100 Prozent normal

Von Alexander Kohlmann · 31.05.2012
Was macht meine Stadt aus? Diese Frage hat die Gruppe "Rimini Protokoll" schon den Einwohnern von Berlin, Köln und Wien gestellt. Nun ist Braunschweig dran. Zum Auftakt des Festivals "Theaterformen" wurden 100 Braunschweiger auf die Bühne geholt, die ein umfassendes Bild ihrer Stadt spiegeln sollten.
Mit ihren statistischen Kettenreaktionen hat die Gruppe Rimini Protokoll bereits multikulturelle Metropolen und Großstädte wie Berlin, Wien und Köln zu angeblich 100 Prozent auf der Bühne gespiegelt. Das Prinzip ist denkbar einfach. Jeder der hundert Menschen auf der Bühne repräsentiert ein Hundertstel seiner Stadt. Ausgewählt werden keine Schauspieler, sondern Menschen aus dem Alltag, die sich beginnend bei einem Einzigen in einer statistischen Kettenreaktion zu einem Abbild der Bevölkerung zusammenfinden, dass möglichst viele statistische Fakten - vom Geschlecht bis zum Wohngebiet – in sich vereinen kann.

Während Rimini Protokoll parallel an einem Bild der Millionen-Metropole London arbeitet, bringt die Gruppe zur Eröffnung des Festivals Theaterformen eine Braunschweig-Fassung dieser statistischen Kettenreaktion auf die Bühne, in der ein Einwohner nicht knapp 80000 (wie im Falle London) sondern nur ca. 2500 Einwohner repräsentieren muss. Das Ergebnis ist ein erstaunlich homogenes. Traut man dem Rimini-Auswahlprinzip, ist Braunschweig eine Stadt ohne allzu große Ausschläge nach oben und unten. Viele Wissenschaftler und praktisch denkende Menschen leben hier, die jungen, hippen Kreativen mag es auch geben, auf der Dreh-Bühne im Rund der hundert Repräsentativen fallen sie kaum ins Gewicht.

Auch die ganz Reichen und die ganz Armen sucht man vergebens in diesem Abbild einer bodenständigen und mittelständischen Stadtgesellschaft. Was würden wohl für Gegensätze in einer Stadt wie Hamburg oder München auf der Bühne zusammentreffen? Spannend an der Braunschweiger Auswahl sind vor allem jene, die nicht auf der Bühne stehen. Die Fragerunden vertiefen das Bild einer gesattelten und irgendwie befriedeten Großstadt. Fast die Hälfte wohnt bereits im Eigenheim, auch junge 28jährige haben den Partner fürs Leben längst gefunden, Schulden haben mit knapp 30 Prozent nicht all zu viele.

Persönliche Einzelschicksale wie das zweier Frauen, die in einem Sterbehospiz ihre Gäste bis zum Tod begleiten, berühren naturgemäß, aber das ist nun wahrlich kein Braunschweig-Phänomen, sondern auch eine Faszination des Echten, die nicht nur auf Theaterbühnen funktioniert. Mehr Mut zum Unerwarteten würde dem Rimini-Konzept gut tun. Warum diskutieren die Braunschweiger nicht über ihre Stadt, anstatt ihre Biografien vom Teleprompter abzulesen an diesem durchgestylten Abend, der so exakt geplant ist, wie viele klassische Theaterinszenierungen (leider) auch. Arbeiten von Regisseuren wie Sebastian Hartmann weisen in ihrer fiktiven Welt durchaus ein größeres Überraschungspotenzial auf, als die von Rimini Protokoll behauptete Wirklichkeit.

So bleibt es eine Selbstvergewisserung von Publikum und Menschen auf der Bühne über Dinge, die sowieso schon jeder irgendwie ahnen konnte, statt neuer Erkenntnisse in der Konfrontation mit dem Anderen. Warum nicht hundert Berliner nach Braunschweig einladen und umgekehrt den Hauptstädtern einmal zeigen, wie angenehm das Leben in einer überschaubaren Großstadt sein kann? In der Gegenüberstellung könnten die Rimini-100-Prozent-Abende so eine wirkliche Relevanz entfalten.


Mehr Infos zur Inszenierung im Netz:

Theaterformen 2012: "100 Prozent Braunschweig" von "Rimini Protokoll"
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