100 Tage Rot-Rot-Grün in Thüringen

Bodo Ramelow - Landesvater und Hoffnungsträger

Der Linken-Politiker Bodo Ramelow
Der Linken-Politiker Bodo Ramelow ist Ministerpräsident von Thüringen. © Imago
Von Henry Bernhard · 19.03.2015
Der Linken-Politiker Bodo Ramelow ist seit 100 Tagen Ministerpräsident. An der Regierungsspitze von Thüringen gibt er sich überparteilich-präsidial, so manchem Linken gilt er als zu sozialdemokratisch. Kann Ramelow mit dem Thüringer Modell den Weg für Rot-Rot-Grün im Bund ebnen?
Bodo Ramelow: "Ich bin der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. Ich repräsentiere eine Koalition von drei Parteien. Und ich bin nicht der Vertreter der Linken in der Staatskanzlei."
Es war sein dritter Anlauf. Bodo Ramelow wollte unbedingt Ministerpräsident in Thüringen werden. 2009 schien er schon kurz vor dem Zieleinlauf, um dann in den Sondierungen mit SPD und Grünen zu scheitern. Am 5. Dezember 2014 aber erfüllte sich das Ziel des Gewerkschaftlers, der 1990 nach Thüringen gekommen war. Er wurde Ministerpräsident einer rot-rot-grünen Landesregierung. Und er verblüffte viele Beobachter, wie er sich auf den Weg zu einer fast landesväterlichen Figur machte.
Die Fragen der Sendung liegen auf der Hand: Werden die hohen der erzeugten Erwartungen an den neuen Politikstil in Thüringen sich erfüllen? Kann Ramelow mit dem Thüringer Modell den Weg für Rot-Rot-Grün im Bund ebnen, sozusagen als Antwort auf das Hessen-Modell mit Schwarz-Grün? Dann müsste er mit pragmatischer Politik die Deutschen vom Thüringer Weg überzeugen. Henry Bernhard geht diesen und anderen Fragen nach.
Susanne Hennig-Wellsow: "Sie sehen nach 100 Tagen: Thüringen steht. Es gibt nicht den Untergang des Abendlandes, wie es einige befürchtet haben."
Andreas Bausewein: "Das Abendland ist nicht untergegangen, die Versorgungslage ist auch noch einwandfrei."
Stephanie Erben: "In 100 Tagen wird man die Welt nicht verändern – das ist aus unserer Sicht auch ganz klar."
Die Parteivorsitzenden der Thüringer Linken, der SPD und der Grünen auf ihrer Bilanz-Pressekonferenz zu den ersten 100 Tagen Rot-Rot-Grün. Parteivorsitzende, die der Öffentlichkeit mitteilen, dass ihre Regierungskoalition doch nicht so schlimm ist wie befürchtet, sind ganz offensichtlich in der Defensive. Nicht, weil sie so schlecht gearbeitet hätten, sondern weil der Start im vergangenen Herbst alles andere als leicht war.
Zur Erinnerung: Die SPD war bei der Landtagswahl auf desaströse zwölf Prozent eingebrochen und wäre am liebsten in die Opposition geflüchtet. Die CDU warb um eine Fortsetzung der Schwarz-Roten Koalition. Die SPD aber war frustriert vom schlechten Klima in der Koalition und begab sich in parallele Sondierungen mit den Linken und den Grünen. Schon da war der Gegenwind heftig, von der CDU, von manchen Sozialdemokraten und einigen Bürgerrechtlern, die 25 Jahre nach dem Fall der Mauer keinen linken Ministerpräsidenten in Deutschland sehen wollten. Aber auch Tausende Bürger protestierten in Erfurt gegen Rot-Rot-Grün auf den größten Demonstrationen seit 1989 – zuletzt am Abend vor der Ministerpräsident-Wahl.
Martina Schweinsburg: "Nicht alles, was nach einer Wahl rechnerisch möglich ist, solltet ihr Abgeordneten uns Bürgern als angeblichen Wählerwillen unterschieben."
Stimme: "Das können sie doch gar nicht finanzieren!"
Stimme: "Ich bin aus dem Westen erst zugezogen. Und wenn ich gewusst hätte, dass es hier eine rot-rot-grüne Regierung gibt, hätte ich mir das, glaube ich, auch ernsthaft anders überlegt, hierher zu ziehen."
Am Tag darauf, am 5. Dezember 2014, dann die Ministerpräsidenten-Wahl. Ein Krimi. Im ersten Wahlgang fehlt Bodo Ramelow noch eine Stimme. Nach dem zweiten verliest Landtagspräsident Christian Carius das Ergebnis.
Christian Carius: "Auf den Wahlvorschlag der Linke, SPD, Bündnis90/ Die Grünen, den Abgeordneten Bodo Ramelow, entfielen 46 Ja-Stimmen." (Jubel, Beifall)
Vom cholerischen Hitzkopf zum Staatsmann
Es war geschehen: Die Abgeordneten des Thüringer Landtags hatten einen linken Ministerpräsidenten gewählt. Mit allen Stimmen der Rot-Rot-Grünen Koalition, mit der denkbar knappsten Ein-Stimmen-Mehrheit der Genossen der Ex-SED und der 1989 wieder gegründeten Sozialdemokratie und der Ökos und Ex-Bürgerrechtler von Bündnis 90 / Die Grünen. Fünf Jahre wollen sie gemeinsam regieren unter dem aus dem Westen stammenden Linken Bodo Ramelow. Ramelow, früher als cholerischer Hitzkopf bekannt, hatte sich schon seit Monaten staatsmännisch gegeben. Noch am Tag seiner Wahl zitierte er im Landtag den ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau.
Bodo Ramelow: "Versöhnen statt spalten! Daran wird sich die neue Landesregierung messen lassen müssen. Und daran werde auch ich persönlich mich messen lassen müssen."
Der Oppositionsführer, der CDU-Fraktionsvorsitzende Mike Mohring, stellte markig klar, was er von der – so wörtlich – "Koalition der Verlierer" aus "Stalinisten" und "Stasi-Spitzeln" hält.
Mike Mohring: "Rot-Rot-Grün in Thüringen als der zweite Sündenfall in der Politik. Ich hoffe, dass der Zeitraum vom zweiten Sündenfall bis zur Erlösung nicht, wie bei dem ersten, 4000 Jahre, sondern maximal fünfg Jahre dauert. Das hoffe ich für dieses Land."
Inzwischen schlagen die Wellen deutlich flacher in Thüringen, die Landesregierung bewegt sich fast geräuschlos; die CDU bemüht sich um konstruktive Opposition und bringt sogar Anträge gemeinsam mit Rot-Rot-Grün in den Landtag ein, während der stolze Ministerpräsident Bodo Ramelow gar nicht müde wird zu wiederholen:
Bodo Ramelow: "Ich bin der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen; ich repräsentiere eine Koalition von drei Parteien; und ich bin nicht der Vertreter der Linken in der Staatskanzlei."
In der Tat verliefen die ersten Wochen von Rot-Rot-Grün fast gespenstisch ruhig. Die neue Landesregierung hatte, um die Profilierungs-Wünsche der drei Koalitionspartner zu befriedigen, den Zuschnitt fast aller Ministerien großzügig verändert. Möbelwagen werden noch über Monate Beamtenschreibtische kreuz und quer durch Erfurt transportieren. Die Opposition moniert, dass die Umzüge wertvolle Zeit vernichte und zu teuer sei. Doch mag im Inneren der Landesregierung auch Betriebsamkeit herrschen: Nach außen herrscht politische Ruhe in Thüringen. Eine Revolution sieht anders aus.
Matthias Hey: "Ja, es gibt den einen oder anderen, der den Scherz macht: "Es gibt ja noch Südfrüchte in den Supermärkten!" Aber das war ja auch nicht zu erwarten, dass da in irgendeiner Form eine Veränderung eintritt",
scherzt Matthias Hey, Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag.
Matthias Hey: "Was vor der Vereidigung des Ministerpräsidenten von manchen Leuten da an Schatten an die Wand gemalt wurde mit grässlichen Fratzen und furchtbaren Untergangsszenarien – die Unternehmer bleiben aus; manche Unternehmer verlegen ihren Betriebssitz dann usw., usf. – all das ist nicht eingetreten; die Leute merken, dass die Sonne immer noch im Osten auf- und im Westen untergeht, die Straßenbahnen und die Busse fahren …"
Die Grüne Anja Siegesmund, die sich als neue Umweltministerin endlich am Ziel ihrer politischen und persönlichen Pläne sieht, ergänzt:
"Rot-Rot-Grün ist eine ganz normale Regierung; das ist wohl das, womit die wenigsten gerechnet haben."
Benjamin-Immanuel Hoff: "Das war ja von uns eine clevere Strategie, erst ganz viel Panik zu verbreiten und die große Unruhe zu erzeugen! Nein, Spaß beiseite!"
Benjamin-Immanuel Hoff, linker Staatskanzleiminister und intellektueller Vordenker der Rot-Rot-Grünen Landesregierung. Er ist erst 39 Jahre hat doch schon Erfahrung als Staatssekretär in Berlin.
Benjamin-Immanuel Hoff: "Also, es hat ja nicht den großen Ruf bei der letzten Landtagswahl gegeben: "Krempelt das Land um, macht alles anders!", sondern da ist eine Regierung abgewählt worden und eine neue ist installiert worden. Und diese neue Regierung fängt jetzt eben an, Projekte umzusetzen."
Im März ging es dann auch endlich los mit Gesetzesentwürfen und Initiativen: Das Landeserziehungsgeld wird abgeschafft, das Geld dafür soll in den Ausbau von Kitas und in ein gebührenfreies Kita-Jahr gesteckt werden, allerdings erst in frühestens zwei Jahren. Arbeitnehmer sollen zukünftig auch in Thüringen fünf Tage pro Jahr für persönliche Weiterbildungen freigestellt werden – so wie es in den meisten anderen Bundesländern schon üblich ist. Der Haushalt für dieses Jahr soll erst im Sommer verabschiedet werden. Zumindest das bietet Angriffsfläche für den CDU-Fraktionschef Mike Mohring.
Mike Mohring: "Es ist das eingetreten, was wir geahnt haben: Dass diese Regierung nicht in den Tritt kommt und dass sie ihre Wahlversprechen nicht halten kann. Der Regierungsstart von Rot-Rot-Grün ist verkorkst."
"CDU-Politik mit roter Schleife"
Andererseits aber macht es Rot-Rot-Grün der Opposition auch schwer zu kritisieren. Da die neue Landesregierung auf vielen Gebieten einfach da weitermachen will, wo Schwarz-Rot aufgehört hat, muss sich Bodo Ramelow schon mal anhören, er mache "CDU-Politik mit roter Schleife".
Mike Mohring: "Na ja, die Regierung hat im Prinzip sich angewöhnt, das 'Weiter so!' zu pflegen und möglichst nicht anzuecken und aufzufallen und aus dieser Taktik eine Strategie des Nichtstuns entwickelt: Wer nichts erledigt, wer nicht arbeitet, macht auch wenig Fehler!"
Ein wichtiger Punkt schon im Wahlkampf waren gerade für die SPD die Kommunalfinanzen. Der Thüringer SPD-Vorsitzende Andreas Bausewein hatte – durchaus eigennützig in seiner Funktion als Erfurter Oberbürgermeister – den Kommunen einen "wahren Geldregen" in Aussicht gestellt. Sein SPD-Freund, der Innenminister Holger Poppenhäger, hatte im Februar den Kommunen 135 Millionen Euro frisches Landesgeld zusätzlich versprochen – und wurde vom Ministerpräsidenten und den Fraktionschefs der Koalition gnadenlos zurückgepfiffen. Es soll nun 50 Millionen weniger für die Kommunen geben. Der öffentliche Eklat war der Landesregierung sicher. Die Kommunen fühlen sich getäuscht. Auch der Geschäftsführer des Landkreistages, Thomas Budde.
"Es ist auch neu für uns, wir müssen schauen, wie wir damit umgehen, weil bisher natürlich immer gegolten hat: das, was man ausgehandelt hat mit der Landesregierung, dass man sich daran auch hält, und dass die dann natürlich im Grunde genommen komplett eingesammelt und nach unten korrigiert werden, dann ist das eine Situation, die ich bisher im Grunde auch nicht so gekannt habe."
Auch sonst konnte Rot-Rot-Grün noch keine Lorbeeren ernten, sondern musste auf vielen Feldern das teure Erbe der Vorgängerregierungen antreten: Die geplante Stromtrasse in Ostthüringen können die Grünen nicht verhindern; die Altlasten aus dem Kalibergbau drohen, die Landeskasse auf Jahrzehnte erheblich zu belasten; ein Wahlgeschenk der CDU von 2004 wird in 50 Jahren über 2 Milliarden Euro kosten.
Das Pflichtprogramm absolviert Rot-Rot-Grün also bislang ohne Glanz mit kleinen Patzern, die Haltungsnoten sind besser: Hatte in den Ministerien, die teilweise seit 24 Jahren in CDU-Hand waren, nach der Landtagswahl aus Angst vor Linken und Grünen Heulen und Zähneklappern geherrscht, so ist größtenteils Entspannung eingezogen, berichtet der Linke Benjamin-Immanuel Hoff, Staatskanzleiminister.
Benjamin-Immanuel Hoff: "Die Befürchtungen habe ich mitbekommen und kriege jetzt, nach einigen Wochen, mit, dass große Entspannung herrscht und häufig Erstaunen unter dem Gesichtspunkt, 'Das hätten wir uns echt nicht so einfach vorgestellt!' oder: 'Selten wurde so viel kommuniziert wie unter dieser neuen Hausleitung!' Also insofern: Ich kann da die Befürchtung verstehen, aber es gibt dafür keine Ursache, und jetzt im Alltag spielt es keine Rolle."

Blick auf das Opernhaus in Erfurt
Blick auf das Opernhaus in Erfurt © picture-alliance / dpa-ZB / Soeren Stache
Auch aus anderen Ministerien berichten Mitarbeiter von der Entspannung nach den unsicheren Wochen. Die Neuen hörten oft erst einmal zu. Manche Spitzenbeamte und Pressesprecher sind baß verwundert, dass sie ihre Jobs behalten haben. Anja Siegesmund, die grüne Umweltministerin, wurde freundlich in ihrem Ministerium empfangen, auch wenn sie in ihrem Büro nur einen leeren Schreibtisch und einen Mufflon-Schädel an der Wand vorfand.
Anja Siegesmund: "Nach 25 Jahren CDU hat natürlich auch ein Stil des Wegschauens, Dirigierens von oben nach unten stattgefunden, der zum Teil auch neue Politikansätze auch im Kern erdrückt hat. Gerade in meinem Haus, wo die Naturschützer sitzen und die Energieleute, muss ich gar nicht hergehen und muss die großen Linien in dem Sinne als neu überzeugend darlegen."
Auch das Klima innerhalb der Rot-Rot-Grünen Koalition wird von allen drei Parteien sehr positiv beschrieben. Gerade die Sozialdemokraten, denen noch die Erfahrungen ihrer Koalition mit der CDU in den Knochen stecken, fühlen sich wohl unter dem linken Ministerpräsidenten, mit den drei linken Ministerinnen, die bis 1989 alle in der SED waren und mit den Grünen, auch wenn die ihnen manchmal etwas zu viel und ausgiebig diskutieren. Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee:
Wolfgang Tiefensee: "Sehr, sehr kollegial, sehr auf die Sache orientiert und auf den Erfolg ausgerichtet. Das klingt jetzt vielleicht wie Vanillesauce über die Exekutive gegossen, aber es ist tatsächlich so."
Die Finanzministerin und Vize-Ministerpräsidentin Heike Taubert, SPD, erklärte sogar schon, dass sie sich sogar eine Fortsetzung der Koalition über 2019 hinaus vorstellen könne. Wenn aber erst die schwierigen Verhandlungen kommen, etwa zum kommunalen Finanzausgleich oder zum Haushalt, wenn klar wird, dass das Geld nicht reicht, um alle Wahlversprechen zu erfüllen, dann könnte es schnell auch ruppiger zugehen im Rot-Rot-Grünen Kabinett. Die Grünen ließen inzwischen schon mal durchblicken, dass sie die Koalition auch scheitern lassen würden, wenn ihre "Herzenswünsche" nicht ausreichend berücksichtigt würden. Und die Linken zeigen, dass ihnen das und überhaupt das ewige Diskutieren der Grünen nicht gefällt. So watschte die Linke-Chefin Susanne Hennig-Wellsow ihre Kollegin von den Grünen öffentlich ab.
Susanne Hennig-Wellsow: "Also, vielleicht zwei Sätze: Der Koalitionsausschuss ist das höchste Gremium und Entscheidungsgremium dieser Koalition! Es muss aber schon sehr, sehr gute Argumente geben, warum wir nicht bei dieser Vereinbarung bleiben sollten."
Die bisherigen Beschlüsse der Koalition – der Winterabschiebestopp für Flüchtlinge oder das Bildungsfreistellungsgesetz – haben nicht viel Geld gekostet, und vor allem nicht das eigene.
Auch die DDR-Aufarbeitung ist kein teures Thema, für die Linke in führender Regierungsverantwortung aber überlebenswichtig.
Bodo Ramelow: "Wir werden als Landesregierung das Thema Aufarbeitung zum zentralen Thema machen, dass SED-Diktatur immer zum Gegenstand der weiteren Erhellung und Erleuchtung und Begleitung sein muss, damit man weiß, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen darf."
(Beifall)
So Bodo Ramelow in seiner Regierungserklärung. Schon in den Sondierungen im Herbst haben die Linken mit Bauchschmerzen ein Papier unterzeichnet, dass die DDR zum "Unrechtsstaat" erklärt. Es war der Preis der Macht, der Preis für den ersten linken Ministerpräsidenten. Bodo Ramelow selbst fällt es nicht schwer, die DDR zu verdammen, er kam erst 1990 nach Thüringen, aus dem Westen. Seit ein paar Monaten lässt er kaum eine Veranstaltung aus, auf der es um die DDR-Geschichte geht. Wie etwa im Januar, in der Stasi-Gedenkstätte Andreasstraße in Erfurt. Er weiß, dass er als Linker für manche SED-Opfer eine Zumutung ist.
Bodo Ramelow: "Ich fühl mich gar nicht als Prügelknabe. Aber ich bin ja der Anstößige! Und ich wollte auch der Anstößige sein. Wo sind wir hier – wir sind im Stasi-Gefängnis! Das heißt, hier ist im Namen der SED Leid begangen worden. Und deswegen sitze ich hier. Und ich sitze hier nicht, weil ich auf einer Veranstaltung bin, die was mit mir zu tun hat, sondern ich bin Zuhörer. Und ich wollte auch Zuhörer sein! Weil diejenigen, die vor 25 Jahren hier die Türen aufgestoßen haben, haben den größten Mut ihres Lebens bewiesen. Und damit wir, damit ich heute überhaupt Ministerpräsident sein kann, muss es diesen Akt der Befreiung gegeben haben, weil die Menschen ihre Peiniger und die Orte der Pein überwunden haben."
Christian Dietrich: "Als nächstes hat sich Renate Ellmenreich gemeldet."
Gegen Ende der Veranstaltung bittet eine Frau im Publikum um das Mikrofon. Renate Ellmenreich. Ihr Freund und Vater ihrer Tochter, der 23-jährige Matthias Domaschk, war 1981 von der Stasi festgenommen und verhört worden. Zwei Tage darauf war er tot. Selbstmord, behauptete die Stasi.
Renate Ellmenreich: "Auch 25 Jahre danach wühlt es die Seele noch auf, vor den vergitterten Fenstern hier zu stehen. Deswegen stockt mir vielleicht ein bisschen die Stimme. Entschuldigung! Herr Ministerpräsident, nachdem ich mit Dankbarkeit gehört hatte, was sie in ihrer Antrittsrede gesagt hatten zu ihrer Bereitschaft, die Aufarbeitung fördern zu wollen, hatten wir ihnen einen Brief geschrieben, meine Tochter und ich, und um ihre Mithilfe gebeten."
Renate Ellmenreich möchte, dass der linke Ministerpräsident ihr hilft, den Prozess um den Tod von Matthias Domaschk wieder aufzunehmen – oder zumindest neue Untersuchungen anstellen zu lassen, wie der Vater ihrer Tochter zu Tode gekommen ist.
Renate Ellmenreich: "Und ein juristischer Prozess – auch, wenn er nicht zu direkten Verurteilungen führt – kann aber doch die Sachlage klären helfen: Unter welchen Umständen ist Matthias zu Tode gekommen? Bis heute ist das ja nicht klar. Ich bitte also hier so noch einmal öffentlich darum, sich helfend an unsere Seite zu stellen und zu tun, was möglich ist. Dankeschön." (Beifall)
Der angesprochene Ministerpräsident Bodo Ramelow lässt sich das Mikrofon reichen und holt weit aus.
Bodo Ramelow: "Der Brief liegt auf meinem Schreibtisch. Ich habe das ins Haus jetzt gegeben. Der Punkt ist für mich nur: Wenn die Juristen im Haus sagen 'Es reicht nicht für ein Wiederaufnahmeverfahren' – bekommt es dann eine Dimension, dass der Ministerpräsident mit meinem Parteibuch sich dem Aufarbeiten nicht stellen will, oder bekommt es eine Diskussion, dass die Juristen einfach sagen, also das sei jetzt ein juristisches Thema? Und deswegen: Ja, das ist mein Anliegen, in der Hoffnung, dass ich mit ihnen gemeinsam eine Chance finde, damit man wirklich die Umstände nochmal überprüfen kann.
Die Koalitionspartner, SPD und Grüne, vertrauen auf das Bekenntnis des linken Ministerpräsidenten, wohl wissend, dass Ramelows Aufklärungs- und Selbstbezichtigungsdrang keinesfalls ungeteilte Zustimmung bei der Linken findet. Auch die Opposition erkennt Ramelows Willen zur Aufarbeitung an, nicht aber den seiner Partei. Inzwischen hat der Ministerpräsident eine interministerielle Arbeitsgruppe "Tod von Matthias Domaschk" eingesetzt. Fünf Staatssekretäre sollen – so wörtlich – "neue Maßstäbe bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur setzen" – wohl wissend, dass die Chance, in dem Todesfall auf neue Erkenntnisse zu stoßen, gering ist. Die Aufarbeitung soll zudem "konsequent ideologiefrei" stattfinden, so die Anweisung. Ein Ansinnen, das auch Kritiker hat. Christian Dietrich, Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, warnt vor einem "Aufarbeitungskombinat Staatskanzlei". Aufarbeitung gehöre in die Zivilgesellschaft, an Gerichte, in Universitäten und Museen.
Christian Dietrich: "Da gab’s ja mehrfach schon die Äußerung, dass "ideologiefreie Aufarbeitung" stattfinden soll. Das unterstellt, dass bis jetzt alles unter "Ideologie" lief und die falschen Maßstäbe hatte. Aber es ist eine Arroganz anzunehmen, dass eine Auseinandersetzung ohne Interessen geschieht."
Aber es gibt auch die Hoffnung, dass ein linker Ministerpräsident die Möglichkeit hat, an das Schweigekartell der Täter heranzukommen.
Christian Dietrich: "Also, unter den Opferverbänden gibt es welche, die sehr klar sagen, dass hier Erwartungen geweckt werden, die ja gar nicht erfüllt werden. Also das heißt: Enttäuschung vorprogrammiert. Es gibt aber auch welche, die sagen: Ich bin nicht zum Ergebnis gekommen bei meinen Prozessen um Entschädigung – endlich gibt’s eine Möglichkeit! Und die haben sie an die Staatskanzlei zum Teil auch mit Petitionen gewandt."
Vielen Linken ist Ramelow zu sozialdemokratisch
Der Adressat, Ministerpräsident Bodo Ramelow, hofft, durch seine Autorität und den Zugang seiner Partei zu den alten Netzwerken, das Schweigen zu durchbrechen. Aber auch, wenn sich Bodo Ramelow in Thüringen überparteilich-präsidial gibt, wenn er das linke Pendant zum Grünen Kretschmann in Baden-Württemberg darstellen möchte, so drängt sich doch die Frage auf, was ein linker Regierungschef langfristig für Thüringen bedeutet und welche Signale die Koalition der Sozialdemokraten und Grünen mit und unter den Linken für die bundesdeutsche Ebene aussendet. In Thüringen selbst wird diese Frage kaum diskutiert. In welche Richtung manche Linke wollen, ist gelegentlich aus Partei- oder Fraktionskreisen zu hören, denen Ramelow viel zu sozialdemokratisch ist. Die Partei- und Fraktionsvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow zum Beispiel schrieb im Neuen Deutschland, dass "mehr Geld für die Kommunen" und "bessere Kitas" "noch keine wirkliche Bewegung hin zu einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft" seien.
Susanne Hennig-Wellsow: "Der Koalitionsvertrag ist der Koalitionsvertrag und ein Vertragswerk von Parteien, die unterschiedliche auch gesellschaftliche Auffassungen haben. Das andere ist unser Parteiprogramm. Ich selbst begreife mich als Sozialistin und weiß aber deswegen umso mehr, dass gesellschaftliche Modelle nicht von oben herab bestimmt werden, auch wirtschaftliche Modelle in dem Fall nicht, sondern, dass sie von unten wachsen müssen. Das, was wir als Rot-Rot-Grün erreichen können, ist ja für unsere praktischen Ziele auch, die wir im Koalitionsvertrag miteinander ausgehandelt haben, gesellschaftliche Mehrheiten gewinnen zu wollen. Wir werden aber nicht per Beschluss Gesellschaftsveränderung vornehmen."

Die Krämerbrücke in Erfurt
Die Krämerbrücke in Erfurt© Harald Brandt
Ramelow selbst bekennt sich zur sozialen Marktwirtschaft – auch wenn es nicht allen in seiner Fraktion gefällt –, aber auch zur gerechteren Verteilung des Reichtums in der Welt. Nach Revolution klingt das nicht. Sein Stratege und Vordenker, Staatskanzleiminister Benjamin-Immanuel Hoff, will sich nicht auf theoretische Debatten darüber einlassen, was ein demokratischer Sozialismus überhaupt bedeutet. Auch ihm geht es erst mal um die Macht auf möglichst breiter Basis.
Benjamin-Immanuel Hoff: "Wir wissen nicht, wie eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft aussieht. Aber wir wissen, dass sie nur auf der Basis dieser Gesellschaft aufbauen kann und dass sie eine demokratische Weiterentwicklung bestehender Strukturen, Bürgerrechte etc. sein kann."
Auf dem Weg dahin liegen noch die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern und die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin, wo die Linke sich Chancen auf eine Regierungsbeteiligung erhofft. Bodo Ramelow dagegen spricht öffentlich gar nicht mehr über Themen außerhalb von Thüringen. Er macht seine politische Rechnung mit einer ganz persönlichen Arithmetik auf.
Bodo Ramelow: "In Thüringen bin ich Ministerpräsident des Freistaates und Repräsentant dreier Parteien. Das heißt: ich bin zu 85 Prozent Sozialdemokrat, zu 95 Prozent grün und zu 92,5 Prozent links und zu 100 Prozent rot-rot-grün!"
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