"0,0 Promille für Jugendliche"

Wolfgang Büscher im Gespräch mit Ulrike Timm · 23.08.2011
Der Alkoholkonsum unter Minderjährigen ist laut aktueller Drogen- und Kriminalitätsstatistiken wieder leicht rückläufig. Dennoch gibt es unter Kindern und Jugendlichen einen weit verbreiteten exzessiven Alkoholmissbrauch. Der Journalist und Buchautor Wolfgang Büscher hat daher radikale Forderungen aufgestellt.
Ulrike Timm: Alkopops, die haben es gerade bis in den Duden geschafft, aber damit halten sich komasaufende Jugendliche gar nicht so lange auf, harter Schnaps kommt da ganz schnell hinzu, bei den Kindern noch, bei den 12-, 13-Jährigen. Trinken, um sich zu betrinken, erbrechen und sich weiter betrinken, das ist für eine bestürzende Minderheit von Kindern und Jugendlichen zur Gewohnheit geworden. Die Notaufnahmen in Krankenhäusern verarzten oft dieselben Kinder und Jugendlichen mehrfach. Der Journalist Wolfgang Büscher hat gemeinsam mit Bernd Siggelkow jetzt ein Buch verfasst, das vor allem auf die Erfahrungen zurückgreift, die beide in der Arbeit des christlichen Jugend- und Kinderwerks Die Arche gemacht haben. Herr Büscher, ich grüße Sie!

Wolfgang Büscher: Ja, hallo Frau Timm!

Timm: "Generation Wodka" so heißt das Buch, "Wie sich unser Nachwuchs mit Alkohol die Zukunft vernebelt". Das ist bei allem Problembewusstsein ein sehr großes Wort, denn der Alkoholkonsum geht nach Drogen- und Kriminalitätsstatistiken ja schon wieder zurück, glücklicherweise. Generation Wodka, trifft es das?

Büscher: Ja, da gebe ich Ihnen natürlich vollkommen recht mit dieser Einschätzung, wir wollten mit dem Titel bewusst provozieren. Wenn Sie sich einmal vorstellen, dass zehn Prozent aller zehn- bis zwölfjährigen Kinder in Deutschland sich mindestens einmal in der Woche betrinken, das heißt mehr als fünf Gläser eines hochprozentigen alkoholischen Getränkes zu sich nehmen, dann, glaube ich, ist dieser Titel auch bewusst und richtig gewählt. Nur muss man weiter sagen, die Statistiken sagen zwar, es geht etwas zurück, nur die weniger Jugendlichen trinken dafür umso mehr. Allerdings muss man hier ganz deutlich feststellen, oft fällt, wenn Jugendliche sich in Gruppen betrinken, einer um, der wird dann mit dem Krankenwagen in der Regel in die Notaufnahme gefahren, und die anderen Jugendlichen sind noch einmal ganz knapp daran vorbei geschrammt. Die Polizei hat uns gegenüber ganz deutlich zum Ausdruck gebracht, auch verschiedene Polizeistellen, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Das heißt, wir haben es mit weitaus mehr jugendlichen Trinkern zu tun, als viele es vermuten.

Timm: Nun sind Statistiken und Dunkelziffern ja immer so ne Sache, da weiß man nie ganz genau, in welche Richtung das Leben da rudert. Nun haben Sie ja als Pressesprecher der Arche, dem christlichen Kinder- und Jugendwerk, selber Erfahrungen gemacht mit Jugendlichen, die früh beginnen, viel zu viel zu trinken. Gibt es da typische Alkoholkarrieren, die schon mit zwölf, 13 beginnen?

Büscher: Ja, da muss man ganz klar sagen, wir haben inzwischen 15 Standorte, wir sind in Frankfurt, in München, in Hamburg, in Köln, in Düsseldorf und so weiter, also wir haben diese Erfahrungen schon gesammelt. Ich habe gerade vor einigen Stunden noch mit dem Jugendleiter unserer Einrichtung gesprochen, wir haben immer mehr junge Menschen, die immer früher anfangen zu trinken – eine Zwölfjährige zum Beispiel, die mit einer leer getrunkenen Wodkaflasche in die Arche kommt, um ihrem Freund eins auszuwischen, der einige Stunden vorher mit ihr Schluss gemacht hat. Viele Kinder sagen, wir trinken, um lockerer drauf zu sein. Viele Mädchen sagen, ja, dann trau ich mich auch, wenn ich getrunken habe, einen Jungen anzusprechen – umgekehrt ist es natürlich genauso.

Allerdings muss man sagen, die so genannte Druckbetankung ist kein soziales Problem, sie gibt es nicht nur in der Unterschicht oder, wie wir sagen, in der bildungsfernen Schicht, sondern die größte Gruppe von jungen Trinkern sind in der Tat die Gymnasiasten, die sind natürlich in der Regel etwas älter als die Hauptschüler, also getrunken wird durch alle Kasten, durch alle gesellschaftlichen Schichten. Aber wir machen in der Tat bei unseren jungen Besuchern die Erfahrung, dass sie immer jünger anfangen zu trinken, oft schon mit sieben, acht, neun Jahren.

Timm: Man staunt ja nicht schlecht, woher kommen die Kinder eigentlich so konsequent an ihren Stoff, denn es gibt viele Berichte über das Komasaufen von Jugendlichen und man sollte doch meinen, dass die Verkäufer, die Gaststättenbesitzer mit dem Alkoholverbot unter 18 doch ein bisschen strikter umgehen, als das bisher gehandhabt wurde. Und das ist auch meine Erfahrung, dass also jemand unter 18 schon mal abgewiesen wird, wenn er beim Supermarkt eine Flasche Whisky kaufen will.

Büscher: Natürlich ist das so. Wenn er in einen großen Supermarkt geht, da ist die Verantwortung der Mitarbeiter in der Tat sehr groß. Allerdings gibt es gerade in der bildungsfernen Schicht, aber bei den Älteren ist das ja noch einfacher, da geht dann ein Freund – wir haben in unseren Einrichtungen Freundeskreise, da ist der älteste junge Mann 22, das jüngste Mädchen zwölf –, das heißt, der 22-Jährige oder der 18-Jährige kauft dann den Alkohol. Das geht sehr einfach. Dann gibt es die zweite Möglichkeit: Sehr viel wird natürlich auch geklaut, das ist nicht zu unterschätzen. Und dann gibt es eben auch den dritten Punkt, und diese Erfahrung haben wir leider sammeln müssen, wir haben das in die Praxis umgesetzt: Wenn Sie an einen Kiosk gehen, in der Nachbarschaft zum Beispiel, und zwar nicht nur in Berlin, auch in anderen Städten, dann hat der Vater in der Regel beim ersten Mal dort Alkohol gekauft, und der Jugendliche kommt runter und sagt, mein Papa sitzt oben im Wohnzimmer und sieht fern, ich brauche eine Flasche Wodka. Das klappt dann durchaus häufiger. Also in der Tat ist das Herankommen an alkoholische Getränke für unsere Jugendlichen heute kein Problem.

Timm: Sie haben gesagt, Sie haben das ausprobiert, also ich nehme an, Testkäufe gemacht.

Büscher: Wir haben Testkäufe gemacht mit Jugendlichen.

Timm: … ganz jungen Kindern. Aber ist das wirklich repräsentativ? Kann man nicht sagen, kann man das wirklich so sagen, ich heb noch mal ab auf die Generation Wodka, dass man jetzt ein Problem, was sicherlich besteht, noch so steigert, dass man dann womöglich gar nicht mehr rauskommt?

Büscher: Natürlich trinken nicht 100 Prozent aller Kinder, zum Glück, dann würde unser Staat langfristig auch nicht überleben, aber ich glaube, dass zehn Prozent von zehnjährigen Trinkern schon ein beängstigendes Format hat. Wenn man einmal überlegt, dass Hirnzellen absterben, wenn Kinder sehr jung anfangen zu trinken, die Fettleber ist ein wesentlicher Aspekt. Wir haben mit Medizinern darüber gesprochen, wir haben wirklich mehrfach mit Polizeidienststellen in unterschiedlichen Städten gesprochen, die gesagt haben, unterschätzt nicht die hohe Dunkelziffer, wir bringen also nur die Krone sozusagen der Kinder in die Krankenhäuser. Wir reden hier schon von einer recht intensiven und starken Truppe. Und man muss sich einmal vorstellen, dass ein junger Körper bis zum 25. Lebensjahr sechs bis acht Monate braucht, um abhängig zu werden vom Alkohol – wir Erwachsenen benötigen dafür die gleiche Anzahl in Jahren. Es ist also wirklich ein Problem, was wir haben. Noch einmal muss ich sagen, mit dem Titel "Generation Wodka" wollten wir bewusst auch provozieren, um zumindest Denkanstöße zu geben, denn diese Probleme müssen in den nächsten Jahren gelöst werden.

Timm: Sie hören das "Radiofeuilleton" im Deutschlandradio Kultur und wir sprechen mit Wolfgang Büscher über seine Untersuchungen von Jugendlichen und Alkoholmissbrauch. Herr Büscher, Sie fordern sehr radikale Maßnahmen, Sie fordern ein vollständiges Alkoholverbot in der Öffentlichkeit. Wie soll das gehen und wie soll das ausgestaltet sein?

Büscher: Ja, wenn ein junger Mann heute, der mit 1,5-Promille an der U-Bahn steht – wir hatten das in Städten wie München, Frankfurt, Berlin –, dann ist er häufig eine lebende Waffe und greift unschuldige Passanten an, die zufällig dort vorbeikommen. Hier muss ganz klar Opferschutz vor Täterschutz gehen. Auch hier geben wir einen Denkanstoß – ob es nun die 0,5-Promille-Grenze ist oder die Ein-Promille-Grenze, ein angetrunkener Mann oder eine angetrunkene Frau haben in der Öffentlichkeit nichts verloren. Wir haben gerade heute ein Beispiel gehört: Wenn Sie zum Arzt gehen und bekommen beim Zahnarzt mehrere Spritzen, dann rät der Arzt, laufen Sie nicht alleine über die Straße, lassen Sie sich abholen, und ein angetrunkener darf das. Wir fordern noch viel mehr. Wir fordern vor allen Dingen, dass alkoholische Getränke raus müssen aus unseren Supermärkten, weil hier suggeriert man Kindern: Guck’ mal, da steht Wodka neben Butter und Brot, das ist also ein wichtiges Lebensmittel. Man kann das in eine Schmuddelecke stecken, ähnlich wie man das in Videotheken mit den Pornos macht. In England haben sie ganz tolle Erfahrungen, nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen: Dort hat man kleinere Gläser genommen, nicht mehr die großen Gläser. Wenn Sie heute zum Oktoberfest gehen und sagen, Sie trinken zwei Maß, dann sagt man, okay, halt zwei Maß getrunken. Wenn ich wie in Köln in 0,2-Gläsern zehn Kölsch trinke, hört sich das schon ganz anders an. Wir brauchen hier einfach neue Werte, wir brauchen neue Richtlinien, wir müssen gemeinsam miteinander diskutieren, um in Zukunft unsere Kinder zu schützen.

Timm: Das verlegt natürlich solche radikalen Forderungen, wie Sie sie haben, generelles Alkoholverbot in der Öffentlichkeit, das verlegt natürlich auch ein Problem, das derzeit sichtbar ist, von außen nach innen, denn wer wirklich im U-Bahnhof Ärger kriegt mit Saufen, der macht das eben zu Hause. Also ich meine, letztlich ist es dann auch wieder eine Form von Weggucken.

Büscher: Ja, das ist schon richtig. Wir appellieren in erster Linie an Erwachsene, zu Hause nicht Riesenvorräte an alkoholischen Getränken zu haben. Wenn die Kinder mit alkoholischen Vorräten groß werden, wenn in der heimatlichen Vitrine oder im Schrank Wodkaflaschen, Schnapsflaschen, Weinbrandflaschen, unzählige Weinflaschen stehen, dann denken Kinder schon, wenn Mama und Papa das machen, dann kann das ja nicht gerade gefährlich sein. Wie oft ist ein Vater oder hört man einen stolzen Vater, wenn der 14-Jährige sein erstes Bier getrunken hat. Ich glaube, dass Eltern ein Vertrauen aufbauen müssen zu ihren Kindern, dass sie ihre Kinder aufklären müssen, wie gefährlich alkoholische Getränke, wenn man sie sehr früh zu sich nimmt, für den Körper sind. Wir haben in der Tat in den Archen Kinder, die schon mit einer Fettleber in die Klinik eingeliefert worden sind, die organische Schäden haben, aber die Verantwortung der Eltern ist ein ganz wichtiger Aspekt, den wir in dem Buch fordern.

Timm: 0,0 Promille für Jugendliche, das fordert Wolfgang Büscher gemeinsam mit Bernd Siggelkow, ihr Buch "Generation Wodka" ist gerade erschienen. Herr Büscher, ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Büscher: Ja, schönen Dank!


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