzig. Im mittelalterlichen Stadtkern. Aber nicht dort, wo man das Leben pulsieren sieht. An der großen Fleischergasse, städtebaulich etwas trist. Aber hier war im frühen Mittelalter, im 11. Jahrhundert war das frühe Leipzig. Das sich heute eigentlich nicht mehr ablesen lässt. Mit einer kleinen Ausnahme, das ist die Straße Matthäikirchhof."
Und ja, er hat Recht, vom ältesten Punkt Leipzigs ist eigentlich nichts mehr zu sehen. Thomas Westphalen und ich stehen in einer ruhigen Seitenstraße am Westrand der Leipziger Innenstadt. Vor uns liegt ein großer grauer Plattenbau, der einst die Hauptstelle der Stasi beherbergt hat. Heute prangt daran das bunte Schild "Alpenmax", das auf eine Disko hinweist. Gegenüber wirbt das "Schnitzelhaus" um Kundschaft. Und doch eine kleine Hinweistafel ist dann doch zu entdecken.
Da muss man schon genauer hinschauen, sagt Thomas Westphalen und deutet auf eine kleine leicht abschüssige Straße. Diesen Höhenunterschied haben sich die Leipziger der ersten Stunde zu Nutze gemacht:
"Dieser Ort ist insofern etwas Besonderes, als dass er geschützt ist durch Niederungen nach Süden zu, nach Westen zu und nach Norden zu."
Mittelalterliche Nikolaikirche heute noch prägend
Und ja, tatsächlich, wer genau hinsieht, erkennt die leichte Anhöhe, die in den frühen Jahren mehrere Burgen beherbergt hat, die immer wieder übereinander gebaut wurden.
"Hier gibt es dann doch eine gewisse Grundstückskonstanz, Matthäikirche, Franziskanerkloster … Dieses Kloster ist wiederum auf einer Burg errichtet worden."
Kloster, Burg, neue Burg alles an einem Ort, das Schema des Bauens, Einreißen, Umbauens wird einem noch öfter bei zentralen Gebäuden der Stadt begegnen.
Mit ins Jahr der Verleihung des Stadtrechtes 1165 fallen noch zwei weitere Jubiläen: auch die Leipziger Messe bezieht sich auf die Verleihung des Marktrechtes als Beginn ihrer Tätigkeit. Das gleiche gilt für die Nikolaikirche im Zentrum der Stadt. Das stadtgeschichtliche Museum Leipzig widmet ihr eine kleine Sonderausstellung.
Noch einmal die Kuratorin des Stadtgeschichtlichen Museum Maike Günther:
"Die Nikolaikirche im Mittelalter, als mit dem mit dem romanischen Westriegel, des noch zu entdeckenden ältesten Baus in der Leipziger Innenstadt."
Blick auf einen Teil des Deckengewölbes der Nikolaikirche in Leipzig
Die Palmensäulen im Innern der Nikolaikirche stammen aus dem 18. Jahrhundert - die Kirche selbst wurde im Mittelalter erbaut.© dpa / picture alliance / Peter Endig
Anders als die frühen Anfänge wie Burg oder Franziskanerkloster ist die Nikolaikirche heute noch prägend im Stadtbild. Auch wenn sie mittlerweile innen klassizistisch mit Palmensäulen gestaltet ist – nach einem Umbau Ende des 18. Jahrhunderts. Hier ist wieder das Muster von Bau, Umbau, Neugestaltung zu beobachten.
Nach den frühen Jahren gewinnt die Stadtentwicklung vor allem im fünfzehnten Jahrhundert an Fahrt: Ab 1480 beginnt der Buchdruck. Im 15. Jahrhundert erlebt die Stadt einen wahren Bauboom: zur Errichtung der Thomaskirche ab 1482 kommt 1409 die Gründung der Universität Leipzig. Nach Heidelberg ist die Alma Mater Lipsiensis die zweitälteste durchgehend existierende Universität in Deutschland.
Die Studenten, sie haben der Stadt ihre wohl bekannteste Geschichte beschert: denn im 18. Jahrhundert kehrt während des Studiums der junge Johann Wolfgang von Goethe in Auerbachs Keller ein. Später nimmt er den Keller als Handlungsort für sein Drama "Faust" auf.
Doch wer Leipzig nicht literarisch, sondern architektonisch betrachten will, kommt nicht an der Gründerzeit vorbei.
Wenn man heute durch die Straßen geht, sieht man über 10.000 Wohnhäuser aus der Gründer- und Kaiserzeit. Kein Wunder also, dass die Stadtbibliothek dieser prägenden Phase der Stadt eine eigene Schau gewidmet hat:
"Die Ausstellung heißt: "Leipzig wird groß". Und sie präsentiert praktisch einen Teil der Industrie- und Handels und Wirtschaftsgeschichte."
Erklärt Ulrich Kiehl, Mitarbeiter der Stadtbibliothek Leipzig und zuständig für die regionalgeschichtliche Abteilung. Er hat die kleine Ausstellung "Leipzig wird groß" mitkonzipiert.
Es lohnt sich, diese Zeit der Leipziger Stadtgeschichte mal genauer unter die Lupe zu nehmen, denn die Stadt ist in dieser Phase scheinbar explodiert.
"1870 lag die Einwohnerzahl bei 105.000 und 1914 bei 600.000. Innerhalb von 40 Jahren so ein Anwuchs."
Zehntausende neue Bürger, viele Firmengründungen in kurzer Zeit, für die Stadt Leipzig schien es damals kein Halten zu geben. Sie wurde in kurzer Zeit zu einem der industriellen Zentren Deutschlands. Noch heute wird der damalige Leipziger Größenwahn mit Respekt und einem Schmunzeln wahrgenommen. Zum Beispiel der Industrielle Carl Heine, ein Visionär seiner Zeit. Er wollte Leipzig mit einem ausgeklügelten Kanalsystem an die Weltmeere anschließen. Es gelang ihm nicht, aber die Leipziger danken es ihm noch heute, denn die Kanäle im Westen der Stadt sind beliebte Paddelstrecken.
Auch heute ist dieser Größenwahn immer mal wieder zu besichtigen. So gipfelte sie zum Beispiel in der Olympia-Bewerbung um die Sommerspiele 2012 gegen Städte wie London, Madrid, Moskau, New York und Paris. Leipzig scheiterte im Bewerbungsverfahren, aber immerhin, man hatte es probiert.
Vier Jubiläen auf einmal
Nun zurück zu dieser Phase des Wachstums im späten 19. Jahrhunderts, von der natürlich auch die Leipziger Messe profitierte:
"Die Messe spielt dann praktisch in der dritten Tafel eine Rolle."
Ulrich Kiehl läuft ein paar Schritte, fängt wieder an zu sprechen:
"Leipzig hatte mal drei Messen, die Frühjahrsmesse, die Herbstmesse, die Neujahrsmesse. Aus diesen drei Messen, wurde dann die Mustermesse. Dann wurden auch neue Häuser gebaut, die Messehäuser."
Genug Schautafel, mehr Spaziergang bitte. Gemeinsam mit Ulrich Kiehl laufe ich die paar Meter von der Leipziger Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz bis zum Markt. Vorbei am Neuen Rathaus, das 1905, also mitten in der Gründerzeit eingeweiht wurde. Mit über 600 Räumen zählt es zu den größten Rathausbauten der Welt. Auch hier sei wieder – nur am Rande - auf den Größenwahn verwiesen.
Leipzig Marktplatz, hier sind sie zu sehen, die großen Messehäuser, mit den für Leipzig so typischen Passagen:
"Man hat sie benutzt, um schneller mit den Fuhrwerken voranzukommen. Man konnte auch in den Messehäusern wenden mit so einem Fuhrwerk, denn hier war alles voll mit Waren."
Und natürlich, was wäre die Leipziger Gründerzeit ohne den Hauptbahnhof? Auch hier gilt wieder: größer schneller weiter, bei seiner Eröffnung war er mit 26 Bahnsteigen der größte Europas. Der Autor Helge-Heinz Heinker hat mehrere Bücher über die Leipziger Wirtschaftsentwicklung geschrieben.
"Nun war seit 1837 schrittweise das Leipziger Eisenbahnnetz entstanden. Aber in einer bereits bestehenden Stadt. Das heißt, die Bahnhöfe konnten nicht mitten ins Zentrum gelegt werden, sondern die Bahnhöfe reihten sich um das Zentrum herum. Mit den beiden größten Stationen Hauptbahnhof gebaut zwischen 1909 und 1915. Und dem Bayrischen Bahnhof, der noch aus dem 19. Jahrhundert stammte."
Und wie der Zufall es will, gibt es hier noch ein Jubiläum: der Bahnhof wird 100 Jahre alt.
Ersterwähnung, Messe, Nikolaikirche, Hauptbahnhof – Leipzig kann sich im Moment nicht retten vor Jubiläen.
Wer Lust hat, kann in den kommenden Monaten Museums-Ping-Pong spielen und zwischen Schaukästen und Leipziger Innenstadt-Straßen hin und her pendeln…